Jack the Ripper als Doctor Stanley als Herr Haupt

»Sie wissen, wertes Sie, daß ich ein Geist der
dunkelsten Art bin. Sie wissen es aus
Erfahrung…
« (Paul Valéry)

Ja, ich kann mir durchaus denken, daß der, den man »Jack the Ripper« nannte, weil er unter diesem eher trivialen, aber sehr rasch populär gewordenen Pseudonym in den späten achtziger Jahren zahlreiche Gedichte und offene Briefe erscheinen ließ, mit jenem »Doctor Stanley« identisch ist, von dem die neuere Forschung, trotz fortbestehenden Beweislücken, nunmehr übereinstimmend anzunehmen scheint, er sei niemand anderer und also kein Geringerer gewesen als der Leibarzt Ihrer Majestät der Königin Viktoria und habe, um seinen an Syphilis erkrankten Lieblingssohn zu rächen, kurz vor Weihnachten 1888, nach einer längeren Versuchsreihe im Londoner Milieu, die zwanzigjährige Prostituierte Mary Kelly, genannt »Miss K.«, auf ihrem Zimmer ermordet, ausgeweidet und zerstückelt – nicht ohne deren Kleidung, wie Franklin rapportiert, sorgsam zu falten und sie, wohl zur Wiederherstellung der verlorenen Harmonie, am Fußende des Bettes mit symmetrisch ausgebreiteten Ärmeln niederzulegen.

Doch nicht genug damit, daß der Mörder ein »ingeniöser Chirurg« und »diabolischer Ästhet« gewesen sein soll; vor kurzem hat ein literarisch versierter Publizist den gewiß erstmaligen Versuch unternommen, Jack Stanley als Verbrecher zu entlasten und ihn, unter Hinweis auf den in seinen Gelegenheitsversen mehrfach vorkommenden – fast perfekten – Reim killer:pillar, als »Stütze einer Gesellschaft« herauszustellen, welche in ihrem verlogenen Puritanismus die Sexualität verketzert und gleichzeitig, stillschweigend, die Prostitution geduldet, ja gefördert habe, indem sie durch »soziale Diskriminierung« und »organisierte Arbeitslosigkeit« allein in London, unter andern, achtzigtausend Frauen auf die Straße trieb. Und nichts, meint jener Publizist, könne uns das viktorianische Paradies näherbringen als die Antwort eines der Mädchen aus dem East End, als man ihr vom Strichgang abriet, um sie vor dem Ripper zu warnen: »Pah, soll der doch kommen! Je früher desto besser für eine wie mich…«

Nur vermag dieses eindrückliche – weil für den Anwalt riskante – Plädoyer zur Rechtfertigung des Täters als »Autor« in keiner Weise zu verdeutlichen und schon gar nicht zu erklären, worin letztlich die Originalität von Stanleys Leistung, die Unverwechselbarkeit seiner Handschrift besteht.

Im Gegensatz zu Cortázar bin ich der Meinung, es gehe nicht an, die Ripperschen Verbrechen am »heuchlerischen Völkermord« zu messen, »der in vielen Teilen der Welt noch bei weitem nicht aufgehört hat«, um sie sodann, aufgrund dieses logisch unhaltbaren Vergleichs, als »Werke der Wohltätigkeit« auszugeben. Denn weder qualitativ noch quantitativ, weder künstlerisch noch technisch haben Stanleys Prostituiertenmorde mit Völkermord auch nur das geringste zu tun; auch läßt sich Völkermord, in seiner heutigen Ausprägung, historisch gewiß nicht auf die umsichtig geplanten und stets in demselben – unverkennbar persönlichen – Stil ausgeführten Verbrechen des Rippers zurückführen. Und überhaupt geht es ja nun hier um etwas ganz anderes; nicht um das Verbrechen als solches, nicht um den Verbrecher an sich. Sondern um den Täter als »Autor«, um die Tat als »Werk«; um den »Mord, als eine der Schönen Künste betrachtet«.

Und von daher ließe sich möglicherweise auch für ein besseres Verständnis des Rippers die rechte Perspektive finden; eine Perspektive, die den »Doctor Stanley« nicht in der Vergangenheits-, vielmehr in der Zukunftsform – nämlich in der Optik eines Baudelaire, eines Poe oder Dostojewskij – zur Erscheinung brächte. Erst dann würde wohl erkennbar, wer und was sich hinter jenem geheimnisvollen Namen verbirgt, den wir, um nicht uns selber ins Auge sehen zu müssen, einem unmenschlichen, am Ende also harmlosen Schreckgespenst zugeschrieben haben. Wohl erst dann vermöchten wir uns vorzustellen, daß Jack Stanley, der seine Opfer mit dem Skalpell zu zerlegen und die Gedärme über einem Spiegel aufzuhängen pflegte, dereinst unser Ahne werden könnte – der schlechterdings moderne Mensch, der das »Leben« ausweidet, um sein »Werk« zu schaffen und darin zu überdauern; der Führer, der die Sanften zum Brüllen, die Störrischen zum Schnauben, die Mageren zum Miauen, die Fetten zum Blöken bringt; der Künstler, der die Zeitform des Unzusammenhängenden, die Kraft der Paradoxe, die Schönheit und Widerstandsfähigkeit der verbrauchten Dinge hochhält, damit sich Mode und Ewigkeit im Clinch umklammern können; der Autor, der Pseudonyme prägt und Ismen einführt, um aus den Kulissen der »Wirklichkeit« dem Schauspiel jener ungeheuerlichen Taten beizuwohnen, die man heute noch als verbrecherisch ahndet, um sie vielleicht morgen schon als intellektuell zu feiern.

Nach seiner Freilassung, irgendwann im frühen zwanzigsten Jahrhundert, wird der Ripper ein weiteres Mal seinen Namen wechseln und als »Herr Haupt« ein neues Leben beginnen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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