Zug- und Stockwerklesung

(»Durch das Reisen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig«, notierte 1843 Heinrich Haupt: »Hätten wir nur Lesestoff genug, um auch letztere anständig umzubringen…«)

gibt es nun freilich verschiedene Arten des Lesens, wie es verschiedene Arten des Reisens gibt.

Und obwohl ich linearen Lektüren, linearen Fahrten und Flügen das nomadisierende Lesen und Reisen vorziehe (jene tastende, suchende, aus- und abschweifende Fortbewegung, die der Blick – oder ein kleiner Finger – auf geographischen Karten zu beschreiben pflegt), nahm ich am 4. März dieses Jahres, um 13 Uhr 08, in Zürich HB den Schnellzug nach München, wo ich noch am selben Abend Michael Krüger treffen sollte, mit dem ich kurzfristig ein Übersetzungsprojekt zu besprechen hatte.

Den Zug erreichte ich, wie zuvor schon die Straßenbahn, fast zu spät; kaum war ich eingestiegen (und noch hatte ich die Waggontür nicht hinter mir zugezogen), setzte er sich mit auffallend rasch zunehmender Geschwindigkeit in Bewegung, so daß bereits in der weitausholenden Schleife unmittelbar nach der Bahnhofausfahrt Richtung Oerlikon – ich stand nun im Korridor des Waggons und suchte in allen Taschen nach meiner Platzkarte – das Verschwinden, zumindest jedenfalls die Verminderung der Realität meiner dortigen körperlichen Anwesenheit und damit auch die Auflösung des Orts zugunsten der Abwesenheit des Reisenden – zugunsten des Un-Orts der Fahrt – fühlbar wurden:

Noch bevor ich (»der Reisende«) das Buch aufschlug, war der Reisende (»ich«) zum Leser geworden.

Er und ich – »wir« waren also unterwegs; das Anderswo hatte unversehens begonnen; »er« war mein, »ich« war sein Unbekanntes geworden:

Fahrend waren wir, als ein Neutrum, simultan im Werden. Etwas …

Als ich die Schiebetür zu meinem Abteil öffnete, schlug mir – draußen lag noch immer Schnee – jähe Helle entgegen, und Sekunden später, als das grelle Licht durch ein nahe dem Bahndamm gelegenes Waldstück etwas gemildert wurde, bemerkte ich, daß an dem einen Fensterplatz, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, ein Mann von unbestimmbarem Alter saß, der sich »gedankenverloren« (oder »nachdenklich«) über seine locker auf die Knie gelegten Hände beugte und in kurzer Folge wortlos den Kopf schüttelte.

Im Abteil war er der einzige Mitreisende, doch daß ich jetzt, knapp grüßend, ihm gegenüber Platz nahm, schien er überhaupt nicht zu bemerken; jedenfalls zeigte er keinerlei Regung, die darauf hätte schließen lassen. Ich unternahm deshalb auch gar nicht erst den Versuch, ein Gespräch anzufangen, sondern angelte, noch während ich den Mantel ablegte, meine Reiselektüre aus dessen linker Innentasche.

Ich hatte, einem eher zufälligen Impuls folgend, Manganellis »Irrläufe« eingesteckt, einen schmalen Band, den ich mir kurz zuvor besorgt hatte und von dem ich aufgrund früherer Leseerfahrungen mit dem Autor annehmen konnte, daß er sich dafür eigne, im Zug – in einem Zug – gelesen zu werden…1

Hundert Romane in Pillenform verspricht Manganelli seinem nicht sehr zahlreich erschienenen Publikum, und in der Tat liefert er einhundert, von eins bis hundert – in Worten! – durchnumerierte Abenteuerromane, die strukturell und funktional, im einzelnen wie im ganzen, einer Hunderterpackung pharmazeutischer Kapseln nachgebildet (oder nachempfunden) sind, woraus sich erklärt –

daß alle Texte, bisweilen auf die Zeile genau, dieselbe räumliche Ausdehnung haben;
daß sie durchweg dieselben narrativen Spurenelemente, dieselbe stilistische Komposition (»Zusammensetzung«) aufweisen;
daß sie in beliebiger Reihenfolge rezipiert (»eingenommen«) werden können;
daß ihre Wirkung – ihr Sinn – zunächst virtuell bleibt, sich in der Regel mit einiger Verzögerung entfaltet und, je nach der Disposition (»Gestimmtheit«) des Empfängers, unterschiedliche Intensitäten haben kann.

Die Tatsache, daß ich die »Irrläufe« während einer Bahnfahrt, zu einer Un-Zeit also, las (wobei der dumpfe Rhythmus der Schienenstöße und die oftmals wechselnden Tempi der Fahrt sich wie von selbst auf die Lektüre übertrugen), mag für mein Textverständnis bestimmend gewesen sein.

Denn schon bald gewann ich den Eindruck, daß Manganellis Protagonisten – zumeist jüngere Männer oder ältere Herren in unauffälliger Kleidung, gelegentlich auch Frauen und Damen (»sie« oder »die da!«), vereinzelt gar ein Kaiser, ein Kapitän, ein Himmelskörper, eine Hallunzination, ein Selbst, ein Schrei – allesamt dazwischen sind und folglich auf der Strecke bleiben. Zwar sind sie in manchen, wenn auch keineswegs den glücklicheren Fällen »fast« noch da oder »fast« schon dort, letztlich aber wohnen sie nirgends, im Nirgends, unterwegs. Ihre Grundbefindlichkeit ist die der leidenschaftlichen Erwartung, des Wartens auf den ohnehin unabwendbaren, insgeheim wohl ersehnten Abschied, auf eine zeitlich und räumlich ungewisse Zukunft, vielleicht auch nur auf eine plötzliche Wendung zum noch Schlimmeren, zum Schlimmsten.

Fast ist zum Beispiel jener Herr im Leinenanzug noch daheim, noch allein: »In zwei Minuten – jetzt sind es noch neunzig Sekunden – muß er anfangen.«

Was? Wo?

»Eigentlich braucht er absolut nichts anzufangen. Nichts. In gewisser Hinsicht muß er absolut alles anfangen. Alles … Er muß einfach von acht Uhr nach neun Uhr gelangen …«

Doch dem Herrn gelingt es nicht, seine Stunde zu erwarten, sie als reine Zeit zu erfahren und hinter sich zu bringen; schon in der achtundzwanzigsten Minute (»fast genau« in der Mitte zwischen Anfang und Ende der vollen Stunde) trifft ihn der Schlag und holt ihn der Raum ein:

»… er gleitet vom Stuhl und fällt mit einem absolut geräuschlosen Aufschlag zu Boden, zerbröselt …«

Andere Herren wiederum trifft es (trifft jenes Es) unterwegs zwischen der einen und der andern Straßenseite, zwischen der einen und der andern Dame, zwischen zwei Lebensaltern, zwei Tageszeiten, zwei Träumen, zwei Buchdeckeln; es (oder eben Es) trifft sie also immer dort, wo sie gerade nicht sind, und das heißt: in jener fluktuierenden Zone der Abwesenheit zwischen den Orten und Namen.

(»Die Abwesenheit hat natürlich nichts mit der Leere zu tun. Ein gänzlich leeres Zimmer kann durchaus ohne Abwesenheit sein; auch wenn man ein Möbelstück eilig wegrückt, schafft man keine richtiggehende Abwesenheit; man schafft Nichts.«)

Verzweiflung und Verliebtheit sind die emotionalen Äquivalente zu solchem Dazwischen-Sein; und diesem entspricht – auf rhetorischem und syntaktischem Plan – die ambivalente Figuration des Weder-Noch, des Zwar-Aber, des Nicht-nur-Sondern-auch, des Ich-weiß-nicht-was, des Fast-nichts und Fast-alles.

In verstohlener Erinnerung an jenen Herren, der mir, nachdem die Schweizer Grenze bei St. Margrethen passiert war, unversehens in Fahrtrichtung gegenübersaß, während ich nun rückwärts fortbewegt wurde und in meinem von der sprunghaften Lektüre chaotisch erleuchteten Verstand »Erbsünde, Klassenkampf und Tibet« aneinandergerieten, gewinnt die Große Ambivalenz etwa diese (männliche) Gestalt:

»Er liebt es, zu warten. Selbst äußerst pünktlich, haßt er die Pünktlichen, die ihn mit ihrer manischen Genauigkeit um den unglaublichen Genuß jenes leeren Zeitraums bringen, in dem nichts Menschliches, nichts Vorhersehbares, nichts Aktuelles geschieht, und in dem alles den beglückenden und rätselhaften Duft der Zukunft atmet. Wenn das Stelldichein an einer Straßenecke ist, dann gaukelt er sich mit Vorliebe ein ganzes Märchen möglicher Mißverständnisse vor:

er geht von einer Straßenecke zur anderen, kehrt wieder zurück, blickt sich forschend um, überquert die Straße; das Warten gestaltet sich rastlos, kindlich, abenteuerlich.«

Es versteht sich, daß die zeiträumliche Unentschiedenheit des Kaum-noch-da-und-Fast-schon-dort-Seins nicht zuletzt die Beschaffenheit der psychophysischen Realien (die Eigenschaften und damit auch die Eigenschaftswörter) in Frage stellt, verfremdet, ja sogar zerrütten kann.

So wird denn ein Rock niemals »wirklich« zerknittert, sondern immer nur leicht zerknittert sein; ein Akzent nicht »wirklich«, sondern leicht fremdländisch; eine Dame nicht »wirklich«, sondern leicht autoritär; und so fort.

Der Widerspruch wird bei meinem Autor zur Affirmation, zum schieren Paradox, das die durch technische Bilder verstellte und verdrängte Welt stets von neuem (wenn auch bloß für die Zeit eines Blitzschlags) als Wirklichkeit erkennbar macht.

Ja, ein Haß kann »pedantisch« und »überwältigend« sein, eine Stadt- »stolz« und »feig«, eine Flucht – »lautlos« und »akkurat«, ein Lilientier- »lind« und »wild«, eine Erwartung- »verliebt« und »gänzlich enttäuscht«.

Mehr und mehr – je häufiger ich, bei nachlassender Konzentrationsfähigkeit, den Blick vom Buch hob, um ihn bald auf meinem noch immer wortlosen, völlig in sich versunkenen, vielleicht schon längst entschlafenen Gegenüber, bald in der flachen, erstaunlich träge dahinziehenden Landschaft ruhen zu lassen – verhängten und vermengten sich mit Manganellis Traumszenerien (oder Trauminszenierungen) meine eigenen, durch die »Irrläufe« reaktivierten Erlebnisse des Wie-gehabt und Längst-gelesen: Die unhaltbar verliebten, ebenso »robusten« wie »keuschen« Frauen und die melancholischen, von Skrupeln geplagten, meist alleinstehenden, mit Vorbedacht schwarz (oder dunkelgrau) gekleideten Männer waren von ihren bei Delvaux und Magritte vorgebildeten Partnern plötzlich nicht mehr zu unterscheiden; aus einem Skizzenbuch von Markus Raetz schien jener ängstliche Herr zu stammen, der statt eines Hunds einen wandernden Trichter – sein Grab – bei Fuß zu halten pflegte; unter Manganellis Ritter und Drachen, Könige und Prinzessinnen mischten sich in forscher Promiskuität die »Prinzessinnen« und »Könige«, die »Drachen« und »Ritter« aus der Scuola di S. Giorgio degli Schiavoni; illusionistische Skizzen, antikisch oder postmodern instrumentiert, gingen für Augenblicke bruchlos über in literarische Szenarien von Kafirn und Borges, von … und …

Lesers Irrläufe!

Die irrlaufende Lektüre hat der Autor eingeplant; sie ist Voraussetzung für ein Verstehen, dem es nicht mehr auf bloße Bedeutungen, vielmehr auf den Sinn ankommt; auf Sinngewinn.

(»Die Sinnabwesenheit ist kohärent und vorhersehbar, das Sinnvolle dagegen rätselhaft und abweisend. Wo man nichts versteht, ist man nahe dem Zentrum; wo man etwas versteht, ist man an der äußersten Peripherie, ist man fast schon draußen.«)

Um dem Leser einen in solchem Verständnis sinnvollen Umgang mit dem Text zu ermöglichen, beschränkt sich der Autor darauf, potentielle Romane vorzulegen, die nicht durch eine irgendwie vorgefaßte, im »Gehaltlichen« sich erschöpfende »Aussage« untereinander verbunden sind, sondern einzig durch die Körperlichkeit des Buchs.

Als in Kempten (Ankunft 16 Uhr 40, Abfahrt 16 Uhr 42) zwei gesprächige Damen zustiegen und sich in unserm Abteil häuslich einrichteten, indem sie, simultan quatschend und schmatzend, gleich mit dem Verzehr eines üppig garnierten Hechts begannen, hob der Mitreisende erstmals das Gesicht, sah sich, mit zusammengezogenen Brauen, verwundert um, schien aber außer den Geräuschen und Gerüchen bestenfalls Hell und Dunkel wahrzunehmen, kramte auch schon umständlich in der linken Hosentasche, zog eine modische, ziemlich schwere Brille hervor, die er, den Kopf nach hinten auf die Rücklehne gestützt, langsam mit beiden Händen aufsetzte, während er, leise seufzend, ein Bein übers andere schob und die Augen, als wollte er die tranige Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit nun endlich verwischen, mehrmals heftig zukniff, wobei er – so stellte ich mir vor – sich vorstellte, er wäre »eine Wunde, ein Furunkel, eine Mißbildung des Parks, der Stadt, der Welt – oder möglicherweise eine einsame und gänzlich unübersetzbare Hieroglyphe…«

Ohne sich umzuwenden, zog mein Gegenüber aus der einen Tasche des hinter ihm in der Sitzecke hängenden Mantels ein schmales, mit buntem Umschlag versehenes Buch, schlug es irgendwo in der Mitte auf, las aber offensichtlich nur ein paar wenige Sätze, bevor er es, bald in dieser, bald in jener Richtung, flüchtig durchzublättern begann.

Jetzt lächelte er sogar; kalt, aber innig.

Und als er den Band – er hielt ihn, geöffnet, in der rechten Hand – für einen kurzen Moment näher zu seinem Gesicht hob, konnte ich auf dem Umschlag die folgenden Buchstabenverbindungen erkennen (ohne sie indes entziffern zu können):

………………. anelli
………….. TURIA ..
…………. zi fiume
…………. Oli……….

»Wenn ich mir einen Hinweis erlauben darf«, sagte mit leicht fremdländischem Akzent der Unbekannte, als er bemerkte, daß ich ihn beobachtete, und wies dabei auf mein Buch, welches ich, Frontseite nach oben, neben mich auf die Sitzbank gelegt hatte, »so möchte ich lediglich sagen, daß die beste, aber auch kostspieligste Art, dieses Büchlein zu lesen, folgende wäre:

Man erwerbe das Nutzungsrecht an einem Wolkenkratzer, der genausoviel Stockwerke zählt wie der zu lesende Text Zeilen; auf jedem Stockwerk bringt man einen Leser unter, der ein Buch in der Hand hält; jedem Leser gebe man eine Zeile; nun beginnt der oberste Leser, von der Spitze des Gebäudes hinunterzustürzen, und während er nacheinander an den verschiedenen Fenstern vorbeifällt, liest der Leser des betreffenden Stockwerks mit lauter und klarer Stimme die ihm anvertraute Zeile.«

Erst als der Zug, während längerer Zeit unmerklich abbremsend, in München einfuhr und die beiden deutschen Damen wie auch der unbekannte Herr sich rote Kugelnasen aufsteckten, wurde mir, nach einem Kontrollblick in den Faltkalender, klar, daß – heute – Aschermittwoch war; daß ich aber – eben erst – mehrere Stunden mit Giorgio Manganelli zwischen Zürich und München – also nirgends – verbracht hatte, konnte ich mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, nachdem ich mir am Bahnhofskiosk die Süddeutsche Zeitung gekauft und im kulturellen Veranstaltungsprogramm für jenen Mittwochabend eine zweizeilige Notiz gefunden hatte, laut welcher um 20 Uhr 30 in der Autorenbuchhandlung eine

LESUNG
mit dem italienischen Schriftsteller
Giorgio Manganelli (Irrläufe)

stattfinden würde.

Da ich, wie gesagt, verabredet war, konnte ich meine dringliche Vermutung nicht vor Ort verifizieren.

(Anderntags las ich, auf der Rückreise nach Zürich, Roths »Ghost Writer«, den mir Krüger als fast nächtliche Anregung mitgegeben hatte.

»Gestern abend?«

Dann weiß er also alles, was ich weiß? Aber was weiß ich denn anderes als das, was ich mir ausmalen kann?

»Ich bin gespannt, wie wir alle eines Tages dabei herauskommen. Könnte eine interessante Story werden. Sie sind in Ihren Sachen nicht so heikel und höflich«, sagte er. »Sie sind ein anderer Mensch.«

»Bin ich das?«

 

(»… nein, im Prozeß des Lesens brauchst du nicht auch noch die Illusion zu suchen! Aristoteles las leidenschaftslos. Die besten antiken Schriftsteller waren Geographen. Wer nicht kühn genug war zu reisen – der wagte auch nicht zu schreiben…«, meinte R., und er war darin mit M. völlig einig.)

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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