Zettelwirtschaft

Zum Haus, in dem ich wohne und arbeite, gehört eine kleine, vor Jahrzehnten eingerichtete Druckerwerkstatt mit zwei Heidelberger Knebelpressen und einem kleinen Vorrat an Bleisatz. Die schweren Maschinen werden kaum noch benutzt, sind meist von einer schmierig schimmernden Öl- und Staubschicht überzogen und müssen vor jedem Gebrauch in Ordnung gebracht werden. Zusammen mit dem Künstlerfreund Rolf Winnewisser, dem manche Druckverfahren vertraut sind, habe ich die Maschinen in meinem Keller eigens wieder funktionstüchtig gemacht, um ein gemeinsames, strikt privates Projekt zum Andenken Stéphane Mallarmés zu realisieren, der für uns beide ein stetiger Impulsgeber ist.
Drei intensive Arbeitstage vor Ort haben wir für einen schlichten Bogendruck eingesetzt, von dem wir insgesamt 33 Abzüge anfertigten. Dies sollte mit geringstem materiellen Aufwand geschehen, da wir lediglich auf die im Regal noch vorhandnen Papiere zurückgreifen wollten und die Text- beziehungsweise Satzmenge auf ein Minimum beschränken mussten.
Was schliesslich vorlag, war – und ist – ein zweifach gefalteter quadratischer Bogen aus mittelschwerem grauem Papier, auf dessen Aussenseite in grossen Lettern die Initialen S. M. zu lesen sind und in dessen Innerm, bestehend aus vier ausgefalteten Quadraten, die Wörter WELCH (oben links), Quell (oben rechts), quel (unten links) sowie ein Holzschnitt Winnewissers (Die Quelle) zu sehen sind.
Der von uns verwendete Einworttext «welch» und dessen mehrfache Übersetzungen gehen auf eine vergessne, dem Dichter Francis Viélé-Griffin zugeschriebne, von Rolland de Renéville rapportierte Anekdote über Mallarmés Zettelwirtschaft zurück, die ich hier in meinem Deutsch anführe:
«Mallarmé hatte eine grosse Anzahl von kleinen Zetteln zusammengetragen, deren Inhalt bei seinen Zeitgenossen höchste 
Neugier hervorrief. Er setzte den Fragen, die man ihm in dieser Sache stellte, absolutes Schweigen entgegen, und er ordnete an, dass die Zettel nach seinem Tode zu verbrennen seien. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass ich zu einer Zeit meines Lebens, da ich mit Mallarmé an der Übersetzung des ‹Ten o’clock› von Whistler arbeitete, eines Tages zu ihm nach Hause kam und ihn in seinem Arbeitszimmer mit einem jener winzigen Zettel in der Hand antraf. Er verharrte für ein paar Augenblicke in Schweigen und murmelte dann, als spräche er zu sich selbst: ‹Ich darf wohl nicht einmal mehr dies für sie schreiben, denn ich gebe ihnen damit noch immer zuviel preis.› Als ich neben ihm stand, las ich auf dem Zettelchen dieses einzige Wort: ‹welch› (quel). Er legte es zu seinen Papieren zurück, und ich hatte keine Gelegenheit, darüber mehr zu erfahren.»
Zu Mallarmés Wort, das ich als einen minimalistischen Text begreife, lieferte ich für unser Blatt je eine bedeutungs- und eine klangkonforme deutsche Version, nämlich «welch» und «Quell» (zu französisch quel). Winnewisser übertrug sodann den daraus gewonnenen Ausrufsatz («welch ein Quell!») mit einem Holzschnitt ins Bildnerische. Verbindend war in diesem Fall nicht nur das geteilte Interesse an Mallarmé, sondern ebenso am Phänomen wie am Wort «Quelle», das zu Winnewissers Leitwörtern gehört («der Maler, der in den weissen Bergen mit schwarzem Quellwasser einen Fluss zu malen beginnt») und das bei mir in mehreren Gedichten wiederkehrt; zum Beispiel in Quillt’s, einem Text aus dem Band Tagesform (2007):

Was immer nicht vom lichten Mädchen
(das wie Echo heisst) verlautet
ist das Unerhörte.

Störte aber doch ein Echtes oder Kaltes
– wie der Hagel – jeden F-­Effekt
und triebe auf der Stirn

des Rufers triviale Blüten. Hütet! vom Klang
(bevor er verhallt) die Farbe
Karmin. Denn

bis der Appell den Namen einholt
ist herrlich was dauert
und stillt.

(Wie übrigens der Quell solang er siegt.)

Das Quell-Blatt ist inzwischen längst verflogen; zweidrei Abzüge dürften sich in unserm Bekanntenkreis erhalten haben, ich selbst verwahre, Mallarmé zu Ehren, ein vom Künstler und vom Übersetzer signiertes Vorzugsexemplar.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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