“It can’t be all in one language” – Ezra Pounds „Cantos“ in zweisprachiger Gesamtausgabe

Während fast eines halben Jahrhunderts – von 1915 bis 1962 – hat Ezra Pound an seinem dichterischen Hauptwerk gearbeitet, das unter dem schlichten Titel „The Cantos“ ab 1924 in einem Dutzend unregelmäßiger Lieferungen und schließlich, 1970, als postumes Fragment in einer ersten Gesamtausgabe erschienen ist. Fast ebenso lang wie der Autor war seine deutsche Übersetzerin und Herausgeberin Eva Hesse mit dem Werk befasst, bis es nun vor kurzem auch hierzulande in seiner letzten Fassung erscheinen konnte.1
„Das ist wohl die größte Dichtung, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat“, meinte einst Thornton Wilder mit respektvollem Blick auf „Die Cantos“, und William Carlos Williams ging noch weiter, ging weit über das 20. Jahrhundert hinaus, als er dekretierte: „Die Zeit vor Ezra Pound ist wie die Zeit vor Christi Geburt, auf die die Zeit nach Christi Geburt folgte.“ – Meinungen dieser und ähnlicher Art gibt es zuhauf, und es gibt auch Gegenmeinungen, die Pounds „absolutes Meisterwerk“ als eine Ansammlung von obsoletem Bildungsgut, dreisten Fehlurteilen und faschistischen (auch antisemitischen) Gemeinplätzen ausweisen.
Außer den zahllosen kontroversen Mutmaßungen und Behauptungen gibt es zu den „Cantos“ allerdings auch eine staunenswerte Summe textkritischer, literarhistorischer und interpretativer Erkenntnisse, die inzwischen von einem internationalen Forschungskartell als Kapital verwaltet und permanent gemehrt werden. Die Tatsache, dass die philologische und hermeneutische „Kapitalisierung“ (oder sollte man sagen: die Ausbeutung?) der „Cantos“ so ungemein ertragsreich ist, hat mit der Anlage des Werks als Bedeutungsträger zu tun.

Im Gegensatz zu seinen radikal avantgardistischen Zeitgenossen – den Dadaisten, den russischen und italienischen Futuristen oder Einzelgängern wie Raymond Roussel – beharrte Pound darauf, dass er etwas zu sagen und Dichtung etwas zu bedeuten habe; seine Ambition bestand darin, das Dichtwerk als ein „System des Denkens“ zu konstituieren, mithin als ein Medium zur Speicherung von Fakten wie auch zur Transformation von Ideen unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung – Ideen aus wissenschaftlichen, philosophischen, technischen, politischen, religiösen und mythologischen Zusammenhängen, Fakten aus Geographie, Geschichte, persönlicher Erfahrung. Dies alles soll sich bei aller Disparatheit zu einem großen Ganzen fügen, zu einem „Paideuma“, das Weltordnung und Weltethos ineins setzt. Zwar ist Ezra Pound ein militanter Ästhet, doch das Prinzip einer Kunst um der Kunst willen lehnt er klar ab. Ebenso klar steht er zu seinem wertkonservativen Moralismus und engagiert sich explizit im Kampf gegen die zeitgenössische Sprachverluderung, die er als Indiz für den allgemeinen Niedergang der europäischen Zivilisation, der Bildung, der sozialen Beziehungen zu erkennen glaubt.
Wo soviel Bedeutung angelegt ist, gibt es entsprechend viel zu deuten, doch besteht auch die Gefahr, dass sich die Deutung in der Quellensuche und im Dechiffrieren dunkler Stellen erschöpft. Bedeutung, Bedeutungen zu erschließen, heißt jedoch keineswegs, eben dadurch auch Sinn zu bilden; im Gegenteil – die bedeutungsmäßige Dechiffrierung eines Texts behindert oder verhindert gemeinhin die eigenmächtige Sinnbildung durch den Leser.
Als bildungswütiger Autodidakt und wildernder Dilettant hat sich Ezra Pound in allen menschheitsgeschichtlichen Epochen, in zahlreichen Kultur-, Sprach- und Wissensgebieten umgetan, und es war ihm bewusst (er nahm’s auch in Kauf), dass er sich damit dem Vorwurf eines naiven Akademismus beziehungsweise eines hochfahrenden Dilettantismus aussetzte. In den „Cantos“ gibt es Hunderte von Zitaten, Anspielungen, Orts- und Eigennamen, die ohne Kommentar kaum einzuordnen, oft auch gar nicht zu verstehen wären. Dieser Schwierigkeit hilft die vorliegende zweisprachige Edition, die nun sicherlich für längere Zeit als „definitiv“ zu gelten hat, zumindest teilweise dadurch ab, dass sie einen verlässlichen, am aktuellen Forschungsstand orientierten Apparat bereithält, der nicht nur kommentarbedürftige Textpassagen, sondern auch intertextuelle Wechselbezüge zu erhellen vermag. Doch damit ist das komplexe, in sich vielfach gebrochene, auch qualitativ höchst uneinheitliche Werk noch lange nicht erklärt – seine künstlerische Substanz und sein künstlerischer Sinn müssten sich jenseits des faktisch Fassbaren beweisen.

Denn wer die Textbedeutung der „Cantos“ erfasst hat, hat keineswegs auch den Sinn des Werks begriffen. Pound selbst hätte dessen Lektüre durch die Beigabe eigener Anmerkungen und Hinweise erleichtern können; da er darauf aber verzichtet hat, darf man annehmen, dass es ihm letztlich nicht nur auf das faktische Verstehen ankam, sondern auch darauf, dass der Text der „Cantos“ als solcher wahrgenommen wird – in seiner sprachlichen Gestalt, in seiner kompositorischen und prosodischen Struktur. Diese stellt sich in vielfacher Gebrochenheit dar, lässt weder Kontinuität noch Geschlossenheit erkennen, zeigt sich auf formaler wie auf inhaltlicher Ebene als additive Reihung von heterogenen Elementen, die bald gehäuft, bald in weiter Streuung auftreten, niemals in logischer oder chronologischer Abfolge, oft in Form von Paradoxien oder inhärenten Widersprüchen; dazu ein einziges – ein beliebiges, ebenso gut durch ein anderes ersetzbares – Beispiel (aus Canto LXXIV, 399ff.):

… Gottes Sendbote Whiteside
und die Ansicht der Posten über die Armee
war schlimmer als die der Häftlinge
„all diesen goddam motherfucking Generälen kriechen die
Faschisten i.d.A.“
„für ’ne Stange Dukes“
„was ich nich’ sach und tuuuu“

ac ego in harum
so lagen Männer in Kirkes Schweinekoben;
ivi in harum ego ac vidi cadaveres animae
„los, Würstchen“ sprach der kleine Schwarze zum Großen;
vom Sklavenschiff wie es sich zwischendecks ausnimmt
und sämtliche Präsidenten
Washington Adams Monroe Polk Tyler
plus Carrol (aus Carrolton) Crawford
und schröpft das Volk zum privaten Vorteil ΘΕΛΓΕΙΝ
jede Wechselbank ist regelrechter Betrug
und schröpft das Volk zum privaten Vorteil
nec benecomata Kirké, mah! κακά φοίργακ’ έδωκεν
weder von Löwen noch Leoparden gewartet
aber Giftsud, veneno
in alle Adern des Gemeinwohls
wenn obenauf, ergießt sich’s abwärts durch alle
ob auf der Esse zu Predappio?…

Man kann in den „Cantos“ noch so viele Themen und Motive eruieren, ein kausaler Zusammenhang wird kaum irgendwo erkennbar; statt dessen ergeben sich zahllose Analogien, die entweder vom Autor mit Biegen und Brechen bewerkstelligt oder vom Leser selbst beliebig gesetzt werden. Was sich insgesamt wie eine große epische Dichtung ausnimmt, ist doch eher ein poetisches Kompendium (um nicht zu sagen: ein Sammelsurium), das zivilisatorische Fundstücke jeglicher Art im Verein mit privaten Erfahrungstatsachen präsentiert, schrankenloser Synkretismus steht hier der kulturellen wie auch sprachlichen Einschmelzung entgegen, Widerstände und Widersprüche werden nicht begradigt, sondern bewusst herausgestellt: Der nivellierenden Synthese zieht Pound die Differenz vor und damit die Vielfalt des Diversen – eine künstlerische Grundhaltung, die sich auffallend abhebt von seinen faschistischen Sympathien. In einem späten Statement gegenüber Pier Paolo Pasolini hat der Dichter im Rückblick auf die „Cantos“ selbstkritisch konstatiert: „Es sind alles bloß Kieselsteine. Ich bin nicht imstande gewesen, sie zu einem Kosmos zusammenzufügen.“

Die diskontinuierliche Gesamtanlage des unvollendeten Dichtwerks mit seinen 109 „Gesängen“ (die als Versatzstücke oder Sektionen adäquater bezeichnet wären) findet ihre Entsprechung sowohl in der thematischen und sprachlichen wie auch in der zeitlichen und räumlichen Vielfalt. Im poetischen Raum der „Cantos“ stehen Griechenland und die Provence, China und Afrika, Italien und England, die USA und Indien, Pisa und Washington ebenso unverbunden nebeneinander wie die griechische Antike, das europäische Mittelalter, das englische 17. Jahrhundert, der Erste und der Zweite Weltkrieg oder außerkalendarische (vorgeschichtliche, mythologische) Zeiten.
Dominant sind in den „Cantos“ so unterschiedliche Themenbereiche wie Ökonomie, Religion, Krieg, Staatsführung, Architektur, Konfuzianismus, Eros, Biologie oder die Künste, und nicht weniger disparat sind innerhalb dieser Bereiche Pounds jeweilige Sonderinteressen, so bei der Dichtung – Homer und Dante, Sappho und Vergil, die altenglische Versepik, der provenzalische Minnesang, Swinburne und Yeats, die literarische Moderne zwischen Basil Bunting, Filippo Tommaso Marinetti und James Joyce. Der massive Einsatz von Personen-, Helden- und Götternamen, außerdem von Ortsbezeichnungen und seltenen Termini aus Wissenschaft und Religion ist bei Pound – über das bloße Namedropping hinaus – ein kunstvolles Verfahren zur Instrumentierung und Verfremdung des dichterischen Texts.

Ein weiteres wesentliches Merkmal der „Cantos“ ist deren Mehrsprachigkeit – die rare Tatsache, dass der Autor übergangslos fremdsprachige Passagen (Einzelwörter, Redewendungen, Zitate usf.) in den dichterischen Text einfügt, ohne dazu eine Übersetzung oder gar einen Kommentar zu liefern, im Wissen also, dass der Leser über weite Strecken nur noch sehen, nicht aber verstehen kann, was er Schwarz auf Weiß vor Augen hat. Nebst verschiedenen Idiomen des Englischen verwendet Pound mehr oder minder umfangreiche Einsprengsel vorab in griechischer, lateinischer, italienischer, deutscher, chinesischer Sprache und erzeugt damit einen klanglichen wie auch visuellen Patchworkeffekt, der sich – in einem kurzen Auszug aus dem Pisaner Canto LXXIX – wie folgt ausnimmt:

Athene hätt ein wenig Sex-Appeal vertragen
caesia oculi
„Verzeihung, γλαύξ“
(„Lasst das, ich bin nicht blöd“)
mah?
„Der Preis ist drei Altäre, multa.“
„pahk den Jeep doht drüben.“
2 auf 2
wie heißt der Bursche gleich? D’Arezzo, Gui d’Arezzo
Notierung
3 auf 3
Chiacchierona der gelbe Vogel
verharren 3 Monate lang eingelocht
(auctor)
bei den zwei Brüsten der Tellus
meine Güte, ein Stabsauto /
si com’avesse l’inferno in gran dispitto
Kapanaeus
mit 6 auf 3, Schwalbenschwänze
wie von Helenas Brüsten, eine weißgoldne Kuppe
2 Kuppen für drei Altäre. Tellus γέα feconda
„ein jedes im Namen der eigenen Gottheit“
Minze, Thymian, Basilikum,
das junge Ross wiehert wider den Klang der Bumms-Kapelle;

seiner Erfindung, der Produktion und dem Gemetzel
(auf beiden Seiten) in memoriam
„Teufel! Dürfen die nicht verschnaufen nach dem Pfiff?“
und wenn der Hof kein Zentrum des Wissens …
kurzum der Rotz der Pejorokratie …
Rauschgold
von fetten fummligen alten Weibern
und fetten schnarrenden alten Hengsten
„an der Spitze halb tot“
Mein lieber William B. Y., dein 1⁄2 war zu gelinde
„pragmatisch Schwein“ (falls Gojim) tut’s für Zweidrittel
ganz zu schweigen von der Geldanlage in dem Du-un-ich
und ähnlichen Unternehmen
Handwaffen und Chemikalien

dieweil Mr. Keith dem von Donatello am nächsten kommt

Auffallend ist bei diesem Exzerpt (wie auch in den „Cantos“ generell) die Präsenz von arabischen Ziffern, griechischen Buchstaben und – hier nicht reproduziert – von chinesischen Ideogrammen, lauter Elementen mithin, die im Text als optische Irregularitäten hervortreten und zu dessen Aufsplitterung zusätzlich beitragen.
Vielleicht sollte man wissen, dass Ezra Pound die Pisaner Cantos in einem amerikanischen „Disziplinierungszentrum“ nördlich von Pisa niedergeschrieben hat. Dort war er im Mai 1945 wegen seiner jahrelangen aktiven Kollaboration mit den faschistischen Kriegsgegnern der USA als Landesverräter unter verschärftem Regime interniert worden. Er hauste zunächst in einem Metallkäfig, dann in einem Zelt, kritzelte auf Toilettenpapier und hatte außer der Bibel, einem chinesischen Wörterbuch und einer populären Lyrikanthologie keinerlei Bücher zur Verfügung. Dass unter diesen erschwerten Bedingungen gleichwohl zwei seiner stärksten „Cantos“ entstehen konnten, ist ein Rätsel – oder ein Wunder – seiner Werkbiographie.

Die Tatsache, dass Ezra Pound in seiner Dichtung – und mit seiner Dichtung – die Vielsprachigkeit der Welt hochleben lässt, verdient heute besonderes Interesse. Die von ihm des öftern beklagte Verarmung und Auspowerung der großen Kultursprachen mag ihn dazu animiert haben, und seine diesbezüglichen Mahnungen sind weiterhin ernstzunehmen. In seinem kleinen „ABC des Lesens“ von 1934 hält er lapidar fest: „Ein Volk, das sich an schlampigen Stil gewöhnt, ist ein Volk, das im Begriff steht, seinen inneren Halt und die Gewalt über sein Reich zu verlieren.“ Volk und Reich – die Begriffe lassen ungute Assoziationen aufkommen, sollten aber nicht über die Dringlichkeit des Problemzusammenhangs von Sprachkultur und Nationalbewusstsein hinwegtäuschen.
Im Gegenzug zur stilistischen Schlamperei vieler seiner Zeitgenossen hat sich Ezra Pound in seinen poetologischen Schriften wie im eigenen dichterischen Schaffen um einen Personalstil mit vielen Registern bemüht, der sich vorab durch „Erweiterungen des Vokabulars“ und den gezielten „Einsatz von Fremdwörtern“ auszeichnen sollte. Die daraus erwachsende Mehrsprachigkeit seiner Texte erklärt und rechtfertigt er gegenüber seinen Kritikern in einem bisher kaum beachteten Essay („Ogden und Entbabelisierung“, 1935) wie folgt: „Mit bestem Wissen habe ich bis heute niemals ein griechisches oder lateinisches Wort gebraucht, wo Englisch dienlich gewesen wäre. Ich meine, dass ich niemals eine klassische oder fremde Form verwendet oder bewusst ungetilgt gelassen habe, wenn ich sie nicht eigens zur Geltung bringen wollte … Wenn es ein italienisches oder französisches Wort war, so hat es etwas statuiert – oder ich wollte etwas statuieren: eine Bedeutung, die im Englischen nicht geläufig ist, eine Schattierung oder eine Stufung.“
Die vom US-amerikanischen Linguisten C. K. Ogden angeregte Förderung und internationale Verbreitung des Englischen durch dessen radikale Vereinfachung (BASIC) – etwa die Reduktion des Vokabulars auf 850 Begriffe – hat Ezra Pound entgegen seinen eigenen poetischen Intentionen explizit begrüßt mit der Begründung, dass der Rückgang auf die Basics der Sprache – jeder Sprache – zu deren Entrümpelung von überflüssigen, weil nichtssagenden Elementen beitragen könne und damit, ganz allgemein, zu einem bewussteren und strengeren Sprachgebrauch.
Was Pound jedoch sicherlich nicht wünschte, wäre die Promotion einer Schwundstufe des Englischen zur Lingua franca gewesen mit der Absicht, die Sprachenvielfalt durch ein transnationales Idiom zu ersetzen, das mit einfachsten sprachlichen Mitteln und auf tiefstem stilistischem Niveau zwar Kommunikation ermöglicht, nicht jedoch kulturelle Selbstbehauptung und produktiven Austausch.
Diesen „vorbabelschen“ Status hat das Englische inzwischen fast schon erreicht. Alle Weltsprachen und auch die meisten Regionalsprachen sind weithin von Anglizismen durchsetzt, Business English und andere Ausprägungen von Basic English haben sich nicht nur als globale Konferenz- und Verhandlungssprache etabliert, sie sind auch in der Unterhaltungs- und Werbebranche unabdingbar und werden – etwa bei Interviews, bei TV-Talks – von Politikern, Models, Ärzten, Sportlern oder Philosophen mit großer Selbstverständlichkeit und minimaler Anstrengung praktiziert.

Angesichts der solcherart rasch um sich greifenden „Entbabelisierung“ der heutigen Sprachkultur kann man, die „Cantos“ vor Augen, Ezra Pounds aufwendige Bemühungen um den Erhalt, ja die Erweiterung der babelschen Sprachenvielfalt naiv und reaktionär finden, man könnte sie aber auch als eine ultimative Rettungsaktion belobigen, als einen Versuch, die „Biodiversität“ der Völkersprachen mit dichterischen Mitteln nicht nur aufrecht zu erhalten, sie vielmehr auszuweiten und auszudifferenzieren.
Dabei ist dem Dichter der Eigensinn der Sprache hilfreich, eine Art Eigendynamik oder Autopoiesis, die Pound mit dem deutschen (offenbar von ihm selbst geschaffenen) Terminus „Sagetrieb“ bezeichnet. Bei weitem nicht alles findet Platz in einer Sprache – „it can’t be all in one language“ –, doch dieses Defizit wird eben dadurch ausgeglichen, dass es mehr als nur eine Sprache gibt; dass „die Sprache“ zugleich für die Sprachen steht.

Auch wenn man Ezra Pounds Einsatz für eine multiple Sprachkultur sowie, generell, für die Bewahrung kultureller und sprachlicher Diversität zu schätzen weiß, kommt man nicht darum herum, sein gewaltiges Unterfangen in bezug auf seine Rezeptionsmöglichkeiten als gescheitert zu betrachten. Vor allem deshalb, weil es, abgesehen von Ausnahmelesern wie T. S. Eliot oder James Joyce, für ein Dichtwerk wie die „Cantos“ kein adäquates Publikum gibt und weil deshalb nun eben doch alle fremdsprachigen Textstellen übersetzt und erläutert werden müssen. Andrerseits erscheint Pounds Ideal sprachlicher und dichterischer Vielfalt angesichts der jüngsten globalen Kulturentwicklung heute als umso dringlicher: Die internationale Sprachkultur wie auch die Rhetorik der Dichtung haben sich entgegen seinen Vorstellungen und Forderungen zunehmend vereinheitlicht, sind primär auf Integration und gerade nicht auf Differenzierung angelegt, derweil sich ein unbedarftes „Billion English“ als reduktionistische Lingua franca bereits weitgehend durchgesetzt hat und auch die sogenannte schöne Literatur weltweit zur wechselseitigen Angleichung tendiert – der heutige ukrainische Roman ist vom afrofranzösischen in stilistischer Hinsicht ebenso wenig zu unterscheiden wie das zeitgenössische deutsche Gedicht vom polnischen oder kanadischen.

Da Ezra Pound, obwohl er mit der hochdifferenzierten Weltsprache Englisch eine optimale Schreibarmatur zur Verfügung hat, seine „Cantos“ programmatisch auf Fremd- und Mehrsprachigkeit anlegt, minimiert er einerseits die Funktion der Übersetzung, bleibt anderseits jedoch – weit mehr noch als andere Autoren seiner Generation – auf zwischensprachliche Vermittlung angewiesen. Die Übertragung der „Cantos“ kann nur als Teilübertragung bewerkstelligt werden, da sie sich auf den englischen Lauftext beschränken und sämtliche fremdsprachigen Einschübe als solche erhalten muss. Damit entfällt für den Übersetzer in quantitativer Hinsicht ein Großteil des Pensums, doch hat er statt dessen umso mehr qualitative Faktoren zu berücksichtigen und zu bewältigen.
Denn „vielsprachig“ ist Pound auch innerhalb der Originalsprache, da er das Englische in zahlreichen stilistischen und historischen Schichtungen zur Geltung bringt, so dass – häufig in Form von Zitaten – grob umgangssprachliche Passagen unmittelbar neben romantische Verse oder Extrakte wissenschaftlicher Prosa zu stehen kommen. Der Einsatz so zahlreicher fremdsprachiger Textpartikel, die englischen Lesern inhaltlich wie funktional ohnehin unverständlich bleiben, mag unterschiedlich motiviert sein. Man braucht nicht gleich von Bluff zu reden oder von bildungsbürgerlichem Exhibitionismus – möglich ist ja auch, dass Ezra Pound mit der mehrsprachigen Instrumentierung der „Cantos“ implizit auf das Ideal einer globalen Ursprache anspielen will, möglich aber ebenso, dass er mit der bewussten Erschwerung des Textverständnisses eine Poetik des Hermetismus hochhält, für die „Unverständlichkeit“ kein Mangel, vielmehr eine Errungenschaft ist, die der Alltagssprache und der herkömmlichen Dichtersprache gleichermaßen abgeht: Die „Schande“ (oder wenigstens das Ungemach) des Verstandenwerdens haben bekanntlich manche Autoren der europäischen Moderne – von Mallarmé über Chlebnikow bis Pastior – aufrichtig bedauert und konsequent zu vermeiden gesucht.
Fragt sich allerdings auch, was denn an und aus poetischen Texten „verstanden“ werden soll: Ist es das, was als Text dasteht, oder doch eher das, was als Bedeutung dahintersteht? „Damn it!“, heißt es in einem Brief Ezra Pounds an seine deutsche Übersetzerin: „Don’t translate what I wrote, translate what I meant to write.“ Was ist hier, mit Ausrufezeichen markiert, das Verdammenswerte? Ein Dichter, der darauf besteht, dass nicht sein Wort („what I wrote“), sondern seine Meinung („what I meant“) ernst zu nehmen sei, mithin das, was er hat sagen wollen, disqualifiziert sich selbst. Was er sagen wollte, ist ihm wichtiger, als was er gesagt hat und wie er’s gesagt hat. Wem es vorrangig um das Gemeinte geht, der braucht kein Dichter zu sein. Meinungen hat jeder, aber nur Wenigen steht das Wort zur Verfügung.

Wie allgemein bekannt (und weiter oben schon erwähnt), gehört – auf Rezipientenseite – zur paradoxalen Eigenart hermetischer Texte generell und von Ezra Pounds „Cantos“ im Besondern, dass sie durch Bedeutungsentzug die Sinnbildung fördern. Was gewöhnlichem Verstehen vorenthalten bleibt, kann leicht zum Faszinosum geraten – falls es nicht gleich als irrelevant abgetan wird. „Schwierigste“ Texte, ob Gedicht oder Traktat, provozieren in aller Regel die meisten (oft gar einander widersprechende) Lesarten, und mehr als dies – sie werden zumeist auch weit häufiger und über längere Zeiträume hin übersetzt und nachübersetzt als leichter verständliche Vorlagen. Die weltweit übersetzte Wortkunst Rimbauds, Mallarmés, Marina Zwetajewas oder – in jüngerer Zeit – Paul Celans sind dafür beispielhaft. Ezra Pound kommt diesbezüglich (vorab im Deutschen) eine Sonderrolle zu, da in seinem Fall die Übersetzungs- und Deutungsarbeit während Jahrzehnten praktisch im Alleingang von Eva Hesse erbracht wurde.
Eva Hesse hat sich dieser Aufgabe mit großem Engagement gewidmet, hat ihre Arbeit in mehreren Etappen mit immer wieder neuen Teilpublikationen der „Cantos“ in deutscher Sprache dokumentiert und sie mit erhellenden Kommentaren begleitet. In der vorliegenden Gesamtausgabe sind ihre Übersetzungen erstmals lückenlos vereint; rund ein Dutzend der späten Cantos hat zusätzlich und abschließend Manfred Pfister ins Deutsche gebracht.
Die Leistung Eva Hesses kommt einem Lebenswerk gleich, das genau so als ein Opus magnum gelten darf wie Pounds gleichermaßen monströses und erhabenes Großgedicht. Man wird die Übersetzung insgesamt als eine souveräne Nachdichtung qualifizieren dürfen, in der philologische Kompetenz und kreativer Eigensinn auf eindrückliche, aber doch auch diskutable Weise zusammenfinden – ganz abgesehen davon, dass sie in manchen Belangen die Originaltexte an Prägnanz und Eleganz klar übertrifft.

[Ezra Pound, Die Cantos (In der Übersetzung von Eva Hesse und Manfred Pfister; zweisprachige Edition), Zürich 2012; Ezra Pound, ABC of reading, Yale UP 1934 (dt. 1957); The Cambridge Companion to Ezra Pound, Cambridge 1999; Schreibheft (Sonderausgabe Ezra Pound, LXIX), Essen 2007; Furio Jesi, Letteratura e mito (Parodia e mito nella poesia di Ezra Pound), Torino 1968; Vostok-Zapad (Ost-West), IV, Moskau 1989, darin: Beitrag W. N. Toporow, „Der Raum der Kultur als Raum der Begegnung“ (russ.)]

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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