Deutsche Gedichte, neu eingedeutscht

erfindbar sind gedichte nicht
es gibt sie ohne uns irgendwo seit
irgendwo hinter      sie sind dort in ewigkeit
der dichter findet das gedicht
(Jan Skácel)

Mehrsprachig ist man nur in seiner Muttersprache… Nur in der Muttersprache kann man die Vielfalt der Intonationen, die Besonderheiten der Betonungen, die Einfärbungen diverser Dialekte und Jargons erkennen und allenfalls gar beherrschen.
Von daher kam der Impuls zu einem besonderen – womöglich erstmaligen, womöglich einmaligen – Übersetzungsprojekt, das ich einst unter dem Titel „Fremdsprache“ bei Rainer Pretzell in Berlin als Buch realisieren konnte – eine Sammlung von phonetischen Übertragungen deutscher Gedichte ins Deutsche.
Das Verfahren bestand darin, ausgewählte Vorlagen deutscher Poesie − weltliche Lieder aus dem Mittelalter, barocke Sinngedichte, lyrische Stücke von Goethe und Hölderlin bis hin zu Celan und zur Gegenwart − unter Wahrung der strophischen, rhythmischen und melodischen Organisation des Originals lautlich zu transponieren und sie somit in ein anderes Deutsch zu bringen, sie also umzurüsten zu gleich (oder jedenfalls ähnlich) klingenden Texten ohne Rücksicht auf deren Bedeutung: Zu übertragen war dementsprechend einzig der vorgegebene Lautbestand der Gedichte, das, was Roman Jakobson als deren „Klanggehäuse“ bezeichnet und in verschiedenen Sprachen beispielhaft herausgestellt hat.
In der Praxis bedeutete dies, dass für jeden im Originaltext vorkommenden Vers eine phonetische (assonantische, allenfalls homophone) Entsprechung gefunden werden musste − ein rigoroses Formprinzip, welches möglichst konsequent durchzuhalten und dennoch, bei aller Einschränkung der sogenannten dichterischen Freiheiten, flexibel zu handhaben war; so dass beispielsweise die Verszeile „Wo in die Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben…“ den Wortlaut „Wo in wie gerne Sicht begrenzt so weiterleben…“ annehmen konnte, während im Übrigen da und dort auch stärkere Abweichungen gegenüber dem jeweiligen Original – ebenso wie partielle Übereinstimmungen mit ihm – in Kauf genommen wurden.
Die Frage war: Inwieweit vermag das klangliche „Gehäuse“ eines Gedichts, mithin seine Klanggestalt als solche, eine poetische Funktion zu übernehmen beziehungsweise eigenständig sich als Dichtwerk zu behaupten.
Die Anwendung dieses radikalen, wenngleich äußerst diskreten Übertragungsverfahrens − Texte aus Texten herzustellen, genauer: entstehen zu lassen − verhalf zur bedeutsamen Einsicht, dass auch die extremste Verschärfung formaler Zwänge die Ausdruckskraft der Sprache nicht zu beeinträchtigen vermag; dass die Sprache vielmehr, je größer der regulative Druck wird, dem sie ausgesetzt ist, eigene Wege zu gehen beginnt; dass schließlich der Gleichklang zweier Wörter, zweier Sätze, zweier Texte (die lautliche Ähnlichkeit des Sprachmaterials) nicht deren inhaltliche Übereinstimmung, sondern, im Gegenteil, ihre Bedeutungsdifferenz, mithin ihre Autonomie unterstreicht.
In diesem Verständnis kommt phonetischen Übertragungen − bei all ihrer formalen Rückgebundenheit − der Status von Originaltexten zu. Denn sie gehen nicht über ihre Vorlagen hinaus, sondern treten hinter diese zurück, indem sie jeden Bedeutungsanspruch aufgeben und einzig ihre Lautstruktur beibehalten.
Mit ein paar wenigen Textbeispielen aus „Fremdsprache“ will ich dies vor Augen und vor Ohren – führen.

•••

Rainer Maria Rilke

Der Hund

Da oben wird das Bild von einer Welt
aus Blicken immerfort erneut und gilt.
Nur manchmal, heimlich, kommt ein Ding und stellt
sich neben ihn, wenn er durch dieses Bild

sich drängt, ganz unten, anders, wie er ist,
nicht ausgestoßen und nicht eingereiht
und wie im Zweifel seine Wirklichkeit
weggebend an das Bild, das er vergißt,

um dennoch immer wieder sein Gesicht
hineinzuhalten, fast mit einem Flehen,
beinah begreifend, nah am Einverstehen
und doch verzichtend: denn er wäre nicht.

Überschreibung Ingold:

Da! oben harrt das Bild vor einer Welt,
Die Blicken wehrt und dennoch wörtlich gilt:
Wo Dieser oft und Jene zeitlich unterstellt,
Dass nebenan, wenn Der durch solches Schild

Verfängt, als wäre er genaustens, was er isst,
Sich alles drängt. Doch auf! und eingereiht,
Denn ohne Frage fällt auch seine Wirklichkeit
Mit einem Sofortbild zusammen, das man zwar vergisst,

Um niemals wieder – – – – – – – – – dem Gesicht
Nachgeben und es – – – – – – – – bloss zum Sehn
Tragen zu müssen. Aber – – – – – – – Missverstehn
Heißt nicht nur – wenn auch „auch“ – Verzicht.

•••

Katrine von Hutten

Zweifel

Das streng genommen hergenommene
das unten herum intelligente
aber oben auch nicht ohne
(warum ist die Beitänzerin 

eigentlich so unterm Kleid?
Warum ist die Frau die die
Mode über sechzig vorführt
eigentlich anfang vierzig?)
also das oben und unten
hin und hergegebene

Überschreibung:

Das streng resümierte
Das rundum intelligente
Aber ohne
(Warum ist die so nackt? Die Tänzerin unterm
Kleid was die hat!)
Warum sie
Die Mode vorführt
Eigentlich Größe achtund-
Also unten
Hin und
Herr!

•••

Paul Celan

Zürich, zum Storchen

Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
Jüdischem, von
deinem Gott.

Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:

Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir wissen ja nicht,
was gilt.

Überschreibung: 

Z-Zü-Zürich – stumm horchen:

Noch du? Viel war die Fehde! Komm
Du-König komm ruh
und warte zu – schon
die Brüstung nur Schwelle vor
bübischem vor-
lautem Tod.

Kein
Wort.

Alltagsfreier Himmel. Schwarzfahrt
über Land: „… trügen, es kam
mit leisem Erfolg, übt in Maßen …“

Von keinem Tod war die Rede, kein Ach!
Gegenspleen – mir
frisst der Schmerz, was ich hasste.
Offen:
auch
mein höchstes Umwölktes, mein
Fra-ragendes Horn!
Kein Staub – immerzu sahst hin: Weg
– ein Fund
da liegt, vertraust Gehörtem:

„Wir
wissen ja nicht, weißt du, wir
wissen nicht,
was gilt. Ob du’s willst?“

•••

Eduard Mörike

Er ist’s

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!

Überschreibung:

Früh legt’s hin – „Das wüste Land“,
in Falten; wie ’ne Karte knattert die Standarte
und entrollt sich als Gewand.
Weilchen säumen schon
die Zeitgeschichte – haben
Zeiten und Geschichten einen Kammerton?
Im Labyrinth der Achteckwaben
will gut Ding nun Weile haben: „Ich bin!“

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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