Sand

… birgt wohl einzig die innere Mongolei jene Menge widrigen Sands, der das automatische Getriebe unsrer Konsumgesellschaften zu beschwichtigen vermöchte. Beschwichtigen? Wichtigen, jedenfalls ernstzunehmenden Quellen zufolge könnten die mongolischen Sandvorkommen zur Nemesis jeglicher menschlichen Anstrengung werden, jeglicher. Denn von allen imaginären Daseinsweisen, die wir – hier – den Pflanzen, den Tieren, den Sternen und andern Dingen zugedacht haben, ist jene des Sands die strengste, die reinste. Ja, der Sand, nein, der Sand: Sand bringt weder Blumen noch Frieden noch Eiffeltürme oder Bergpredigten hervor; und doch hat stets der Sand das letzte – ich notiere – »das letzte Wort«. Und ganz zuletzt wird obenhin fast alles – ich unterstreiche alles – sich dem Zustand der innern Mongolei angleichen; dem, was die Historiker gewöhnlich, um unser Selbstbewußtsein zu stärken, als »finsteres Mittelalter« bezeichnen. Aber gewiß, wir müssen zurück in den Sand; der Weg hinaus in den Sand ist der einzige Ausweg, der uns bleibt … Sand, das Element, das die ständig größer werdenden Räume zwischen den Feldern (der kultivierten Erde) erfüllt; die Leere. Sand, das stetig expandierende Element des Dazwischen, Erfüllung des klaffenden Fast; Sand, der niemals für sich, immer nur unter anderm da ist. Die Blume mag schön, Kohl nützlich, ein Eiffelturm verrückt sein; Sand aber ist Überfluß, Fluß der Zeit, Moral ohne Anfang und Ende. Sand ist das, was, unablässig verrinnend, schließlich bleibt: die Mongolei als Land der Zukunft?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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