Thomkins

Die triviale Gewohnheitsnorm, wonach das Buch – um als solches wahr – und ernstgenommen zu werden – einen von vorn nach hinten (oder von hinten nach vorn) linear-progressiv durchlaufenden Text enthalten, ja mit diesem identisch sein müsse und bildliche Darstellungen einzig in der Funktion von Illustrationen, Illuminationen und allenfalls von text-externem Dekor – etwa für die Umschlagsgestaltung – zulässig seien, wird von heutigen Buchmachern mit zunehmender Häufigkeit und Konsequenz durchbrochen. Je lauter das Ende der Schriftkultur und der Tod der Literatur verkündet werden, desto mehr scheint das Buch, als deren materieller Träger, sich zu verselbständigen, sich zu verdinglichen. Die gegenwärtige Konjunktur von Künstlerbüchern und Buchobjekten bestätigt diese Entwicklung. Und wenn nun der Bild-, Objekt- und Wortkünstler André Thomkins ein Druckwerk vorlegt, 1 welches kein einziges gedrucktes Wort (auch kein Titelblatt, kein Inhaltsverzeichnis, nicht einmal Seitenzahlen), sondern ausschließlich Farbtafeln enthält, denen weder Titel noch Nummern beigegeben sind; und wenn er für dieselbe Publikation statt einer Umschlaggraphik einen Umschlagtext (von Michel Foucault) verwendet – so wird dadurch eine ganz neue Art des Umgangs mit dem Buch nahegelegt und ein neuer, ein augensinniger Leser auf den Plan gerufen. Indem Thomkins einen Text und dessen unsichtbares Kraftfeld als Raster vorgibt-das programmatische Foucault-Zitat macht auf die Sinnhaftigkeit (die »Tiefe«) von Oberflächeneffekten (»schimmernde Epidermen, Idole des Blicks«) aufmerksam –, spurt er auch gleich die »epikuräische«, weil »epidermale« Lektüre seiner Bilder ein, bei welchen es sich tatsächlich um Häutungsprodukte handelt, um grell-bunte Lackschichten, die sich, auf einer Wasseroberfläche fluktuierend, unter subtiler Regie des Künstlers zu annähernd menschenähnlichen Gesichtern – oder Masken – zusammenfügen, wonach sie in einem raschen Akt der Abstraktion (des Abziehens von der Oberfläche) spiegelverkehrt aufs Papier übertragen werden: »Phantasmen der Furcht und des Begehrens (Wolkengötter am Himmel, Schönheit des angebeteten Antlitzes, vom Winde verwehte Hoffnungen…).« Was Thomkins auf solche Weise einfängt, sind Phantasmagorien des Alltags, Formen des Wahnsinns, Schreckbilder des Gewöhnlichen. Denn was eilt – kommt Zeit! kommt Tat! – verlangt ein Ab-Bild jener zuckenden Grimasse.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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