Nachgelesen, nachübersetzt, nachgedichtet. Versuch und Begründung einer experimentellen Nachdichtung am Beispiel von Sylvia Plath

Im Januar 1963 schreibt Sylvia Plath, seit kurzem in London ansässig, ein gutes Dutzend bester Gedichte, die auch ihre letzten sein werden, bevor sie sich, einen Monat danach, das Leben nimmt. Eins dieser Gedichte, zu dem sie sich vermutlich durch ein Modemagazin oder eine Frauenzeitschrift provoziert fühlte, ist den „Models von München“ gewidmet und lautet wie folgt:

The Munich Mannequins

Perfection is terrible, it cannot have children.
Cold as snow breath, it tamps the womb

Where the yew trees blow like hydras,
The tree of life and the tree of life

Unloosing their moons, month after month, to no purpose.
The blood flood is the flood of love,

The absolute sacrifice.
It means: no more idols but me,

Me and you.
So, in their sulfur loveliness, in their smiles

These mannequins lean tonight
In Munich, morgue between Paris and Rome,

Naked and bald in their furs,
Orange lollies on silver sticks,

Intolerable, without mind.
The snow drops its pieces of darkness,

Nobody’s about. In the hotels
Hands will be opening doors and setting

Down shoes for a polish of carbon
Into which broad toes will go tomorrow.

O the domesticity of these windows,
The baby lace, the green-leaved confectionery,

The thick Germans slumbering in their bottomless Stolz.
And the black phones on hooks

Glittering
Glittering and digesting

Voicelessness. The snow has no voice.

•••

Ein starkes Gedicht. Erich Fried hat es 1974 in seiner Übersetzung von Sylvia Plaths Nachlassband „Ariel“ erstmals auf deutsch veröffentlicht; und da liest es sich so:

Vollendung ist furchtbar, sie kann keine Kinder haben.
Kalt wie Schneehauch tamponiert sie den Schoß

Wo die Eibenbäume aufblühen wie Hydren,
Der Baum und des Lebens und der Baum des Lebens

Ihre Monde loslösen, Monat um Monat, zwecklos.
Die Blutflut ist die Flut der Liebe,

Das absolute Opfer.
Es heißt: Keine Götzen als mich mehr,

Mich und dich.
So, in ihrem Schwefelliebreiz, in ihrem Lächeln

Lehnen diese Mannequins heute nacht
In München, dem Leichenschauhaus zwischen Paris und Rom,

Nackt und kahl in ihren Pelzen,
Organgenlutschstangen auf Silberstäben,

Unerträglich, ohne Gedanken.
Der Schnee lässt seine Stücke von Finsternis fallen,

Niemand ist da. In den Hotels
Werden Hände die Türen öffnen und Schuhe

Hinstellen zum Polieren mit schwarzem Wachs,
Dass breite Zehen morgen in sie gehen.

Oh, die gezähmte Häuslichkeit dieser Fenster,
Die Babyspitzen, das grünbelaubte Backwerk,

Die dickfelligen Deutschen die schlafen in ihrem bodenlosen Stolz.
Und die schwarzen Telefone an Gabeln

Glitzernd
Glitzernd und verdauend

Stimmlosigkeit. Der Schnee hat keine Stimme.

•••

Ich stelle nun, ein halbes Jahrhundert danach, die folgende Neuübersetzung zur Diskussion:

Furchtbar diese Perfektion, sie kann nicht fruchtbar sein.
Kalt wie Wehen von Schnee verschließt sie den Schoss,
Wo Eiben wie Hydren in Blüte stehn,
Wo der Lebensbaum und der Lebensbaum
Ihre Monde entbinden, Monat für Monat, ohne Sinn.
Die Blutflut ist eine Liebesflut,
Ist absolute Opfergabe.
Will heißen: Kein Idol mehr außer mir,
Ich und du.
So lehnen diese Models heute Nacht
mit schwefligem Charme und rundum lächelnd
Nackt in ihren Pelzen –
Der Schnee lässt in Fetzen seine Finsternis fallen,
Niemand ist vor Ort.
Der Schnee hat keine Stimme.

Ein starkes Gedicht, ja, und doch – in meiner Fassung – nur ein halbes Gedicht; denn ich habe den ganzen zweiten Teil – mit Ausnahme des Schlussverses – fortgelassen: Ein unstatthafter übersetzerischer Eingriff, zweifellos, und doch ist es mir, meine ich, gelungen, das Gedicht nachträglich vor der Autorin zu retten … vor seiner Verbiegung zur antideutschen Karikatur – mit München als Modezentrum und Leichenschauhaus, mit den „dicken Germanen“ als häuslichen Putzteufeln, mit deutschem Süßgebäck und deutschem „bodenlosem Stolz“ usf.
In der Friedschen Übersetzung wie im Original fallen die letzten sieben Strophen vom Rest des Gedichts qualitativ deutlich ab, und dies in formaler wie in gehaltlicher Hinsicht. Mir ist schon klar, dass Sylvia Plath den Gesamttext auf den Vergleich beziehungsweise die Gleichsetzung der perfekten, aber unfruchtbaren Modewelt mit dem gemeindeutschen, ebenso unfruchtbaren Perfektionismus ausrichtet und dass sie beides zum prallen authentischen Leben, das sich besonders heftig in der „Flut der Liebe“ kundtut, in Kontrast setzen will. Da aber im ersten Gedichtteil bereits der Kontrast zwischen Künstlichkeit und Naturhaftigkeit dezidiert herausgestellt wird, wirkt der nachfolgende zusätzliche Vergleich mit Deutschland und den Deutschen ebenso willkürlich wie überflüssig – diese zweite Hälfte des Gedichts könnte sich durchaus als eigenständiger Text behaupten, im vorliegenden Zusammenhang nimmt sie sich aus wie ein angehängtes Nota bene oder ein Postskriptum.

•••

Ich dokumentiere mein Verfahren zusätzlich anhand eines der bekanntesten Gedichte von Sylvia Plath, stelle wiederum den Originaltext voran, um das Vorgehen beim Übersetzen und Komprimieren leichter nachvollziehbar zu machen.

Sylvia Plath

Ariel

Stasis in darkness.
Then the substanceless blue
Pour of tor and distances.

God’s lioness,
How one we grow,
Pivot of heels and knees! – The furrow

Splits and passes, sister to
The brown arc
Of the neck I cannot catch,

Nigger-eye
Berries cast dark
Hooks –

Black sweet blood mouthfuls,
Shadows.
Something else

Hauls me through air –
Thighs, hair;
Flakes from my heels.

White
Godiva, I unpeel –
Dead hands, dead stringencies.

And now I
Foam to wheat, a glitter of seas.
The child’s cry

Melts in the wall.
And I
Am the arrow,

The dew that flies
Suicidal, at one with the drive
Into the red

Eye, the cauldron of morning.

•••

Dazu die komprimierte Nachdichtung:

Ariel

Stasis in Finsternis. Dann der blaue substanzlose
Ausstoß von Zacken und Distanzen.

Löwin Gottes! Wie wir eins werden, Drehpunkt
Von Fersen und Knien! Die Furche geht

Auf und davon, Schwester des braunen
Nackenbogens, den ich nicht packen kann.

Münder voll von süßem Schwarzblut,
Schatten. Als weiße Godiva entblöße

Ich mich – tote Hände, tote Rigorismen.
Das Weinen des Kinds schmilzt in die Wand.

Der Tau, selbstmörderisch, entschwindet, eins
Mit dem Flug ins rote Aug, den Tank, wo’s tagt.

(nach Sylvia Plath)

Die insgesamt 30 Verse beziehungsweise 10 Strophen mit jeweils 3 unterschiedlich langen, durchweg ungereimten, oft nur lose durch Enjambements verbundenen Zeilen werden in der Übersetzung verknappt auf 6 Kurzstrophen mit je 2 ungefähr gleich langen Versen. Das Originalgedicht wird durch die reduktionistische Übertragung in seinem Aufbau völlig umgestaltet; es verliert dadurch ein knappes Drittel seines Umfangs, aber kaum etwas von seiner Aussage und seiner emotionalen wie prosodischen Gestimmtheit.

Was sich naturgemäß ebenfalls ändert, ist der Status der Autorschaft am Übersetzungstext. Auch wenn das gesamte übrig gebliebene Wortmaterial – Einzelwörter, Wortverbindungen, ganze Sätze – auf Sylvia Plaths Originalgedicht zurückgeführt werden können, entspricht das übersetzte Gedicht weder ihrem formalen Dispositiv noch ihrer Fassung letzter Hand. Ich als Übersetzer habe zwar ausschließlich Vorgaben aus dem Originaltext in die Zielsprache gebracht, bin mit diesen Vorgaben aber frei verfahren, indem ich sie neu komponiert und sie zudem in eine neue strophische Anlage eingebracht habe.
Die Funktion der Übersetzung wird damit erweitert zur auktorialen Nachdichtung – der Fremdtext liefert lediglich die Versatzstücke, aus denen in der Zielsprache ein weitgehend eigenständiges Gedicht entsteht. Ob jedoch der Übersetzer, nunmehr als Nachdichter etabliert, die Autorschaft des so geschaffenen Gedichts beanspruchen darf, ist eine ebenso offene Frage wie die Gegenfrage – warum denn eigentlich nicht? Wodurch unterscheidet sich eine derartige Nachdichtung von einem Originalgedicht? Dass der Nachdichter sein Wortmaterial nicht aus dem Wörterbuch oder aus dem Fundus der Alltagssprache gewinnt, sondern aus einer fremdsprachigen Textvorlage, ändert nichts daran, dass er technisch genau so verfährt wie der Verfasser eines sogenannten Originalgedichts.

Meine Neuübersetzung hat – ich möchte das betonen – rein experimentellen Charakter, und es kommt bei meiner Fassung auch weniger auf den Text selbst an als auf die Fragen und Probleme, die er aufwirft, elementare Fragen … schlichte Probleme wie diese:
Kann die in der Zielsprache gekürzte Nachschrift des Gedichts noch als Übersetzung gelten? Bildet sie gegenüber dem Original eine Variante oder eine eigenständige Nachdichtung?
Darf ein Übersetzer seine Vorlage verändern, ergänzen, formal verbessern?
Wie wäre in diesen Fällen die Funktion von Autor und Übersetzer zu bestimmen beziehungsweise zu differenzieren?
Kann eine Übersetzung das Original qualitativ übertreffen? Wenn ja – worin und woran genau läge der Gewinn?
Inwieweit kann eine eigenwillige, vom Original sich entfernende Übersetzung ihrerseits als Original gelten und wie wäre dann poetische Autorschaft funktional zu bestimmen?
Was brächte ein solcherart erweiterter Übersetzungsbegriff für die Lyriktheorie? Welche Konsequenzen hätte er für die Übersetzungskritik?
Und außerdem:
Ist nicht auch jedes Originalgedicht mit Bezug auf seine literarischen Quellen und gemäß seiner Entstehung und Ausgestaltung so etwas wie eine Übersetzung? Und die Übersetzung folglich so etwas wie ein Original!

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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