„Wörter, Wörter, nichts als Wörter…“. Zur Poetik des Glossierens bei Michel Leiris

Waltraud Gölter in memoriam

– das halb verächtliche, halb verwunderte Diktum, das einst Shakespeare seinem Hamlet auf die Bühne mitgegeben hat, ist für Michel Leiris schon früh zur schriftstellerischen Devise geworden und hat als solche Geltung behalten bis zuletzt. Zeitlebens war Leiris, nach eigenem Bekunden, in einen „feuilletonesken Liebesroman“ involviert, der ihn „mit den Wörtern“ verband, mit der Sprache nicht als Medium alltäglicher Kommunikation oder literarischer Rhetorik, vielmehr mit der Sprache pur, wie er sie im Wörterbuch, als eine alphabetisch gefügte Ordnung kontextfreier Wortdinge, vorfand: „– sie alle taten mir seltsame Fenster auf, ohne dass ich sie unwillkürlich hätte verformen oder missverstehen müssen, rätselhaft wie sie waren, sei’s durch ihre semantische Unbestimmtheit, sei’s allein durch ihre Klanglichkeit.“
Leiris war, ungeachtet seines ebenso umfangreichen wie autoritativen Werks, kein wortgewaltiger Schriftsteller; er musste, wollte nichts zu sagen haben, der konventionell mitteilenden Aussage zog er stets das schlichte Sagen der Wörter vor – er hörte auf sie hin, horchte sie ab, befragte sie nach dem, was sie aus und über sich selbst, über Gott und die Welt zu sagen hatten. Immer wieder, über manche Jahrzehnte hinweg, hat Leiris – bescheidener Skribent! – das Belauschen der Sprache und die Verschriftlichung ihrer Klangwelt im Rahmen eigens erstellter poetologischer Versuchsanordnungen zum Programm gemacht. Aus diesen systematisch durchgeführten, gleichwohl locker gehandhabten Wortarbeiten gingen mehrere Werke hervor, darunter eine alphabetisch angelegte, mit ingeniösen Kurzkommentaren versehene Begriffs- und Namenliste, deren Erstfassung er 1925 in die Zeitschrift „La Révolution Surréaliste“ einrückte und die in der Folge – stets unter dem selben unübersetzbaren Titel „Glossaire j’y serre mes gloses“ – verschiedentlich nachgedruckt, teilweise auch ergänzt wurde.
Die Technik des permutativen „Glossierens“ hat Leiris 1956 in seinen „Bagatelles végétales“ erneut aufgenommen, weiter ausgearbeitet und verfeinert, bevor er sie 1985 in „Langage Tangage“ als „Souple mantique et simples tics de glotte“ noch einmal in einem großen sprachspielerischen Finale zur Geltung brachte. Die Überschriften all dieser Werke haben Modellcharakter für deren Entstehung und Machart. Im wesentlichen handelt es sich dabei um mehr oder minder konsequent praktizierte anagrammatische Entfaltungen eines jeweils vorgegebenen Themaworts, das zumeist explizit genannt wird, bisweilen aber auch aus seinen lautlichen Ausarbeitungen und Weiterungen erschlossen werden muss. So verweist „souple mantique“ (schmiegsame Mantik) auf den klangähnlichen Subtext supplément (Zusatz, Ergänzung) und damit indirekt darauf, dass die vorliegende Arbeit als Fortschrift zu den früheren Glossaren zu gelten hat; „et simples tics“ (und einfache Ticks) wiederum spielt lautlich – außer auf simplicité (Einfachheit) – auf synthétique (synthetisch, künstlich) an, wodurch die einfache Künstlichkeit des assonantischen Wortbildungsverfahrens benannt und überdies zur Stimmritze („glotte“) in Beziehung gebracht wird. „Souple mantique et simples tics de glotte“ schließt mithin auf subtile Weise an „Glossaire j’y serre mes gloses“ an, jenes erste Glossar, dessen sprachspielerischer Titel die Gattungsbezeichnung „glossaire“ auf der Lautebene zu „j’y serre mes gloses“ (ich füge meine Anmerkungen ein) entfaltet und außerdem den Namen „Leiris“ als geheime, anagrammatisch verfremdete Signatur mit sich führt.
Als Leiris sein erstes Glossar vorlegte, wurde es von Antonin Artaud sogleich als Ouvertüre zu einem völlig neuen poetischen Sprechen begrüßt, das die „kanalisierenden“, mithin einengenden Ordnungsprinzipien diskursiver Rede definitiv überwinden sollte: „Ja, das ist nun die einzige Verwendungsart, der die Sprache künftighin dienlich sein kann, ein Wahnsinnsmedium, ein Mittel zur Gedankentilgung und -brechung, ein Wirrwarr der Irrwitzigkeiten …“ – Michel Leiris selbst hat das surrealistisch anmutende, in Wirklichkeit keineswegs phantasie- oder traumgesteuerte, vielmehr aus der Sprache selbst entwickelte Wortwerk verstanden wissen wollen als einen dezidierten Gegenzug zu jedem konventionellen, auf Mitteilung oder Verständigung angelegten Sprachgebrauch, dem es nicht um den „wahrhaften Sinn eines Worts“ gehe, sondern bloß um den Transport vorgegebener Bedeutungen. Die üblichen, durch die Etymologie gestützten Wortbedeutungen seien zwar „für alle, nicht aber für jeden von uns gemacht“, vermöchten uns folglich bestenfalls über die Welt, nicht jedoch „über uns selbst“ zu belehren.
Allein durch Brechung – Bruch der Wortbedeutung wie der Wortform auch – kann dem Wort, nach Leiris, eine „besondere, persönliche“ Qualität verliehen werden: „Indem wir die Wörter, die wir lieben, zerlegen, ohne der Etymologie oder der akzeptierten Bedeutung folgen zu wollen, entdecken wir ihre verborgensten Vorzüge und auch die geheimen Verästelungen, welche die ganze Sprache durchwirken, geleitet durch lautliche, formale und gedankliche Assoziationen. So verwandelt sich die Sprache in ein Orakel, und wir erhalten einen Faden (wie fein er auch sei), der uns ins Babel unseres Geistes führt.“
Die dominante Geste solchen Glossierens ist also das Zerlegen (disséquer) der jeweils vorliegenden Wörter in ihre phonetischen oder morphologischen Bestandteile, das Offenlegen vergessener Bedeutungskerne, die neu herausgestellt und sprachlich fixiert werden sollen durch die nachfolgende Rekombination der „gleichsam chirurgisch“ gewonnenen Versatzstücke. Es handelt sich dabei um ein konsequent dekonstruktives Vorgehen, bei dem Destruktion und Konstruktion tatsächlich wechselseitig sich bedingen. Durch Zerlegung, permutative Neugestaltung, allfällige lautliche Anpassungen oder Erweiterungen erfährt der Wortkörper einen zumeist radikalen Wandel. Diesen verfremdenden, bisweilen befremdlichen Wandel führt Leiris herbei, um „den Sprengwert (la valeur détonante) der Wörter nutzen“ und deren vielgestaltige „Seele“ freilegen zu können.
In einer späten Tagebuchnotiz bringt Leiris dieses Vorhaben, diesen Vorgang noch einmal auf den Punkt und verweist gleichzeitig darauf, dass es ihm dabei nicht nur um die produktive Verwendung des Wortmaterials, sondern stets auch um dessen „Verunklärung“ (brouillage) gegangen sei, darum nämlich, gängigen Begriffen und Namen erneut die hermetische Aura von Urworten zu verleihen. Derart „verunklärte“ Wörter stehen denn auch nicht mehr für vorgefasste Bedeutungen, wie das Wörterbuch oder die Alltagssprache sie bereithält, ihr Sinn soll, völlig neu, „abgeleitet werden von ihrer phonetischen Struktur“: „Ein ambivalentes Verhältnis also zu den Wörtern, die gleichzeitig kaputt geschlagen und – bestenfalls – in den Rang von Orakeln erhoben werden. Sprache, behandelt als eine heilige Sache, die man verehrt (wie in gewissen Messen) und die man ins Lächerliche zieht (wie auf einem Narrenfest).“
Ein paar wenige Beispiele aus „Souple mantique“ sollen verdeutlichen, wie Leiris die Wörter dazu bringt, ihre verfestigte Bedeutung abzulegen, einen neuen Sinn anzunehmen und auch noch – zumindest der Spur nach – sich selbst zu glossieren. Die Selbstglossierung tritt an die Stelle des Fremdkommentars, die Wörter werden nicht von einer externen auktorialen Instanz definiert und erklärt, sie tun kraft ihrer neu gewonnenen Klanggestalt dar, welches Sinnpotential in ihnen liegt und wie kontrovers dessen Ausschöpfung sein kann.
Leiris zerlegt seine Grundbegriffe – man könnte sie als Themawörter bezeichnen – zunächst in klangähnliche Fragmente, die er sodann Stück für Stück nach unterschiedlichen Kriterien (Assonanz, Alliteration, Homophonie, Stab-, Binnenreim o.ä.) neu ordnet, wobei er sie wiederum in unterschiedlicher Weise (durch Verdrehung, Verkürzung, Ergänzung o.ä.) modifiziert. Die definitive Ausarbeitung erfolgt nicht auf der Laut-, sondern auf der Schriftebene, wo sich nebst Sonderformen wie dem Palindrom oder dem Lipogramm vor allem das Anagramm in seinen diversen Spielarten anbietet (Buchstaben-, Silbenanagramm u.ä.).
Da im Französischen – anders als im Deutschen – die Lautgestalt vieler Wörter stark von deren Schriftgestalt abweicht, lassen sich anagrammatische Manipulationen kaum je konzessionslos durchführen. Man denke nur an die zahlreichen Nasalphoneme (on, in …), die bei einfachem Letterntausch (no, ni …) ihre Nasalität verlieren, oder an den Buchstaben g, der in bestimmten Stellungen wie ein j (sch) zu sprechen ist. Leiris kann deshalb kein exakter Tüftler wie Oskar Pastior und dessen Adepten sein, er ist aber – und das macht seine Arbeit eher noch interessanter – ein strenger Improvisator, der die Sprache zugleich zügelt und sich ausleben lässt. Somit gehört er zu jenen „Sprachverrückten“, die sich, während sie die Sprache verrücken, von ihr berücken lassen.
Mehr als um buchstabengetreue Anagramm- oder Palindrombildungen geht es Leiris beim Glossieren um die Entfaltung klangähnlicher Wortfolgen oder Satzgebilde. Das Themawort vocabulaire – hier als Beispiel – zerlegt er zunächst in lautliche Versatzstücke wie „veau“ (homophon zu vo-), „buccal“ (anagrammatisch zu –abul-), „bulles“ (homophon zu –bul-), „bulaire“ (assonantisch zu lunaire), um daraus eine Sequenz von lautlich korrespondierenden Wörtern zu bilden, die sich ihrerseits zu einer Art von Kommentar (zu vocabulaire) fügen: „– au caveau buccal (bocal lunaire) les bulles du verbe rêvent.“
In manchen andern Fällen bieten sich weit schlichtere, durch bloße Versetzung, Hinzufügung, Auslassung, Vertauschung eines Buchstabens oder Phonems zu bewerkstelligende Lösungen an, wie man sie auch, als Kalauer, aus der Alltagssprache kennt: vallée – lavée; Dieu – hideux (Lautanagramm); valve – vulve; oeuvre – verrou; itinéraire – y traîner, l‘étirer; u.ä.m. Mehrheitlich zieht Leiris jedoch weiter ausholende klangassoziative Fortschreibung des Themaworts vor, wobei er, soweit möglich, darauf achtet, dass die sich entwickelnden Wortfolgen tatsächlich so etwas wie einen Kommentar dazu ergeben. Das Wort „Reise“ beispielsweise entfaltet er auf der Bedeutungsebene zur „Freude, mit eigenen Augen zu sehen, da ist – anderswo – der Einsatz“: Voyage – la joie de voir de ses yeux, voilà – ailleurs – l‘enjeu!
Das letztgenannte Textbeispiel macht einerseits deutlich, dass es sich bei diesem Wortentfaltungsverfahren um eine spezifische Technik innersprachlicher Übersetzung handelt; anderseits wird klar, dass Texte dieser Art zwischensprachlich nicht adäquat übertragbar sind, weil ihre Aussage gegenüber ihrer Klanggestalt durchweg sekundär bleibt. Zu Leiris’ Glossaren kann es nur dann eine fremdsprachige Entsprechung geben, wenn sie nicht, wie üblich, nach dem Wörterbuch und also nach ihrer Bedeutung übersetzt, sondern in der Zielsprache neu angelegt, mit den gleichen Mitteln und Verfahren nachgebildet werden. Lediglich für die Themawörter ist der Übersetzer in der gewohnten Weise gefordert, während er deren klangliche Entfaltung selbständig – gleichsam als sein eigener Meister – im Medium der Zielsprache durchzuführen hat.
Der Vorgang sei am bereits erwähnten Themawort voyage kurz exemplifiziert. Dieses ist als einziges Element wörtlich zu übersetzen und in den deutschen Text zu übernehmen. Dort erscheint es unter dem Buchstaben R als „Reise“, und sämtliche Ableitungen und Ausarbeitungen müssen nun auf seine völlig anders geartete Lautgestalt bezogen werden. Die philologisch korrekte Übersetzung der französischen Vorlage wäre – siehe oben – insofern „falsch“, als sie weder Leiris’ Intention noch seinem Verfahren des poetischen Glossierens gerecht werden könnte. Im Deutschen bietet sich zu „Reise“ ein lückenloses und überschussfreies Anagramm an: Durch bloße Buchstabenversetzung sind aus „R-e-i-s-e“ die beiden Personalpronomina sie und er, aber auch das Substantiv Riese zu gewinnen. Weitere Permutationen, Extraktionen und Reduplikationen sowie die Hinzufügung des einen Konsonanten n ermöglichen die nahezu lautidentischen Wortbildungen „Riesenreh“ und „Eissirene“; der Buchstabe h ist hier, da er keine eigene lautliche Entsprechung hat, zu vernachlässigen.
Der zwischensprachliche Vermittler übernimmt hier die Funktion eines Übersetzer-Autors, ist also Übersetzer und Autor zugleich, wobei der von ihm verantwortete Text weit weniger als „Übersetzung“ denn als Original zu gelten hat und deshalb unter seinem Namen, mit seiner Signatur erscheinen sollte. Dieses Übersetzungs-Original wiederum hat – im Unterschied zu sonstigen Originaltexten wie auch zu gewöhnlichen Übersetzungen – die spezifische Eigenart, unabschließbar und beliebig variierbar zu sein. Als „Übersetzung“ gewinnt das deutsche Glossar seine Richtigkeit allein aus der konsequenten und innovativen Anwendung der von Leiris vorgeführten Wortbildungsverfahren. Voraussetzung für solche Richtigkeit ist, dass die gängigen, primär an der Textsemantik orientierten Übersetzungskriterien außer acht gelassen werden; richtig kann in diesem Fall – seltene Glücksfälle ausgenommen! – nur das sein, was in semantischer Hinsicht falsch ist.
Davon ausgenommen sind, wie schon erwähnt, die Themawörter, die Leiris für seine Glossare zusammengestellt hat und deren Auswahl, im Übrigen, keineswegs zufällig ist. Als Autor nimmt sich Leiris die Freiheit, auf solche Wörter zurückzugreifen, die für Lautentfaltungen, für Lettern- und Silbentausch besonders geeignet sind – eine Freiheit, die der Übersetzer-Autor nicht beanspruchen kann, da er die Themawörter in die Zielsprache übernehmen und sich auch dann daran abarbeiten muss, wenn sie kein entsprechendes Entfaltungspotential bergen. Eine Ausweichmöglichkeit hat er nur dort, wo ihm im Deutschen für ein unergiebiges oder schwer zu bearbeitendes Grundwort ein besser geeignetes Synonym zur Verfügung steht. Solches Gleiten auf der Bedeutungsebene bietet sich an, weil die Grundwörter kontextfrei vorgegeben und deshalb semantisch ohnehin ambivalent sind.
Für das französische Wort abandon stehen im Deutschen Äquivalente wie „Vernachlässigung“, „Aufgabe“, „Verzicht“, „Abtretung“, auch „Resignation“ zur Verfügung, und innerhalb dieses relativ weiten Bedeutungsfelds kann denn auch der zum Glossieren am besten geeignete Begriff gewählt werden. – Neben durchaus alltäglichem Wortmaterial (wie aveu, cil, joie, naissance, salon, week-end) gibt es bei Leiris – in „Souple mantique“ – auffallend viele Begriffe und Namen aus den Bereichen Erotik, Oper, Linguistik, Mythologie; eine Sondergruppe bilden die Sachwörter aus der Stierkampfszene (Corrida, Matador, Toro), sie belegen das besondere Interesse des Autors an der Tauromachie.
Die Verdeutschung des Glossars bringt diverse Schwierigkeiten mit sich und zwingt zu manchen Verzichtleistungen, weil gewisse phonetische Qualitäten des Französischen – so etwa die zahlreichen Nasal- und Schwa-Laute – im Deutschen fehlen oder jedenfalls eine weit geringere Rolle spielen. Nicht oder nur schwerlich sind solche Wörter umzusetzen, die spezifisch französische Realien benennen und im Deutschen, falls überhaupt, lediglich als Fremdwörter bekannt sind (boulevard, salon, vaudeville, aber auch: Fontainebleau). Von den zahlreichen französischen oder französisierten Orts- und Eigennamen können einige unverändert übernommen werden (Oradour, Pamina, Picasso, Roméo, Salomé u.a.m.), andere sind in angepasster deutscher Lautung („Olymp“ für Olympe, „Pluto“ für Pluton, „Saturn“ für Saturne) oder als eigenständige deutsche Bezeichnungen vorhanden (z.B. „Isolde“ für Yseut, „Schottland“ für Ecosse).1

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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