Pseudonym – Die Namensänderung als Übersetzungsverfahren (3)

Die Annahme eines Pseudonyms kann – von der Annullierung eines lächerlichen oder despektierlichen, vielleicht auch bloß schwer aussprechbaren Familiennamens bis zum Decknamen eines Agenten, zum Kunstnamen eines Artisten – die unterschiedlichsten Gründe und Begründungen haben; sie kann sich als existentiell notwendig, als politisch oder gesellschaftlich opportun, aber auch als durchaus zufällig erweisen. In jedem Fall wird dadurch die Identität des Namensträgers ins Wanken gebracht, vielleicht sogar, wie beim Spion, beim Untergrundkämpfer oder beim Sektierer, mit Absicht zerstört und durch das Pseudonym neu begründet.
Der Ersatz eines Namens durch einen andern ist mehr als bloß ein Etikettentausch. Wer unter einem Decknamen auftritt, transzendiert damit seine eigene leibliche und seelische Befindlichkeit, er kann, je nach Namenswahl, seinen sozialen wie auch seinen sexuellen Status nach Belieben, wenn auch bloß zeichenhaft ändern.
Abgesehen davon, dass die Wahl eines Pseudonyms oftmals ein „neues“, ein „zweites“ Leben initiiert und seinem Träger eine „andere“ Existenz zuweist, ist sie in sprachlicher Hinsicht ein komplexer Übertragungsakt, der die semantische und die phonetische Ebene der Namensform gleichermaßen umfasst. Oft handelt es sich dabei um rein lautliche beziehungsweise wortspielerische Verfremdungen, die den ursprünglichen Namen mehr oder weniger deutlich durchscheinen lassen (z.B. „Amery“ für Mayer, „Kerr“ für Kempner, „Torberg“ für Berg), oft begegnen aber auch dichte Pseudonyme, die in Bezug auf die ursprüngliche Namensform keinerlei Transparenz mehr aufweisen (z.B. „Renate Sprung“ für Rosemarie Richter, „Jakob Knerz“ für Ernst Bloch). Doch generell kommt dem Pseudonym die ambivalente Funktion zu, einen vorgegebenen Namen auszublenden und ihn gleichzeitig, in welchem Verfremdungsgrad auch immer, präsent zu halten.

Diese Ambivalenz tritt am deutlichsten dort in Erscheinung, wo das Pseudonym nicht einfach gesetzt, sondern aus dem zugrunde liegenden Namen übersetzt wird und also in irgendeiner Weise, sei’s auf der Bedeutungs-, sei’s auf der Lautebene, an diesen gebunden bleibt. Im Unterschied zu gewöhnlichen Eigennamen, die wegen ihrer pragmatischen und lexikalischen Sonderstellung weitgehend resistent sind gegen übersetzerische Zugriffe, sind Pseudonyme – als sprachliche Fakten wie als poetische Fiktionen – großenteils das Ergebnis zwischensprachlicher oder innersprachlicher Übersetzung.
Damit ein Name von einer Sprache in eine andere übersetzt und sodann in entsprechend veränderter Lautgestalt als Pseudonym verwendet werden kann, muss er eine erschließbare Bedeutung haben und wie irgendein anderes Wort (Substantiv, Adjektiv, Verb – Kupfer, Grün, Kratz) im Wörterbuch zu finden sein. Ein paar einschlägige Beispiele von Pseudonymen, die durch Übersetzung von Vor- oder Nachnamen in unterschiedliche Zielsprachen entstanden sind, seien hier angeführt – sie zeigen, dass die Übersetzungen oft ungenau, oft auch bloß an die Bedeutung oder die Lautgestalt des Originalnamens angelehnt sind.
Vom Deutschen ins Französische: „Germain d’Ange“ für Alexander Engel, „Fred Caveau“ für Manfred Keller, „Ludwig Charron“ für Johann J. Wagner, „Alain Alcôt“ für Detlef Allekotte. – Ins Französische und Englische: „Jacques Rose Garden“ für Jo Hans Rösler; ins Englische: „Henrik F. Infield“ für Heinrich Infeld; ins Russische: „Gregor Kamen“ für Edmund G. von Stein; ins Griechische: „Texicephalus“ für Eduard Schmelzkopf, „Th. Melas“ für Thomas Schwarz, „Aletheophilos“ für Alexander Gottlieb Baumgarten; ins Tschechische: „C. Bogumil“ für Gottlieb Mensch. Als eine partielle Rückübersetzung aus dem Tschechischen ins Deutsche erweist sich das Pseudonym „Friedensreich Hundertwasser“ für Friedrich Stowasser.

Weitaus die meisten Übersetzungen von Eigennamen haben (zumindest bis ins frühe 20. Jahrhundert) als Zielsprache das Lateinische; auch in diesem Fall wird bald die Bedeutung, bald die lautliche Qualität des Namens in das Pseudonym übertragen: „Audax“ für Heinz Kühn, „Autumnus“ für Johann Andreas Herbst, „Cervus“ für Arnold Hirtz, „Jakob Corvinus“ für Wilhelm Raabe, „Josua Pictorius“ für Josua Maler, „Montanus“ für die deutschen Familiennamen Lemberger, Kronenberg, Vorberg; „Henricus Chnustius“ für Heinrich Knaust, „Nikolaus Copernicus“ für Nikolaus Koppernigk, „Georgius Calixtus“ für Georg Kallisen, „Johannes Crigingius“ für Johann Krüginger, „Philip Cösius“ für Philipp von Zesen, „Andreas Gryphius“ für Andreas Greif.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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