Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( II ) – Notizen, Exzerpte und Exempel (7)

Übersetzen; ersetzen. – Hegels Abhandlung zum Verhältnis zwischen Herr und Knecht habe ich in „Haupts Werk Das Leben“ vom Deutschen ins Deutsche zu übertragen versucht, indem ich den Begriff „Herr“ jeweils durch den Begriff Autor, den Begriff „Knecht“ jeweils durch den Begriff Leser ersetzte. Übersetzung mithin als Umsetzung, als Versetzung.
Entstanden ist daraus ein staunenswerter (wessen?) Text zur Funktionsbestimmung der literarischen Lektüre als eines „einseitigen und ungleichen Anerkennens“; denn „was der Leser tut, ist eigentlich Tun des Autors“. – „Aber wie die Autorschaft zeigte, dass das Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Leserschaft vermehrt vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteil dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewusstsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren.“ – Lektüre also auch ein Emanzipationsprozess gegenüber der Autorität des Texts; nicht anders als der Akt des Übersetzens in bezug auf das fremdsprachige Original.

Innersprachliches Übersetzen als poetisches Verfahren. – Im „Buch der Sprüche“ habe ich an die hundert Trend- und Modewörter, auch wissenschaftliche, technische und politische Jargonismen anagrammatisch zu je einem zweizeiligen gereimten Text gebunden; die Texte setzen sich also im wesentlichen aus dem permutativ abgewandelten und erweiterten Lautbestand des jeweiligen Grundbegriffs zusammen, will sagen, sie übersetzen sich gewissermaßen in sich selbst und aus sich selbst; etwa so: „Tierversuche – Furche ziehen! Furchen zieren | Hirn und Fersen; Menschenlos – auf allen vieren.“

Das hier angewandte innersprachliche und intertextuelle Übersetzungsverfahren kam wohl erstmals, recht locker gehandhabt, in meinem Gedichtbuch „Unzeit“ zur Anwendung; aus diesem Band führe ich nachfolgend beispielshalber das Sonett „Schau“ an, eine vage, ich möchte sagen: eine vagantische Nachschrift von Rainer Maria Rilkes Sonett an Orpheus „Sieh den Himmel …“ (I /11), das sich in meiner phonetischen Übertragung – genauer vielleicht: Überschreibung – vom Deutschen ins Deutsche zugleich als ein eigener und als ein anderer Text präsentiert; und zwar so:

Schau (Unzeit, XLVII)

Schau: ein Himmel! Heißt das Weichbild Zweiter?
Auch mir scheint schließlich: denn sie trägt
wie „merde!“ den Stolz aus Erde, noch ein Reiter,
der sie treibt, hat sich von hinten eingeprägt. 

Ist nicht so, gejagt und doch verständigt,
die weitgehend unbedachte Eins?
Weg! Gewendet! Und ein Druck schon bändigt
diese Weite und das Schwarz des Weins.
Aber sieht sie’s? Oder weiß die Heide
nicht den Wind, der sie besteigt? Ein Nun,
als namenloser Wink, entzweit sie beide,
wo die Stirnersche Verbindung trügt:
ob wir uns nächtens fragen, was zu „tun“
sei oder „schön“ bedeute, es genügt.

Und hier, zum Vergleich, die Vorlage Rilkes:

Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbild Reiter?
Denn dies ist uns seltsam eingeprägt:
dieser Stolz aus Erde. Und ein Zweiter,
der ihn treibt und hält und den er trägt.

Ist nicht so, gejagt und dann gebändigt,
diese sehnige Natur des Seins?
Weg und Wendung. Doch ein Druck verständigt.
Neue Weite. Und die zwei sind eins.

Aber sind sie’s? Oder meinen beide
nicht den Weg, den sie zusammen tun?
Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide.

Auch die sternische Verbindung trügt.
Doch uns freue eine Weile nun der Figur
Zu glauben. Das genügt.

Noch eine Aufgabe, zumindest ein Interesse, auch eine Chance, die ich als Übersetzer habe – die Übersetzung durchzusetzen als eine Auseinandersetzung mit anderen Schreibpraktiken, und dies im Medium der eigenen Schrift, deren Dynamik gerade durch den Vereinnahmungswiderstand des Fremdtexts immer wieder neue poetische Impulse gewinnt.

Womöglich setzt das Übersetzen ein gewisses Maß, einen bestimmten Grad an Idiotie voraus, jene Unbekümmertheit und Ungeschicklichkeit, vielleicht auch jene Dreistigkeit, die den meisten professionellen Übersetzern abgeht.
Der wahre Übersetzer ist der wahre Amateur, Liebhaber des Dazwischen, eines Sehnsuchtsorts, der zugleich ans jenseits der Sprache und ans Diesseits der Dinge grenzt.

Authentisches Übersetzen findet dort statt, wo die Unübersetzbarkeit alles Authentischen erkannt wird.
Poetisches Übersetzen wird möglich, wenn der Übersetzer seine Kompetenz, sein Wissen dem Vergessen überantworten, seine Kunst als eine verlernte praktizieren und dabei sie wiederentdecken kann; so wie er den zu übersetzenden Text nicht als einen immer schon geschriebenen, in der Zielsprache nachzuschreibenden, vielmehr als einen erst noch zu schreibenden, einen weiterzuschreibenden Text zu entdecken hat.

Die optimale dichterische Übersetzung ist wohl die, deren Gelingen vom Übersetzer nicht gewollt, auch nicht geplant war, lediglich zugelassen, ermöglicht wurde.
Was übrigens ebenso für die Dichtung, für dichterisches Gelingen gilt.

Von Anna Achmatowa, Boris Pasternak oder Joseph Brodsky weiß man, dass sie Poesie auch aus Sprachen übersetzt haben, die ihnen gänzlich unbekannt waren, und doch finden sich darunter nicht wenige Gedichte, die als übersetzerische Meisterstücke gelten können, angefertigt nach Rohfassungen von fremder Hand und instrumentiert mit ingeniöser Einfühlung.
Das könnte Verständnis schaffen für poetische Verfahren wie die Oberflächenübersetzung, bei der unter Ausblendung der semantischen Dimension lediglich die Lautqualitäten und rhythmischen Verläufe des Originaltexts in der Zielsprache wiedergegeben – wieder gegeben – werden, was tatsächlich auch ohne Kenntnis der Herkunftssprache möglich ist. So hat beispielsweise Schuldt Gedichte von Kelly, Pastior solche von Petrarca, Baudelaire oder Chlebnikow ins Deutsche gebracht – als schlichte phonetische Überschreibungen.

Der Schriftsteller als Übersetzer? – Musil in seinem Tagebuch: „Der Schriftsteller im Verhältnis zum Leser schreibt eine Fremdsprache.“ – Der Schriftsteller wäre mithin notwendigerweise ein Übersetzer!

Die Babelsche Sprachverwirrung hat das Übersetzen nicht nur notwendig, sondern auch – überhaupt erst – möglich gemacht; sie hat nicht verhindert, dass gleiche Sachverhalte in ganz verschiedenen Sprachen wenn nicht exakt, so doch analog festgehalten werden können. Elias Canetti hat diese semantische Durchlässigkeit bedauert, hat sich opake, hermetisch verschlossene, ganz und gar unübersetzbare Sprachen gewünscht. Von daher versteht man, dass er nicht an der gelungenen Übersetzung interessiert war, wichtiger war ihm deren Scheitern. Was Sprache an Wesentlichem auszudrücken vermag, kann durch keine Übersetzung vermittelt werden.Canetti notiert: „Am Übersetzen ist nur interessant, was verloren geht; um dieses zu finden, sollte man manchmal übersetzen.“ Ein ebenso bescheidenes wie riskantes Projekt.

Das immer schon Gesetzte ist das immer schon vorhandene Korpus der Texte, eine nie zu erschöpfende, nie abzugeltende Vorgabe, von der auszugehen, die zu überwinden, womöglich gar zu vergessen ist. Ohne dies Vorgegebene hätte das Schreiben keinen Grund, von dem aus es als Übersetzung, statt als Setzung, praktiziert werden könnte.

Übersetzen, Schreiben sind für mich eins; die Geste des Schreibens und Übersetzens ist die Geste, mit der ich mich absetze von Gesetztem, Gesetzlichem.
Der übersetzte, der geschriebene Text hat seine „Richtigkeit“ dann, wenn er auf seine – also meine – Weise mit der Vorlage, die stets kein Original ist, spricht.
Der Text, übersetzt wie geschrieben, wäre demnach der sprechende Beweis dafür, dass ein Gesetztes besetzt, dann entsetzt, dann versetzt, umgesetzt, zuletzt zersetzt, vielleicht ersetzt worden ist. Und …
… aber es ist, im Blick auf jegliche gesetzte Vorgabe, die doppelte Optik zu beachten. Wenn ich im Gedichtband „Nach der Stimme“, eine Folge von acht „Hölderlin zuzuschreibenden Gedichten“ schreibe, so gehe ich aus von etwas Gesetztem, das seinerseits etwas Fortzusetzendes, also etwas fortzusetzendes ist, nehme mir dieses oder jenes Gedicht Hölderlins vor, hebe das eine oder andere Wort … den einen oder andern Vers für mich auf, setze ihn hin aufs unbeschriebene Blatt, höre, sehe ihn mir an, lasse ihn einwirken auf mich elementar als Klangereignis, als schriftbildliche Konfiguration, warte – oft lange – darauf, dass lautliche oder rhythmische Assoziationen sich einstellen, die mir das Weiterschreiben an Hölderlins gesetzten, von mir schon im Akt des Lesens „übersetzten“ Texten ermöglichen.
Was aus solch suchender Schreibbewegung hervorgeht, ist Hölderlin insofern zuzuschreiben, als es eben nur von ihm ausgehend – und eben nur von mir – so hat geschrieben werden können, wie’s jetzt dasteht. Was Hölderlin oder wem auch immer zuzuschreiben ist, ist das, was ich, mich absetzend von seiner poetischen Vorgabe (die ich als Gabe, mithin als Verantwortung – ja, zum Beantworten – übernehme), zu schreiben habe. Das Hölderlin oder wem auch immer Zuzuschreibende ist, so ließe sich ganz einfach sagen, das von mir zu Schreibende.

Alles je Geschriebene ist stummer, nie „richtig“ zu deutender, deshalb vieldeutiger Aufruf zum Weiterschreiben; jedoch jedes Weiterschreiben, ich wiederhole es, setzt voraus ein Gesetztes, das als ein zu Zersetzendes, als ein zu Ersetzendes allein in der Übersetzung seine Entsprechung findet.

Für die Charakterisierung und Bewertung von Lyrikübersetzungen hat der russische Altphilologe und Verstheoretiker Michail Gasparow die Einführung eines „Genauigkeitskoeffizienten“ und eines „Abweichungskoeffizienten“ vorgeschlagen. Die Genauigkeit einer Übersetzung soll festgehalten werden durch die Prozentzahl der aus dem jeweiligen Originaltext in die Zielsprache übernommenen lexikalischen Einheiten, während für die Abweichungen die vom Übersetzer eigenmächtig hinzugefügten Wörter maßgebend sind.
Man mag erstaunt sein darüber, dass Gasparow die gerade in Lyrikübersetzungen oft zu beobachtenden willkürlichen Auslassungen (etwa von Eigenschaftswörtern, Fürwörtern) unerwähnt lässt; seine Untersuchungen haben jedenfalls gesamthaft ergeben, „dass die Übersetzer vor allem bemüht sind, die Hauptwörter zu erhalten, und dass sie mit allen andern Wortarten sehr frei verfahren“. Daraus kann man schließen, dass auch in diesem poesienahen Bereich gemeinhin als wichtiger gilt, wovon im Gedicht gesprochen oder gehandelt wird, als wie es gesagt ist.
Die meisten Übersetzer sehen ihre Aufgabe demnach darin, in der Zielsprache das zu erhalten, was sie als Inhalt oder Aussage des Originalgedichts verstanden haben. Die gängige Übersetzungskritik honoriert diesen Ansatz, indem sie semantische Genauigkeit – die sogenannte Werk- oder Originaltreue – sehr hoch veranschlagt, während sie wie auch immer geartete Abweichungen von der Bedeutungsebene zugunsten formaler Qualitäten (wie Reim, Assonanz, Homophonie) gemeinhin kompromisslos ablehnt.
Interlinearübersetzungen, die nur die Mitteilung, nicht aber die Poetizität des Gedichts wiedergeben und schon deshalb leicht überprüfbar sind, können mehr Akzeptanz beanspruchen als kreative Nachdichtungen, deren „Freiheiten“ gewöhnlich als übersetzerische Willkürgesten, wenn nicht als Ausdruck sprachlicher Inkompetenz gerügt werden.
Eigenwillig übersetzende Autoren wie Peter Handke, Jürg Laederach, Peter Waterhouse, Franz Josef Czernin und auch ich selbst haben solches erfahren, und es ist zweifellos so, dass eher jene Übersetzer die Wertschätzung der Kritik genießen, welche – nach einer Notiz Robert Musils im Schlussteil von „Der Mann ohne Eigenschaften“ – „die Worte so wörtlich und schaurig“ in der Zielsprache wiedergeben „wie einen Haufen auseinandergefallener Steine“. Die meisten Lyrikübersetzungen sind zu genau, um adäquat zu sein.

Letzte Worte haben, so banal sie in manchen Fällen sein mögen („… mehr Licht!“, „… und jetzt?“, „… bis dann!“), Vermächtnischarakter und werden entsprechend ernsthaft nach tieferer Bedeutung abgefragt.
„Ich sterbe …“ Mit diesen Worten, deutsch gesprochen, ist der russische Schriftsteller Anton Tschechow am 2. Juli 1904 in Badenweiler gestorben. Das Vermächtnis erweist sich als bloße Diagnose. Tschechow, von Beruf Arzt, stellt lediglich fest, was vor sich geht, das Sterben, und was gleich vollendet sein wird, das Leben als Krankheit zum Tod.
Dass letzte Worte in einer Fremdsprache gesprochen, also vom Sprechenden selbst übersetzt werden, kommt wohl eher selten vor. Bei Tschechow steht die Übersetzung für die Distanz schaffende ärztliche Optik, die den diagnostischen Blick erlaubt. „Ich sterbe“ heißt dann soviel wie er stirbt, und der Tod als Entsetzen ist gebannt. In der Übersetzung verweist die Feststellung, dass „ich sterbe“ auf den Tod des Andern.
Tot wird ein Anderer sein.
Ein Anderer wird gestorben sein.
Tot zu sein – eine andere Form, zu sein?

Bei einer privaten Begegnung hat mir Andrej Bitow zu dem vielzitierten, angeblich letzten Wort Tschechows vor Zeiten eine russische Lesart beliebt machen wollen: „Ech, schterwa!“ (Och, du Miststück!) – fast lautgleich mit „ich sterbe“.
Demnach wären die Biographen bislang einem Missverständnis aufgesessen: Da der Schriftsteller in einem Spitalzimmer in Badenweiler in Gegenwart seines deutschen Arztes starb, lag es nahe, den deutschen Wortlaut anzunehmen. Die Aussage des Autors erweist sich damit eher als banale Feststellung denn als ein bedenkenswertes Vermächtnis.
Liest man sie aber (was in diesem Fall, da es sich um ein letztes Wort handelt, naheliegt) vom russischen, also muttersprachlichen Wortlaut her, gewinnt sie unversehens eine übertragene Bedeutung, die mit Blick auf Tschechows langwierige Krankheit auch durchaus plausibel wäre:
Was für ein Miststück ist doch das Leben!
Und … oder der Tod?

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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