Flatland

… wird nämlich auch der Umgang mit Hohls Texten im allgemeinen zur Auseinandersetzung mit dem Autor als einer außer- oder überliterarischen Instanz!
Weit häufiger als nach Form und Sinn der »Notizen« wird jedenfalls nach deren Bedeutung gefragt, nach dem, was Hohl »uns zu sagen« habe, wobei selbstredend vorausgesetzt wird, daß das Werk – insbesondere deshalb, weil der Autor darin unter der bis zur Unkenntlichkeit naturgetreuen Maske (s)eines Ich auftritt – als persönliches Dokument zu verstehen sei, für das Hohl in jedem Punkt behaftbar sein müsse. 

Hohls Qualität als Schriftsteller mißt sich fast ausschließlich an Kriterien wie Authentizität, Glaubwürdigkeit, Verbindlichkeit, und sein Text wird nicht als eigendynamisches, nicht als eigengesetzlich funktionierendes literarisches Gebilde wahrgenommen, sondern nach dem abgefragt, was hinter ihm steht und was er also vermeintlich verbirgt: Hohls Lebensfakten und Gesinnungsdaten. 

Fast hat man den Eindruck, daß literarische Diskurse überhaupt nur noch in Funktion zu einem Autor – die »Notizen« nur noch in Funktion zu Hohl – rezipiert werden können. Künstlerische Anonymität ist der Kritik (den »Meyers«) wie auch dem Publikum ( den »Schweizers«) unerträglich geworden, da man sich daran gewöhnt hat, beim Lesen »in die Tiefe« zu gehen, das heißt – hier- nach Bedeutungen zu suchen, die auf Hohl zurückverweisen; statt daß man im Umgang mit seinen Texten sich auf eine kreative Lektüre einläßt, die – horizontal verlaufend – an der Sprachoberfläche (an der Wort-, nicht der Darstellungsebene) orientiert bleibt und ihrerseits Bedeutungen hervorbringt, die über Hohls Intentionen hinausgehen oder diesen gar zuwiderlaufen. 

(»Den Wert der Dichtung« – Hohl bedient sich hoffnungsvoll der Worte eines bekannten Verfassers der sich seinerseits der Worte eines unbekannten Verfassers bedient – »den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn, sondern die Form, das heißt durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen sich von den Nachfahren unterschieden haben. Der Wert einer Dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen, wenn auch noch so glücklichen Fund in Zeile, Strophe oder größerem Abschnitt. Die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, die notwendige Folge des einen aus dem andern – das ist’s, was …«) 

Denn wozu sollten wir noch lesen, wenn Romane, Dramen, Gedichte nichts anderes enthielten (oder eben bedeuteten) als das, was ein Autor über Gott, die Welt und sich selber darin ausgesagt hat? Wenn Lektüre also – auch bei Hohl – immer bloß Nachvollzug, Rekonstruktion von Widerspiegelungen wäre? 

Daß der Text nicht ein Produkt des Autors, sondern – umgekehrt – der Autor ein Produkt des Textes ist, hat vor hundert Jahren auf exemplarische Weise der englische Philologe und Philosoph Edwin A. Abbott dargetan, indem er in Ich-Form einen »mehrdimensionalen Roman« (»Flatland«, 1884) schrieb, dessen Erzähler als Quadrat konzipiert ist und dessen Handlung sich aus einer Vielzahl von geometrischen Operationen ergibt, die dem quadratischen Ich das Überwechseln in die dritte, vierte, fünfte Dimension ermöglichen sollen – ein höchst dramatischer, letztlich tragischer Vorgang, der aber einzig im Text, und nicht im Leben des Autors stattfinden kann. 

(»… das Ende ließ nicht lange auf sich warten. Mir wurden die Worte abgeschnitten: durch ein lautes Krachen außer mir und ein gleichzeitiges Krachen in mir, das mich mit einer Geschwindigkeit durch den Raum stürzen ließ, die mir das Sprechen unmöglich machte. Hinab! Hinab! Hinab! Ich sank rasch hinunter und wußte, daß es mein Verhängnis war, nach Flächenland zurückkehren zu müssen. Einen Augenblick lang sah ich die stumpfe, platte Öde unter mir vor meinem Blick ausgebreitet, die nun wieder mein Universum werden sollte. Dann Dunkelheit. Dann ein letzter, alles besiegelnder Donnerschlag, und als ich wieder zu mir kam, war ich wieder ein gewöhnliches dahinkriechendes Quadrat, daheim in meinem Arbeitszimmer, und hörte den Friedensruf meiner sich nähernden Frau …«) 

Abbotts Verfahren macht deutlich, daß es sich bei dem, der schreibt, nicht einfach um ein reales, eindeutig als Autor bestimmbares Individuum handelt, sondern um eine komplexe Instanz, die gleichzeitig mehreren Ichs unter verschiedenen Subjekt-Perspektiven Raum und Stimme geben kann. Denn es wäre gleichermaßen verfehlt, wollte man den Autor beim wirklichen Schriftsteller (Abbott) oder aber beim fiktionalen Sprecher (dem Quadrat) suchen, und ebenso verfehlt wäre es, Hohl mit seiner literarischen Hohlform (dem Ich, das den Autor der »Notizen« darstellt und bedeutet, nicht aber real vergegenwärtigt) zu identifizieren. Jene Hohlform nämlich ergibt sich, wie Michel Foucault in einem Vortrag einst angemerkt hat, stets als Folge eines Bruchs, einer Trennung, einer Distanznahme. Die Funktion »Hohl« ist also wohl nur eine der möglichen Spezifizierungen der Funktion »Notizen«. So daß beim Lesen nicht mehr nach der Person Hohls und nicht mehr nach dessen Erfahrungen oder Überzeugungen zu fragen wäre, sondern nach den Existenzbedingungen des Textes selbst: »Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann ihn sich aneignen? Wie sind die Stellen für mögliche Stoffe verteilt?« 

(Doch seien Sie unbesorgt: Hohl wird Ihnen das Leben wieder geben. Er weiß, was das Leben mit dem Werk zu schaffen hat. Er liebt das Leben, ja er liebt nichts als das Leben. Aber er mag es nicht, daß man – zum Beispiel – in gemalte Portraits Goldzähne und auf die ehernen Bänke eines Parks gemeißelte Putten montiert, als wären es echte Leichen oder künftige Passanten. Hohl meint, Sie sollten sich abgewöhnen zu verlangen oder auch nur zu erwarten daß man mit roter Tinte schreibt, um glauben zu machen, man schreibe mit seinem – des Autors – Herzblut …) 

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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