Franz Josef Czernin: Zu Reinhard Priessnitz’ Gedicht „heldin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Reinhard Priessnitz’ Gedicht „heldin“ aus dem Band Reinhard Priessnitz: vierundvierzig gedichte. –

 

 

 

 

REINHARD PRIESSNITZ

heldin

die matrix lau auf einmal, vögel lähmen
die dumpfe schreibhand, ihrer züge wellen
in lineare phasen vorzuquellen;
und übersät von efferenzsystemen
muss sie die regelung auf dumpfer stellen;
keine erhellung kann den krampf beschämen:
sie liegt vor selbstanwendbarkeitsproblemen,
und schwappt und schaukelt und die bilder schnellen.

war sie nicht selber vogel, zahm und lange,
abschwebend aufzufahren, sich zu strafen,
so nett zu sein im wiederholungszwange?
sie regt sich noch und ist doch eingeschlafen;
ein letztes mal, schwach, kaum im schwange,
drückt sie begriffsschiffs auf den mittelhafen.

 

Die Schreibhand

Zunächst bietet sich an, dieses Sonett so zu lesen: Etwas beschreibt und erklärt den krampf, die Lähmung und dann das Einschlafen und vielleicht das Ende von etwas anderem, nämlich einer bestimmten schreibhand.
Die erste Strophe beschreibt und erklärt, wie es zu dem krampf, der Lähmung kommt. Was die Lähmung verursacht, bricht plötzlich über die schreibhand herein (die matrix lau auf einmal), diese Hand muß reagieren (die regelung auf dumpfer stellen), aber sie hat offenbar keine Möglichkeit, das, was ihr geschieht, zu verstehen (keine erhellung kann den krampf beschämen). Womöglich deshalb (wie der Doppelpunkt nach dem Wort beschämen bedeuten könnte), weil sie vor selbstanwendbarkeitsproblemen liegt, die sie zu lösen versucht. Denn wenn sie selbst auch nur mehr schwappt und schaukelt, so schnellen doch die bilder, die sie sich vielleicht macht, um jene Probleme zu lösen.
Im ersten Terzett (war sie nicht selber vogel, zahm und lange, / abschwebend aufzufahren, sich zu strafen, / so nett zu sein im wiederholungszwange?) drückt das, was von der schreibhand erzählt, einen Zweifel oder etwas Fragliches an seiner Beschreibung oder Erklärung aus, etwas, was es als fragwürdig oder zweifelhaft empfindet. Und das zweite Terzett (die letzten drei Zeilen des Gedichts) nimmt die Beschreibung oder Erklärung wieder auf und führt sie zuende.
Liest man das Gedicht so, als Beschreibung oder Erklärung der Lähmung, des Endes eines bestimmten Schreibens beziehungsweise einer bestimmten schreibhand, dann liest man es als den Bericht über etwas, das gerade geschieht oder schon geschehen ist. Was dieser Bericht bedeutet, ob es überhaupt ein Bericht ist, und wenn ja, in welchem Sinn – diese Fragen lassen sich aber erst dann stellen, wenn man darauf achtet, wie in diesem Gedicht Sprache gebraucht wird und was dieser Sprachgebrauch enthält, was mit ihm anklingt, und was, im Gegenteil, durch ihn ausgeschlossen wird.

Liest man das ganze Gedicht zunächst als Beschreibung und Erklärung von etwas, das der schreibhand geschieht, dann muß man auch von den wissenschaftlichen Termini annehmen, daß sie deskriptiv gebraucht werden. Das vieldeutige Wort matrix könnte so auch in seiner linguistischen Bedeutung verstanden werden, als – ich zitiere aus einem linguistischen Wörterbuch – „schematische Darstellung von Einheiten nach ihren semantischen, syntaktischen, morphologischen, phonologischen oder phonetisch-artikularischen bzw. akustischen Eigenschaften“. Was dann auf einmal lau wäre, das wäre das sprachliche System selbst, vielleicht so etwas wie die ,langue‘ als Bedingung für die konkrete sprachliche Äußerung.
Diese Paraphrase läßt sich damit stützen, daß die lateinische Bedeutung von Matrix die Elemente ,Muttertier‘, ,Gebärmutter‘ sowie ,Quelle‘ und ,Ursache‘ enthält. Die Quelle oder auch die Ursache des Schreibens, der sprachlichen Äußerung, eben das Sprachsystem selbst, würde also plötzlich kraftlos; zum einen lauwarm, und damit auch, in einer üblichen übertragenen Bedeutung, unentschlossen, schwankend, zu keiner bestimmten Äußerung mehr fähig. Efferenzsysteme wiederum ist ein Begriff aus der Neurobiologie (,efferent‘: aus einem Organ herkommend); regelung klingt in diesem Zusammenhang wie ein Terminus aus der Kybernetik. Die linearen phasen lassen sowohl Linguistik als auch Astronomie, Physik und Chemie konnotieren.
Mit Hilfe der offenbar aus verschiedenen Wissenschaften stammenden Termini wird eine Beschreibung oder Erklärung für das angeboten, was geschieht, als die schreibhand plötzlich erstarrt. Die matrix (zum Beispiel: das System Sprache) ist lau, kann sich nicht mehr auf bestimmte Weise äußern, die efferenzsysteme übersäen die (ohnehin schon dumpfe) Hand mit viel zu vielen chaotischen, richtungslosen Impulsen und nehmen ihr das Ziel, den letzten Rest von Schärfe (sie muss die regelung auf dumpfer stellen), so daß sie nicht mehr in lineare phasen vorquellen kann.
Auffällig ist nun, daß die wissenschaftlichen Termini auf die ersten fünf Zeilen des Sonetts beschränkt sind. Diese Beschränkung ist eines der Anzeichen dafür, daß sich im Verlauf der Beschreibung oder Erklärung, die im ganzen Gedicht vielleicht versucht wird, etwas verändert. Zunächst, vor allem in jenen ersten fünf Zeilen, spricht einiges dafür, daß das, was geschieht, von einem unbeteiligten, distanzierten Erzähler beschrieben wird, der ein materielles Objekt beobachtet, nämlich eine Hand, die Schriftzeichen hervorbringt.
Gerade diese Distanz wird durch die wissenschaftlichen Termini bezeugt, die ihrerseits jene Distanz voraussetzen, nämlich eine möglichst strikte Trennung zwischen der Sprache der Beschreibung oder Erklärung und ihrem Gegenstand; eine Trennung, für die wiederum die Unbeteiligtheit dessen stehen kann, der jenen Gegenstand beschreibt oder erklärt.
Allerdings ist diese, sagen wir, wissenschaftliche Distanz zugleich auch zweifelhaft; nämlich dadurch, daß die Beschreibung oder Erklärung von Anfang an die wissenschaftlichen Termini eng mit anderen Wörtern koppelt, welche keineswegs wissenschaftlich sind: Die matrix ist lau, etwas ist von efferenzsystemen übersät usw. Die stark verallgemeinernden und in diesem Sinn abstrakten wissenschaftlichen Termini werden also mit solchen verbunden, die auf sinnliche Wahrnehmungen bezogen werden können. – Und spätestens ab der fünften Zeile wird deutlich, daß diese wissenschaftliche Distanz auch in einem anderen Sinn nicht konsequent eingehalten wird: daß nämlich das, was von der schreibhand berichtet, Zugang zu ihrem Bewußtsein hat oder wenigstens ihre Bewußtseinszustände interpretiert; also nicht nur wissenschaftlich beschreibt, sondern auch davon erzählt, was jene schreibende Hand erlebt. Denn wie sonst sollte das, was erzählt, wissen, daß die Hand etwas tut, was nicht beobachtbar ist (nämlich die regelung auf dumpfer stellt), und wie sonst sollte das, was erzählt, auch wissen, daß die Hand vor selbstanwendbarkeitsproblemen liegt, oder, daß die bilder schnellen. (Denn die Hand selbst schnellt hier ja nicht, sie schwappt und schaukelt nur mehr.)
Noch deutlicher wird dies mit dem Beginn der zweiten Strophe, mit der – vielleicht rhetorischen – Frage, aus der das erste Terzett des Sonetts besteht (war sie nicht selber vogel, zahm und lange, / abschwebend aufzufahren, sich zu strafen, / so nett zu sein im wiederholungszwange?): Denn diese Frage läßt sich nicht nur als Frage desjenigen an sich selbst verstehen, der von der schreibhand erzählt (als eine Art Selbstreflexion des Berichtenden), sondern auch als Darstellung einer Selbstreflexion der schreibhand inerpretieren. Diese Selbstreflexion könnte ja eines der bilder sein, die schnellen, oder auch, was die schnellenden Bilder für die schreibhand selbst zusammenfaßt. Dann wäre es also die schreibhand selbst, in der etwas vorgeht, was dieser Frage gleicht. (So könnte auch in einer Erzählung, die von inneren Vorgängen einer Figur berichtet, stehen: Hatte er es nicht immer geahnt? Und man wüßte, daß sich die Figur selbst das oder etwas ähnliches fragt, wüßte, daß dieser Satz für einen inneren Vorgang, für ein Erleben der Figur stehen soll.)
Doch die wissenschaftliche Distanz dessen, was über die schreibhand schreibt, wird nicht nur zweifelhaft durch die Koppelung der wissenschaftlichen Termini an unwissenschaftliche sowie durch den, wie es scheint, unmittelbaren Zugang des Beschreibenden zum Bewußtsein jener Hand und schließlich die Identifikation des Beschreibenden mit dem Beschriebenen, die sich in der (rhetorischen) Frage des ersten Terzetts zeigen könnte. Zu allererst wird diese Distanz wohl dadurch zweifelhaft, daß einer schreibenden Hand überhaupt Bewußtsein zugesprochen wird, also einem Gegenstand, der nach wissenschaftlichen Begriffen ja ein materieller ist beziehungsweise als etwas Materielles zu beschreiben wäre. Faßt man aber, wie naheliegt, die schreibhand als Übertragung auf, als uneigentliche Bezeichnung für das Ich, das schreibt, dann wird wissenschaftliche Distanz gerade um dieser figürlichen Redeweise willen fragwürdig.
Doch auch dann, wenn man sich an dem Vorkommen dieser rhetorischen Figur nicht stößt, werden die wissenschaftlichen Termini angesichts anderer Anzeichen des Verlusts von wissenschaftlicher Distanz um so zweifelhafter: Denn ob das Erleben eines Ich gerade mit Hilfe von Termini aus Linguistik, Neurobiologie, Physik, Chemie usw. beschrieben werden kann, ist nicht nur für das Alltagsverständnis, sondern auch wissenschaftstheoretisch gesehen äußerst zweifelhaft, jedenfalls seit langem Gegenstand philosophischer Diskussion.
Und diese Zweifelhaftigkeit setzt sich im letzten Terzett fort, auch wenn dort der Bericht über das, was der schreibhand geschieht, wieder aufgenommen wird und die Hand wieder von außen beschrieben zu werden scheint: Man könnte die schlafende Hand, die sich noch ein wenig regt, beobachten. Kann man aber auch von den letzten beiden Zeilen ohne weiteres behaupten, daß da ein Geschehen beschrieben wird?
Jedenfalls geschieht nicht etwas, was ohne weiteres als beobachtbare Tatsache (und eben deshalb) wissenschaftlich beschreibbar wäre. Denn diese schlafende Hand scheint jetzt so etwas wie ein Passagier auf einem begriffsschiff zu sein, sie scheint in etwas Begrifflichem oder Ideellem gleichsam aufgehoben zu werden und zur Ruhe zu kommen. Und auch wenn man sich hier vorstellt, es werde von dem Erleben der Hand oder des Ich, das schreibt, berichtet, also auch dann, wenn man gar nicht annimmt, hier werde wissenschaftlich beschrieben, gerät man in Schwierigkeiten. Denn schließlich schläft diese Hand oder dieses Ich, und der Annahme, daß sich die Hand oder das Ich in einem traumartigen Zustand befindet, widerspricht wiederum die Bewegung in Begriffen, die deutlich Reflexion anklingen läßt.
Von welcher Art von Hand oder Ich wird hier also erzählt? In welchem Sinn des Wortes wäre eine begriffliche Hand ein begriffliches Ich, in welchem Sinn ist ein Begriff eine Tatsache oder auch etwas, das wesentlich dadurch bestimmt ist, daß es jemand erlebt?
Wenn man sich all dieser Zweifelhaftigkeiten bewußt ist, dann erscheint die Vorstellung, in diesem Gedicht würden die wissenschaftlichen Termini, aber auch die anderen für eine Beschreibung in Frage kommenden Wörter, deskriptiv gebraucht, nur als eine Möglichkeit, sie zu verstehen.

Wenn es so ist, daß die schreibhand, gegen den ersten Anschein, nicht nur einfach von außen, mit wissenschaftlicher Distanz beschrieben wird, sondern auch derart, daß interpretiert wird, was sie erlebt und (im ersten Terzett des Sonetts) reflektiert, außerdem (und im Widerspruch dazu) auch plausibel angenommen werden kann, daß das, was über die schreibhand schreibt, (im ersten Terzett des Sonetts) seine eigene Beschreibung selbst befragt oder reflektiert, und wenn schließlich am Ende des Gedichts die schreibhand selbst in einem Begrifflichen wie aufgehoben oder auch angekommen erscheint, dann spricht dies dafür, daß es in heldin nicht nur um die wissenschaftliche Beschreibung oder Erklärung der Lähmung oder des Endes der schreibhand geht, sondern auch um die Form dieser Art von Beschreibung oder Erklärung.
Setzt man ferner voraus, daß die Form des Gedichts, speziell jene des Sonetts, in ihrer Künstlichkeit und Willkürlichkeit, ebenfalls enthält, daß die Wörter, aus denen sie besteht, nicht nur gebraucht, sondern auch erwähnt werden, daß – um mit Roman Jakobson zu sprechen – die Aufmerksamkeit auch auf die Form der Nachricht gelenkt wird, und vergegenwärtigt man sich Priessnitz’ Auseinandersetzung mit den theoretischen Formen von Erkenntnis, mit den Wissenschaften und der Philosophie (ich komme auf diesen Punkt zurück), und erinnert man sich daran, daß in diesem Gedicht auf engem Raum Termini gebraucht werden, die nicht nur aus einer Wissenschaft, sondern aus verschiedenen Wissenschaften stammen (so als ob auch von Wissenschaftlichkeit selbst die Rede wäre), liegt diese Deutung um so näher.
Und noch etwas legt diese Deutung nahe: Wenn man annimmt, daß sich im Laufe des Gedichts herausstellt, daß das beschrieben wird, was die schreibhand erlebt, dann liegt eine bezeichnende Unklarheit darin, sich vorzustellen, daß die schreibhand erlebt, wie die matrix auf einmal lau ist oder von efferenzsystemen übersät. Denn ein Erleben, das sich in solchen wissenschaftlichen Termini begreift, ist dann zugleich auch etwas Vermitteltes, Resultat einer Reflexion, ja, ein Erleben, das stark mit einer Theorie über sich selbst vermischt ist. Und dafür, daß es sich tatsächlich um ein solches theorievermitteltes Erleben handelt, könnte sprechen, daß es eben um das Erleben einer schreibhand geht, also einer Hand, die gerade auch schreibt und damit wahrscheinlich Sinn, Bedeutungen, also Vermitteltes hervorbringt und dementsprechend auch die sprachliche Form seiner Selbst-Vermittlung erlebt.
Sieht man nun die Annahme, es werde in dem Gedicht nicht nur nach wissenschaftlichen Maßstäben beschrieben oder erklärt, sondern auch das Erleben beziehungsweise die Reflexion der schreibhand dargestellt, im Zusammenhang mit der Annahme, die Aufmerksamkeit werde auch auf die Form der Nachricht selbst gelenkt, also auf die Tatsache, daß hier wissenschaftliche Termini verwendet werden, dann könnte es auch das Erleben der möglichen Konsequenzen wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung beziehungsweise (im ersten Terzett) die Reflexion dieser möglichen Konsequenzen sein, welche selbst wenigstens eine Ursache für die Lähmung der schreibhand ist.
Die schreibhand würde dann auch deshalb gelähmt, weil sich die wissenschaftliche Beschreibung oder Erklärung für ihre Tätigkeit, vielleicht für ihr Dichten, als ernstzunehmende Möglichkeit aufdrängt. Unter dieser Voraussetzung würde im ersten Terzett des Sonetts (war sie nicht selber vogel, zahm und lange…) einer Lesart zufolge gezeigt, wie sich die schreibhand zu reflektieren zwingt, daß die mögliche, ja wahrscheinliche Angemessenheit wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung eine Ursache für ihre Lähmung ist. Und einer anderen Lesart zufolge würde in dieser Reflexion ebenfalls gezeigt, wie sich das, was über die schreibhand schreibt, bewußt wird beziehungsweise sich fragt, ob nicht deren Erleben der wahrscheinlichen Angemessenheit wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung eine Ursache für die Lähmung, das Ende der schreibhand sei.
Nimmt man aber an, daß das, was versucht, die schreibhand zu beschreiben, im ersten Terzett seinen eigenen Beschreibungsversuch reflektiert oder befragt, dann würde diese Befragung oder Reflexion eben suggerieren, daß das, was zu beschreiben oder zu erklären versucht, was der schreibhand zustößt, die wahrscheinliche Angemessenheit von Wissenschaften für eine Ursache der Lähmung der (dichtenden) schreibhand hält. Angesichts der sich aufdrängenden wissenschaftlichen Beschreibung oder Erklärung würde sich da etwas fragen, ob diese schreibhand, die Gedichte schreibt, ja, die sogar ein Sonett ist (… so nett zu sein…), nicht gerade insofern eine Art Tick hat (indem sie ein Sonett dichtet und damit einer speziellen Form von wiederholungszwang unterliegt; und auch, indem sie sich auf widersinnige Weise und für lange Zeit als zahmer vogel erweist), der notwendig zum krampf und zur Lähmung führt.
Es mag auch in diesen Zusammenhang gehören, daß die Wörter vögel und vogel sich in diesem Gedicht nicht nur traditionell-poetisch oder symbolisch verstehen lassen, also etwa als Totenvögel (ich komme auf diese Bedeutung zurück), sondern auch als Verrücktheit, Wahn oder Narretei. Umgangssprachlich ausgedrückt hat man ,einen Vogel‘, wenn man etwas Unvernünftiges tut – zum Beispiel, wenn man Sonette schreibt.

Die wissenschaftliche Beschreibung oder Erklärung, ob man nun auf das sieht, was sie beschreibt oder erklärt, oder auf die Tatsache, daß sie es tun kann, macht nur einen Teil der ersten Strophe des Gedichts aus. Denn diese Strophe besteht auch aus einem Vokabular (vögel, wellen, übersät, -quellen), das geradezu ostentativ poetisch ist, nämlich poetisch in einem konventionellen Sinn des Wortes.
Gemäß der zunächst sich anbietenden Lesart liegt es auch hier nahe anzunehmen, daß diese poetischen Wörter einfach deskriptiv gebraucht werden, auch sie könnten beschreiben oder erklären, wie es zu der plötzlichen Lähmung der schreibhand kommt. Allerdings stammen diese Wörter dann aus einer Form der Beschreibung oder Erklärung, die zu jener der Wissenschaften geradezu im Widerspruch steht. Die vögel könnten so etwas wie Totenvögel sein, Wesen, welche die Lähmung der schreibhand in einem magischen Sinn verursachen oder ihr Ende vorbedeuten. Doch der Begriff der Ursache, der damit in Anspruch genommen würde, wäre ganz anders geartet als jener der Kausalität in den (Natur)Wissenschaften.
Die Wörter wellen und vorzuquellen, selbst befrachtbar mit all dem Symbolischen, das mit dem Bild des Wassers einhergeht, aktivieren eine der lateinischen (und nicht-wissenschaftlichen) Bedeutungen von matrix, nämlich ,Quelle‘. Diese Quelle würde lau (sie ist nicht mehr frisch), und das Wasser fließt vielleicht nicht mehr in eine bestimmbare Richtung. Die Quelle ist also eigentlich keine Quelle mehr, sondern sie ist Wasser, das überhand nimmt, tiefes, laues Wasser vielleicht, in dem die schreibhand (in ihrem krampf) nur mehr schwappt und schaukelt. Dieses Wasser ist jetzt etwas, in dem das vernünftige, zielgerichtete Denken und Schreiben (lineare phasen) durch eine Art von negativem ozeanischem Gefühl unmöglich gemacht wird.
Wenn nun auch dieses ostentativ-poetische Vokabular nicht so wie das wissenschaftliche vor allem auf die ersten fünf Zeilen beschränkt ist, sondern sich durch das ganze Gedicht zieht und gerade in der letzten Zeile mit -schiffs und –hafen das Ende mitbezeichnet, so ändert sich doch auch seine Funktion im Laufe des Gedichts in dem Sinn, in dem sich die Funktion der Beschreibung im Gedicht überhaupt verändert.
In der ersten Strophe gibt es, so wie es wissenschaftlich beschreibbare Ursachen dafür zu geben scheint, warum die schreibhand zu schreiben aufhören muß, sozusagen magische oder poetisch-mythische Ursachen. Da sind die vögel, welche die schreibhand lähmen, und da ist auch die matrix, sei sie nun als ,Quelle‘, ,Muttertier‘ oder ,Gebärmutter‘ verstanden. Doch genauso wie jene wissenschaftliche Beschreibung in eine Beschreibung oder Evocation der Selbstreflexion der schreibhand mündet oder in eine Reflexion, die von dem vollzogen wird, was über die schreibhand schreibt, so auch die, sagen wir, poetische Beschreibung.
Was die beschriebene Hand, die schreibhand, angeht: die vögel werden zum vogel, der die schreibhand für sich selbst – versteht man die Frage des ersten Terzetts als rhetorisch – ist (so als ob die schreibhand sich selbst als das entdeckte, was den Schlaf, vielleicht den Tod bringt) oder der sie für sich selbst sein könnte – versteht man die Frage tatsächlich als Frage. Und was das angeht, was über die schreibhand schreibt: die vögel werden zum vogel, welche die beschriebene Hand selbst sein könnte (so daß sie sich selbst lähmt, zum enden bringt) oder welchen sie haben könnte.
Nimmt man aber wiederum an, daß das, was versucht, die schreibhand zu beschreiben, im ersten Terzett seinen eigenen Beschreibungsversuch reflektiert oder befragt, dann würde diese Befragung oder Reflexion suggerieren, daß das, was zu beschreiben oder zu erklären versucht, was der schreibhand zustößt, jetzt nicht mehr an die magisch-poetische Ursache für den krampf, die Lähmung der schreibhand glaubt, die sie selbst in der ersten Strophe in Anspruch genommen hat. (In allen diesen Fällen wird zugleich mit der symbolischen Bedeutung (Totenvogel) auch die idiomatische Bedeutung von vogel hörbarer: eine mythisch-poetische Ursache für die Lähmung anzunehmen, bedeutet dann eben einfach, einen vogel zu haben.)
Jedenfalls suggeriert das erste Terzett, daß die Ursachen für die Lähmung der schreibhand nicht mehr jenseits der Hand oder des Ich zu suchen sind, das schreibt, in womöglich bedrohlichen Vögeln, einer versiegenden Quelle oder einer, vielleicht unfruchtbaren, Gebärmutter, sondern in ihr selbst oder in ihrer Tätigkeit.
Und wenn ich vorher behauptet habe, daß in den letzten beiden Zeilen etwas geschieht, das nicht ohne weiteres als Tatsache (und eben deshalb) auch nicht ohne weiteres wissenschaftlich beschreibbar wäre, dann gilt hier etwas Vergleichbares. Die vögel, womöglich die Totenvögel, sind vielleicht noch von außen gekommen; die matrix, als ,Quelle‘, ,Muttertier‘ oder ,Gebärmutter‘ verstanden, ist wahrscheinlich etwas, das man jenseits der Hand, die schreibt, oder des Ich, das schreibt, lokalisieren kann. Was der Hand (oder dem Ich) aber am Ende des Gedichts eigentlich geschieht, ob ihr (oder ihm) überhaupt etwas geschieht, und wenn es geschieht, wo und wann es dann geschieht (in welcher Art von Zeitraum), darüber läßt sich jedoch nichts Deutliches sagen. Wiederum ist nicht einmal klar, ob, und wenn ja, in welchem Sinn die schreibhand dieses Zur-Ruhe-Kommen in dem mittelhafen erlebt. Wieder scheint es so, als ob die einzelne schreibhand in einem Allgemeinen, Begrifflichen aufgehoben oder enden würde. Und zugleich scheint jetzt auch angedeutet, es sei die Fragwürdigkeit der magisch-poetischen Erklärung, die dazu führt, daß die schreibhand in ihren eigenen Mitteln endet.

Aber auch hier kann das behauptet werden, was für die wissenschaftlichen Termini behauptet worden ist: Dieses ostentativ-poetische Vokabular bezeichnet nicht nur, sondern die Aufmerksamkeit wird auch darauf gerichtet, daß es gebraucht wird. Und für diesen sozusagen Jakobsonschen Blick auf die Form der Nachricht spricht nicht nur wiederum die kunstvoll-komplexe Form des Sonetts oder der so auffällige Kontrast zwischen wissenschaftlichen Termini und konventionellem poetischen Vokabular (und das Ostentative dieses Vokabulars), sondern auch, daß Priessnitz für eine ganze Reihe der vierundvierzig gedichte ein jeweils eigenes Vokabular entwickelt, daß er, mit anderen Worten, die lexikalische Ebene seiner Gedichte reflektiert und kein Wort, einfach selbstverständlich oder blindlings gebraucht, um eine Sache zu bezeichnen.
Und nicht nur im Kontrast zu den wissenschaftlichen Termini könnte sich die Konventionalität, das Ostentativ-Poetische jener Wörter einem Jakobsonschen Blick darbieten, sondern auch in der traditionellen poetischen Feierlichkeit, die in diesem Gedicht hörbar wird: Sowohl das im heutigen Deutsch nicht mehr übliche Dativ-E (wiederholungszwange) als auch die unüblich gewordene und leicht altertümliche Redewendung im schwange sein lassen die Mittel dieser Poesie in den Vordergrund treten und schließlich auch die womöglich rhetorische Frage, mit der die letzten sechs Zeilen, die beiden Terzette des Sonetts, beginnen.
Es könnte also sein, daß nicht nur das Erleben der wahrscheinlichen Angemessenheit wissenschaftlicher Erklärung oder Beschreibung für ihre Tätigkeit eine Ursache für die Lähmung der schreibhand ist, eine solche Ursache könnte auch darin liegen, daß die schreibhand erlebt und begreift, wie konventionell- oder ostentativ-poetisch das Vokabular und wie obskur das damit verbundene magische oder mythologisierende, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus anachronistische Weltbild ist (vögel lähmen…), in dem oder durch das sie ihren Zustand zu begreifen sucht.
Genauso wie dem, was über die schreibhand schreibt, jetzt auffallen könnte, daß nicht nur das Erleben der wahrscheinlichen Angemessenheit wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung die Lähmung oder das Ende der schreibhand mitverursachen könnte, sondern auch das Erleben der Konventionalität und des Ostentativ-Poetischen ihres Vokabulars beziehungsweise des Atavistischen oder des Regressiven ihrer poetischen Weltauffassung (in der oder durch die sich die schreibhand ja auch selbst zu begreifen sucht).
Zugleich könnte diese angesichts der wahrscheinlichen Angemessenheit wissenschaftlicher Erklärung und Beschreibung entstehende Skepsis bezüglich der Angemessenheit des poetisch-magischen Erklärungsmodells auch auf das übergehen, was über die schreibhand schreibt. Es könnte somit auch das sein, was über die schreibhand schreibt, was sich im ersten Terzett diesbezüglich selbst befragt. Auch diesem Schreibenden könnte das unzeitgemäß Poetische oder das Mythische oder Magische seiner eigenen Beschreibung dessen, was der schreibhand geschieht, fragwürdig werden. Es könnte sein, daß das, was über die schreibhand schreibt, seine eigene Beschreibung in dieser Frage gleichsam zurücknimmt und die Ursache für die Lähmung der schreibhand jetzt nur mehr in deren negativ, nämlich als Wiederholungszwang, zu bewertenden dichterischen Tätigkeit sieht.
Sowohl das Bewußtwerden der Möglichkeit, sich ihr Schreiben, nämlich ihr Dichten wissenschaftlich angemessen zu beschreiben oder zu erklären, könnte also die schreibhand lähmen, als auch die wahrscheinliche Unangemessenheit der (als solche so deutlich gemachten) poetischen Form der Beschreibung oder Erklärung. Und beide Momente (die einander ergänzen) könnten auch das, was über die schreibhand schreibt, zu jener Reflexion bringen, die es im ersten Terzett vollzieht, um dann wieder die (aus schon skizzierten Gründen) so zweifelhafte Beschreibung der eingeschlafenen und im Hafen ihrer Mittel endenden schreibhand aufzunehmen.
Und diesmal wäre im Zusammenhang mit der Frage, aus der das erste Terzett besteht, mit diesem seltsamen Übergehen oder Zurückkehren der schreibhand in den Hafen ihrer Mittel auch angedeutet: Es ist das Erleben der Fragwürdigkeit und Zweifelhaftigkeit des Verhältnisses zwischen poetischen Mitteln, poetischer Darstellung und dem Darzustellenden, welche die schreibhand in ihren eigenen Mitteln enden läßt. Und die schreibhand oder auch das, was über sie schreibt, sähen sich zur skeptischen Rekapitulation einer Beschreibung oder Erklärung veranlaßt, die insofern ihrerseits fragwürdig wird, als nicht mehr klar ist, auf welche Art von Wirklichkeit, wenn überhaupt auf eine, Bezug genommen werden soll.
Und wenn man sich alle diese Zweifelhaftigkeiten vor Augen führt, dann erscheint die Vorstellung, in diesem Gedicht würden die so ostentativ-poetischen Termini, aber auch die anderen für eine Beschreibung in Frage kommenden Wörter, deskriptiv gebraucht, nur als eine Möglichkeit, sie zu verstehen.

Ich komme jetzt zu der Annahme zurück, daß die wissenschaftlichen Termini auch deskriptiv gebraucht werden; und ich nehme außerdem an: Was mit Hilfe der wissenschaftlichen Termini beschrieben oder erklärt wird, wird tatsächlich als eine Ursache dafür begreifbar, daß die schreibhand Schreibschwierigkeiten bekommt, einen krampf erleidet (der vielleicht unerhellbar ist oder wenigstens durch keine erhellung entkräftet werden kann) und schließlich einschläft oder endet. Dies setzt aber auch voraus, daß die Beschreibung oder Erklärung durch die Wissenschaften (von dem, was von dem Verenden der schreibhand erzählt, oder von der schreibhand selbst) als richtige Wiedergabe angesehen wird.
Spricht aber nicht manches dafür, daß hier zu Unrecht angenommen wird, die Lähmung der schreibhand werde durch wissenschaftliche Erklärung angemessen wiedergegeben? Ist es so, daß die Wissenschaft oder der mit ihr so häufig und selbstverständlich verbundene Wahrheitsanspruch in diesem Gedicht in dem Sinn überzeugt, daß sich die wissenschaftliche Beschreibung oder Erklärung zweifelsfrei als angemessen herausstellt?
Eine Hand, die schreibt, erleidet einen krampf, wird lahm, schläft dann, nach einer letzten Selbstbefragung (einem letzten schwachen Aufbäumen gewissermaßen), ein. Die damit verbundenen Empfindungen wären etwas Unmittelbares oder Konkretes. Vor dem Hintergrund dieser Empfindungen, die durchaus alltäglich sein könnten (vielleicht hat diese schreibhand einfach zu viel geschrieben; womöglich zu viele Sonette), wird die üblicherweise vorausgesetzte deskriptive Nüchternheit und Ökonomie und damit auch der Wahrheitsanspruch wissenschaftlichen Sprachgebrauchs unversehens zweifelhaft.
Die wissenschaftliche Terminologie erhält dann etwas unangemessen Bombastisches, sie trumpft prunkvoll auf, sie zeigt sich als komplexe Abstraktion aus jenen Empfindungen, die prätentiös und geradezu komisch wirkt. Das Künstliche dieser wissenschaftlichen Termini und ihre Esoterik, die sich auch darin bezeugt, daß man, um sie zu verstehen, des Spezialwissens und der Beherrschung von Fachsprachen bedarf – wer weiß schon, ohne in einem Lexikon nachzusehen, was das Wort efferenzsysteme bedeutet? –, werden besonders deutlich (und eben einigermaßen lächerlich oder komisch) durch das hier unterstellbare Unmittelbare, die Empfindungen selbst, die (auch) wissenschaftlich erklärt oder beschrieben werden sollen.
Hier muß man an die Unklarheit erinnern, die darin liegt, daß die schreibhand erleben soll, wie die matrix auf einmal lau ist oder von efferenzsystemen übersät; nämlich daran, daß ein Erleben, das sich in solchen wissenschaftlichen Termini begreift, zugleich auch etwas ist, das stark mit einer Theorie über sich selbst vermischt ist. Wenn die Selbstvermittlung der schreibhand in wissenschaftlichen Termini insofern, in Verdacht geraten kann, unangemessen zu sein, als in ihr die Widersprüchlichkeit zwischen Erleben und wissenschaftlicher Abstraktion deutlich wird, so kann es die jene Termini gebrauchende Vermittlung ihres Erlebens durch das, was über die schreibhand schreibt, insofern, als dieses das, was es zum einen konkret und bildhaft beschreibt, zugleich auch durch wissenschaftliche Abstraktion zu beschreiben oder erklären versucht.
So gesehen bedeutet die wissenschaftliche Erklärung nur scheinbar Nüchternheit und Wahrheit. Die schreibhand, die als etwas beschrieben wird, das versucht, sich das Erleben ihres Krampfes oder ihrer Lähmung mit Hilfe von Wissenschaften zu vermitteln, könnte bemerken, daß dieser Versuch, gegen ihre Empfindungen selbst gehalten, mißlingt. Genauso wie auch das, von dem die schreibhand beschrieben wird, während und durch seinen Versuch zu beschreiben, entdecken könnte, daß der krampf, die Lähmung und das Ende der schreibhand mit Hilfe wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung nicht angemessen wiedergegeben werden können. (Keine erhellung, auch keine wissenschaftliche, kann diesen krampf beschämen.)
Der gleichsam Jakobsonsche Blick auf die (wisssenschaftliche) Form, in der jene Empfindung der Müdigkeit, der Lähmung, des Verendens auch erklärt und beschrieben werden soll, könnte jetzt nicht nur dazu führen, daß die schreibhand oder das, was über sie schreibt, eingedenk der wahrscheinlichen Angemessenheit wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung für ihre Tätigkeit, also für ihr Dichten, kapituliert, sondern dieser Blick kann jetzt (und im Widerspruch zur oben skizzierten Deutung) die Unangemessenheit der Wissenschaft oder ihrer Terminologie nahe- oder bloßlegen.
heldin kann also auch so gelesen werden, als würden die wissenschaftlichen Termini gerade dann ihre Unangemessenheit preisgeben beziehungsweise ihre Unbrauchbarkeit, wenn es darum geht, elementare (und vielleicht auch alltägliche) Empfindungen (den krampf, die Lähmung) der Hand oder auch das Erleben eines Bewußtseins (etwa das der schreibhand) wiederzugeben.
Nimmt man aber im Widerspruch dazu an, die Vorstellung, ihr Dichten könne angemessen wissenschaftlich erklärt oder beschrieben werden, würde von der schreibhand selbst als eine Ursache für ihren krampf, ihre Lähmung, für ihr Ende erlebt: Dann würde, was der Hand geschieht, durch einen Begriff von Wissenschaft und damit durch einen Begriff einer solchen Beschreibung und Erklärung des Geschehens mithervorgerufen, und von der Wahrheit einer Wiedergabe im Sinn der Wissenschaften könnte abermals kaum die Rede sein, Denn dann wäre die Lähmung auch eine Folge einer bestimmten Vorstellung von den Möglichkeiten der Wissenschaften, also so etwas wie eine self-fullfilling-prophecy.
Und man könnte dann unterstellen, daß eine Hand beschrieben wird, welche die Wissenschaften oder Wissenschaftlichkeit insofern mißversteht, als sie wissenschaftliche Beschreibung und ihr eigenes Erleben miteinander vermischt; daß sie einem unreflektierten Reduktionismus anheimfällt, indem sie glaubt, ihr Erleben mit dem, was eine Wissenschaft erklärt oder beschreibt, identifizieren zu können, oder einer unreflektierten Erweiterung dessen, was Wissenschaft leisten kann, indem sie glaubt, die wissenschaftliche Beschreibung mit ihrem eigenen Erleben identifizieren zu können. (Doch im ersten Terzett würde ihr das selbst fragwürdig oder zweifelhaft erscheinen.)
Und dementsprechend könnte auch das, was über die schreibhand schreibt, im ersten Terzett entweder bemerken und reflektieren, wie die schreibhand Wissenschaftlichkeit oder die Wissenschaften mißversteht, oder erkennen, daß es seinerseits der Vorstellung der Angemessenheit wissenschaftlicher Wiedergabe verfallen war, daß aber seine Beschreibung oder Erklärung womöglich nicht angemessen ist. (Was es aber dann im ersten Terzett erkennen würde, so daß es seine Erklärung wieder zurücknähme oder wenigstens in Zweifel zöge.) Es paßt also dazu, daß im ersten Terzett das, was in den ersten acht Zeilen vom Zustand der schreibhand behauptet worden ist, reflektiert wird, indem die schreibhand (von sich selbst oder von dem, was von ihr erzählt) retrospektiv als vogel und zugleich als Ursache der zu beschreibenden Lähmung identifiziert wird.
In diesen Zusammenhang gehört auch, daß das wissenschaftliche Vokabular auf die ersten fünf Zeilen des Sonetts beschränkt ist. Auch hier ist diese Beschränkung eines der Anzeichen dafür, daß sich im Verlauf dieser Beschreibung oder Erklärung etwas verändert. Es zeigt sich eben nach und nach, daß das wissenschaftliche Vokabular oder die wissenschaftliche Methode (die auch durch den unmittelbaren Zugang dessen, was beschreibt, zu dem, was beschrieben wird, zweifelhaft wird) womöglich insofern nicht geeignet dafür sind, die Lähmung, den krampf der schreibhand angemessen zu beschreiben oder zu erklären, als sie selbst eine Ursache für den krampf oder die Lähmung sein könnten. So daß sich dieser Versuch, als Beschreibung oder Erklärung verstanden, gerade zufolge der allgemein üblichen Kriterien für Wissenschaftlichkeit nach und nach als mißverständlich herausstellt.
Genauso könnte jetzt die identifikatorische Anteilnahme dessen, was beschreibt, mit dem, was es beschreibt, die mit der womöglich rhetorischen Frage des ersten Terzetts nahegelegt wird, dafür sprechen, daß die Wissenschaft hier als ihren Gegenstand mitverursachend und deshalb gar nicht als die angemessene Form der Beschreibung angesehen werden kann; und dann könnte dafür auch sprechen, daß das Wissenschaftliche zuletzt, im zweiten Terzett, dem Allgemeineren der Reflexion weicht (begriffsschiffs, mittelhafen), in der das Problem der Beschreibung des Endes der Hand erkannt werden kann, wenn auch dieses Problem damit nicht gelöst wird oder nur, in einem zweifelhaften, ja paradoxen Sinn des Wortes ,Lösung‘.
Und es mag auch mit diesen Zweifeln an der Wahrheitsfähigkeit wissenschaftlicher Beschreibung oder Erklärung zu tun haben, daß die wissenschaftlichen Termini nicht für sich allein in diesem Gedicht vorkommen, sondern auch unmittelbar mit anderen, unwissenschaftlichen, von möglichen wissenschaftlichen Theorien aus gesehen, metaphorischen oder poetischen Termini gekoppelt werden: die matrix ist lau, etwas wird von efferenzsystemen übersät, etwas quillt in lineare phasen vor. Und schließlich könnte auf diese Zweifelhaftigkeit hindeuten, daß dem Wort matrix selbst sowohl symbolisch-poetische als auch wissenschaftliche Bedeutung zugesprochen werden kann. (Wie wenn gerade diese Verbindung von Poesie und Wissenschaft in einem einzigen Wort auch auf die Wissenschaft als Mythos deuten würde.)

Hier ist an Priessnitz’ intensive Rezeption des Empirismus des Wiener Kreises zu erinnern, aber auch der späten Philosophie Wittgensteins. Der Empirismus, vor allem in seiner modernen Ausprägung als Wissenschaftstheorie, präzisiert einerseits die Bedingungen für Beobachtung beziehungsweise Experiment und analysiert und konstruiert andererseits die Sprache, in der diese Beobachtungen wiedergegeben werden sollen, die logische Sprache von Theorien.
Diese doppelte Arbeit legt die Ansicht nahe, daß, wenn eine Sprache mit Recht veristisch genannt werden kann, dann die der Wissenschaft. Die naturwissenschaftlichen Modelle werden als eine Art Beweis dafür aufgefaßt, daß man wiedergeben kann: Die Dinge verhalten sich so, wie sie in nicht-falsifizierten naturwissenschaftlichen Theorien beschrieben werden. Denn mit Hilfe dieser Theorien kann man das Verhalten der Dinge richtig vorhersagen oder auch steuern. Insofern lösen erfolgreiche naturwissenschaftliche Theorien das Problem der Wiedergabe.
Am Verismus der Wissenschaften gemessen scheinen die realistischen Ansprüche von Literatur, wie sie etwa durch den Gebrauch von wissenschaftlichen Termini signalisiert werden können, milde gesagt, verwegen zu sein. Und auch der Hinweis darauf, daß jene Wirklichkeit, die Literatur wiederzugeben beansprucht, nicht diejenige der Wissenschaften sei, hilft da insofern wenig, als die Literatur – nach dem Maßstab von Theorie – nirgends eine deutliche Unterscheidung zwischen ihrer Grammatik, ihrem Sprachgebrauch und dessen Anwendung erlaubt. Damit, daß man wissenschaftliche Termini in einem Gedicht gebraucht, ist keineswegs per se Wiedergabe und damit Erkenntnis eines von jenem Gedicht unabhängigen Gegenstands gewonnen. Wissenschaftliches Vokabular in Gedichten produziert also womöglich nur den Gestus von Wahrheit oder Wiedergabe, nicht aber Wahrheit oder Wiedergabe selbst. Wissenschaftliches Vokabular in Gedichten hätte somit jenem traditionell-poetischen Vokabular, aus dem das Gedicht heldin ja auch besteht, nichts voraus.
Doch die Voraussetzung für diesen Begriff von Wissenschaft und Dichtung ist, daß die Wissenschaften selbst Wahrheit oder Wiedergabe ermöglichen, daß sie tatsächlich der Beweis für erfolgreichen Verismus sind.
Die späte Philosophie Wittgensteins kann man aber als radikale Kritik an dieser Voraussetzung und damit am Unternehmen Naturwissenschaft lesen beziehungsweise am philosophischen Empirismus, der mit diesem Unternehmen so eng verknüpft ist. Sie ist dann eine Kritik, welche die Wirklichkeit, die durch die Naturwissenschaften wiedergegeben werden soll, wiederum zum Schatten von deren Sprachgebrauch macht, zum Schatten ihrer Grammatik. So als ob es nicht nur in der Literatur keine Möglichkeit gäbe, hinreichend zwischen Sprachgebrauch und seiner Anwendung als Instrument von Wiedergabe zu unterscheiden, sondern auch in den Naturwissenschaften nicht. Wissenschaftliche Theorien werden jetzt zu Sprachspielen unter anderen, sie werden, genauso wie die Literatur, zu einer Form von sekundärem Sprachgebrauch.
Und eben vor diesem Hintergrund läßt sich Wissenschaft auf ihre Terminologie zurückführen, durch ihre Terminologie zitieren, auch durch ihre Terminologie charakterisieren (so wie es in heldin geschieht), ohne daß man sich dabei wehrlos dem Einwand aussetzte, reflektierte, zitierte wissenschaftliche Terminologie, als Erinnerung an die Grammatik der Wissenschaften innerhalb von Dichtung, werde schon von vornherein den einzelnen Wissenschaften selbst nicht gerecht.
Von diesem Punkt der Reflexion aus lassen sich Literatur und Wissenschaft tatsächlich in einen einzigen Topf oder wenigstens in vergleichbare Töpfe werfen, und auch das beleuchtet das Gedicht heldin auf bezeichnende Weise. Poesie und Wissenschaft kommen da in einem Gedicht zusammen. Aber das wird nicht Anlaß zu einer Umarmung, zur Evokation einer Hochzeit zwischen wissenschaftlichem und poetischem Sprachgebrauch, die so etwas wie universale Erkenntnis garantierte (einer Hochzeit, wie sie noch in den Fragmenten der Frühromantiker, insbesonders von Novalis, vorschwebt). Eher kommen da zwei Erkenntnismodelle zusammen, die wechselseitig ihr Scheitern beleuchten.
Denn wenn angesichts der Lähmung, des Krampfes und der Müdigkeit der schreibhand Wissenschaft und die mit ihr verbundene, angebliche Ernüchterung und Wahrheit in diesem Gedicht in Zweifel gezogen werden, ihre Terminologie bombastisch und prunkvoll erscheint, dann gilt hier dasselbe auch für den Gebrauch traditionell-poetischer Wörter und für eine so traditionelle und zugleich künstliche Form wie die des Sonetts.
Das Sonett, das in der traditionellen Hierarchie poetischer Formen eine besonders hohe Stelle einnimmt, das sowohl auf der Ebene des Reims als auch auf semantischer Ebene zur Formalisierung der Regeln seiner Generierung veranlaßt (wie die Geschichte des Sonetts beweist) und das zugleich nach großen oder erhabenen Gegenständen verlangt oder wenigstens an sie erinnert, wäre von vornherein also das denkbar ungeeignetste Mittel, um nichts anderes zu beschreiben oder zu erklären als die Unfähigkeit einer schreibhand weiterzuschreiben.
Das Sonett, das etwa bei Dante und Petrarca, später auch bei Shakespeare die Geliebte oder die Liebe zur Heldin hat (mit all den platonischen Implikationen dieses Heldentums), in John Donnes Holy Sonnets das Religiöse, so wie es auch bei Andreas Gryphius Medium einer umfassenden Evokation und Reflexion des Lebens unter dem Vorzeichen christlicher Metaphysik und Theologie ist, wird hier dazu gebraucht, die Lähmung, den krampf, das Einschlafen einer Hand zu beschreiben, so als ob dieser ganze prachtvolle poetische Apparat und auch diese ganze großartige Tradition vor dieser unmittelbaren und armseligen Tatsache nicht leerlaufen müßte.
Man kann also auch so lesen, als sollte mit diesem Sonett gezeigt werden, wie alle diese großen Gegenstände gleichsam auf ihren materiellen Nenner gebracht werden – auf das, was einer schreibenden Hand geschieht oder einem Ich, das immerhin in Verdacht gerät, nur etwas Unmittelbares zu sein. Auch in diesem Bild des Gedichts mag die schreibhand oder, allgemeiner, der Gegenstand des Gedichts eine heldin sein, aber er wäre eine solche nur in einem zweifelhaften oder ironischen Sinn. Gerade das zeigt sich, wenn man diesen Gegenstand vor dem Hintergrund der Tradition des Sonetts sieht, ihrer großen Gegenstände und der Art ihrer Behandlung.

Ich rekapituliere: Beide Formen von Sprachgebrauch, der traditionell poetische und der wissenschaftliche, werden gleichermaßen auf das Spiel des Gedichts gesetzt, auf ein Spiel, das dann verloren ist, wenn man annimmt, es sei (aus welchen der skizzierten Gründe auch immer) unangemessen, nämlich, es könne den krampf und die Lähmung, das Ende der schreibhand nicht beschreiben oder erklären: keine erhellung kann den krampf beschämen. Das, was von der erstarrenden schreibhand erzählt, scheitert womöglich daran, das, was der schreibhand geschieht, wiederzugeben.
Und vielleicht läßt das auch den Schluß zu, daß die schreibhand, in ihrem Versuch, sich selbst zu begreifen, weder das, was wissenschaftlich erklärt oder beschrieben wird, noch das, was die traditionell poetische Darstellungsweise vermitteln soll, auf sich selbst, auf ihren Zustand (unzweifelhaft) anwenden kann, obwohl sie womöglich gerade das in ihrem eigenen Schreiben versucht.
Das, was die schreibhand schreibend erlebt, um sich ihren Zustand zu erklären, wird jetzt als Bild für ihren Zustand, für ihre Empfindungen genauso fragwürdig wie das, was über sie geschrieben wird. Was für das, was über die schreibhand schreibt, Anwendungsprobleme sind, sind für sie, die schreibhand, die selbstanwendbarkeitsprobleme; Probleme, die, wie das Gedicht selbst erzählen könnte, durch das Schreiben, durch all den Aufwand an Poesie und Wissenschaft nicht nur nicht gelöst werden können, sondern (zufolge einer der skizzierten Deutungen) womöglich gerade erst hervorgerufen werden.
Und es ist da nur folgerichtig, daß zum einen nahegelegt wird, die schreibhand erscheine (sich) im zweiten Teil des Gedichts retrospektiv (sich erinnernd, in schnellenden bildern) als ihr eigener vogel (sei es als ihre eigene Verrücktheit oder als ihr eigener Totenvogel), als etwas, das sich widersinnigerweise zum Schreiben gezwungen hat, sei es zur Dichtung (und zu dieser speziellen Form: so nett zu sein) oder sei es zur Wissenschaft, ja vielleicht überhaupt zu sprachlicher Äußerung. Und es ist da ebenso folgerichtig, daß zum anderen nahegelegt wird, daß das, was über die schreibhand schreibt, im ersten Terzett seine eigene Darstellung befragt, bezweifelt oder reflektiert und damit sowohl seine poetisch-magische Form als auch seine wissenschaftliche.
(Das Wort selbstanwendbarkeitsprobleme übrigens, das vier der fünf Hebungen seiner Zeile verbraucht, ist ein wahres Wortungeheuer, wie es vielleicht nur im Deutschen möglich ist; es ist in seiner Sperrigkeit, in seiner papierenen Monströsität noch mehr als das Wort efferenzsysteme selbst ein Teil des Problems, von dem es spricht, nämlich der Diskrepanz zwischen dem Zustand und seiner Beschreibung, zwischen Empfindung und Sprache.)

Unabhängig davon, ob man das scheiternde Selbst-Erklären der schreibhand als das versteht, was ihr Ende mithervorruft, oder ob man annimmt, die Beschreibung dessen, was über die schreibhand schreibt, sei das, was scheitert: Die Diskrepanz zwischen der Beschreibung oder Erklärung und dem, was das zu Beschreibende oder zu Erklärende sein soll, würde eben dadurch deutlich, wie in diesem Gedicht der krampf, die Lähmung, das Ende der schreibhand vermittelt werden soll.
Doch nicht nur das Bombastische und komisch Aufgedonnerte der wissenschaftlichen Terminologie und das traditionell-Symbolische, das Prunkvolle und Feierliche des poetischen Sprachgebrauchs offenbaren etwas von dieser Diskrepanz, sondern auch die Möglichkeit, das Gedicht so zu lesen, als würde in ihm konsequent und linear erzählt beziehungsweise chronologisch plausibel. Man kann das Gedicht so lesen, als würde tatsächlich so erzählt, daß die züge dessen, was über die schreibhand schreibt, entgegen dem, was in dem Gedicht selbst behauptet wird, sehr wohl in lineare phasen vorquellen.
Wenn nun so folgerichtig und linear erzählt wird, daß die schreibhand einem Schreibkrampf oder einer Lähmung unterworfen ist, dann hat das, was von der gelähmten schreibhand erzählt, offenbar in dieser Hinsicht nicht die Probleme, welche die schreibhand selbst hat. Und dementsprechend unterscheidet sich die Diskrepanz zwischen der Art und Weise, in der über das, was der schreibhand geschieht, geschrieben wird, und dem, was ihr geschieht, von der Diskrepanz zwischen der Art und Weise, in der sich die schreibhand selbst, in ihrem eigenen schreibenden Erleben zu beschreiben oder zu erklären versucht, und dem, was ihr geschieht.
Die Diskrepanz zwischen der Art und Weise, in der über die schreibhand geschrieben wird, und dem, was der schreibhand geschieht, besteht zunächst darin, daß dieses Schreiben über die schreibhand, im Unterschied zu dem Schreiben, von dem es erzählt, geradezu ein souveränes Schreiben ist, kann es doch ein Ereignis, wie es scheint, folgerichtig erzählen. Und diese Souveränität wird noch dadurch erhöht, daß sie in diesem Sinn erzählen kann, obwohl sie zugleich und auf den Buchstaben genau die Form des Sonetts erfüllt, ja in der strengstmöglichen Weise.
Die Sprache, in der über die schreibhand geschrieben wird, ist ja keineswegs eine Sprache, die konkret zeigt, wie etwas einen krampf erleidet, schwach und schwächer wird und einschläft. (Die Sprache könnte ja auch den Faden verlieren, sie könnte stottern, sie könnte assoziativ Worte reihen, sie könnte grammatikalische Mehrdeutigkeiten häufen, sie könnte lallen oder sich verschreiben, sie hätte hier Gelegenheit, eine ganze Reihe modernistischer Verfahren ins Feld zu führen, um die Lähmung der schreibhand vorzuführen.)
Scheint diese Hand, die über die schreibhand schreibt, auch souverän, herrscht also diesbezüglich eine Diskrepanz zwischen dem, was erzählt wird, und dem, wie es erzählt wird, so ist es doch nicht so, daß das, was erzählt, überhaupt nicht von dem affiziert würde, wovon es erzählt. Man kann durchaus Eigenschaften in dem Gedicht entdecken, die als Mimesis, also als Nachahmungen oder Verkörperungen dessen lesbar sind, was der schreibhand geschieht. Es ist allerdings eine Mimesis, die in dem Sinn konventionell ist, als sie das lineare Erzählen und dementsprechend die Grammatik der Sätze unangetastet läßt.
Zunächst aber, in den ersten Zeilen des Gedichts, herrscht beinahe in jeder Hinsicht deutliche Nicht-Übereinstimmung zwischen Darstellung und Dargestelltem. Da wird eine schreibhand geschildert, die nicht mehr linear weiterschreiben kann, die keine Richtung mehr einschlagen kann, doch der Satz, mit dem das Gedicht beginnt, bricht im Widerspruch dazu gleichsam unbedenklich und beinahe auch wie unbedacht über das Sonett herein, geht über die ersten beiden Versgrenzen hinaus, um erst in der dritten Zeile zu einem Halten zu kommen. Erst nach und nach wird das Tempo geringer, findet sich dieses lineare Erzählen in die innere Form des Sonetts und scheint zugleich auch mehr zu bedenken, was es darstellt, worüber es spricht.
Die sechste Zeile (keine erhellung kann den krampf beschämen) ist dann die erste Zeile, die zugleich ein ganzer Satz ist, und sie ist bezeichnenderweise zugleich auch der erste Satz, in dem eine verallgemeinernde Reflexion oder ein Kommentar des Dargestellten versucht wird. (Nicht nur alle Erhellungen, die in diesem Gedicht versucht werden oder welche die schreibhand versucht haben mag, können den krampf nicht beschämen, sondern überhaupt keine.) In dieser Veränderung, ja Verlangsamung des Erzählens, in diesem Stocken des Satzflusses, der nach und nach von den nach Wiederholung, Statik verlangenden Regeln oder Traditionen des Sonettschreibens reguliert wird, zeigt sich, daß die Übereinstimmung zwischen der Darstellung und dem Dargestellten im Verlauf der ersten acht Zeilen größer wird.
Und in der siebten Zeile, die wiederum zugleich ein ganzer Satz ist, folgt dann jene Charakteristik der schreibhand als eine, die vor selbstanwendbarkeitsproblemen liegt, in der das, wovon gesprochen wird, auch deutlich verkörpert, gezeigt wird. Eben das monströse Wort selbstanwendbarkeitsprobleme(n) selbst, das beim Lesen dazu zwingt, das Metrum am Wort und das Wort am Metrum zu messen, nämlich die vier Hebungen, aus denen es besteht, gleichsam zu buchstabieren, und das damit beinahe zum Stillstand veranlaßt, zeigt etwas von dem krampf und von der Lähmung, welche der schreibhand zugestoßen sein sollen.

War sie nicht selber vogel, zahm und lange,
abschwebend aufzufahren, sich zu strafen,
so nett zu sein im wiederholungszwange?

In dieser Frage, im ersten Terzett der zweiten Strophe, erreicht die Deutlichkeit der Verkörperung, der mimetischen Nachahmung dessen, was dargestellt werden soll, ihren Höhepunkt, wenn man in ihr die auch gestisch wirksame Zusammenfassung der beschriebenen inneren Vorgänge (bilder schnellen) sehen will – die schreibhand fährt oder flattert, der Stimmführung des Fragens entsprechend, noch einmal auf – und damit zugleich die (durch entsprechende literarische Konventionen vorgeprägte) zusammenfassende Wiedergabe dessen, was sich die schreibhand selbst fragt oder sagt (je nach dem, ob man die Frage als rhetorische versteht oder nicht).
Im letzten Terzett allerdings wird der neutrale Ton einer Beschreibung wieder aufgenommen, wenn auch mit viel geringerem Tempo als zu Beginn des Gedichts. Nur: In welchem Sinn könnte hier die Darstellung das Dargestellte überhaupt mimetisch behandeln, nachahmen oder verkörpern, da doch keineswegs klar ist, ob jetzt irgendeine Realität außerhalb der Darstellung und, wenn ja, dann welche, zur Sprache kommen soll?
So bezeugt das, was über die schreibhand erzählt, seine Souveränität womöglich auch damit (oder scheint sie wenigstens damit keineswegs einzubüssen), daß es (nach und nach immer deutlicher bis zu deren Höhepunkt im ersten Terzett) bestimmte konventionelle mimetische Verfahren gebraucht, deren Konventionalität auch so verstanden werden kann, als würde damit die Distanz von der schreibhand selbst, wenn nicht erst recht deutlich gemacht, so doch als etwas begreifbar, was von dem, was über die schreibhand schreibt, nach seinem Willen beherrscht wird. (Das, was über die schreibhand schreibt, zeigt so, daß es nicht nur einfach schreiben kann, sondern auch dichten.)
Wenn man also annimmt, die souveräne und prunkvolle Weise, in der von der schreibhand; ihrer Lähmung, ihrem Ende erzählt wird, zeige oder verkörpere auf konventionelle Weise etwas von dem, was dieser Hand angeblich geschieht, dann zeigen diese Souveränität und dieser Prunk zugleich etwas anderes um so eindrücklicher: nämlich die Diskrepanz zwischen dem, wovon erzählt wird, und dem Erzählen selbst. Diese Diskrepanz wird wahrnehmbar. Versteht man die Diskrepanz als Thema des Gedichts und nicht den krampf, die Lähmung der Hand, dann allerdings ist seine Sprache angemessen.
Und dann hat das Sonett womöglich doch auch einen Gegenstand, der, wenn er nicht selbst groß ist, doch an eine Frage erinnert, die gerade in der vormodernen Tradition des Sonetts als Problem der Wiedergabe von großen, erhabenen oder außerordentlichen Gegenständen (etwa bei der Wiedergabe der Schönheit der Geliebten) eine wichtige Rolle spielt: Shall I compare thee to a summersday?, fragt etwa Shakespeare in einem seiner berühmtesten Sonette. Jedenfalls hat dann das Sonett heldin ein Thema, das in der Moderne eine wichtige Rolle spielt, wenn auch meist nicht in Form eines Sonetts: nämlich die Unangemessenheit der Poesie beziehungsweise der ganzen rhetorischen Maschinerie vor ihrem Gegenstand oder, allgemeiner, die Unangemessenheit der Sprache überhaupt, sei dieser Gegenstand nun erhaben oder alltäglich.
Die Diskrepanz aber zwischen der Art und Weise, in der sich die schreibhand selbst zu beschreiben oder zu erklären versucht, und dem, was ihr geschieht (ihrer Lähmung, ihrem Ende) besteht in etwas anderem: Ich nehme an, daß die schreibhand sich selbst schreibend in den wissenschaftlichen oder poetischen Termini erlebt, die zu ihrer Beschreibung gebraucht werden. (Und diese Annahme kann zu verschiedenen schon skizzierten Deutungen führen.)
Diese Annahme enthält aber selbst dann nicht notwendig, daß sich für diese schreibhand ihr Erleben in einer ähnlich konventionell-narrativen Form abspielt, welcher über sie erzählt wird, wenn man unterstellt, daß die beschriebene Hand, wie ja explizit behauptet wird, selbst ein Sonett schreibt (so nett zu sein…).
Denn wenn vielleicht auch (vermittelt unter anderem durch das, was ich den Jakobsonschen Blick auf die Form genannt habe) von dem Selbst-Erleben der schreibhand erzählt wird, dann wird eben doch auch erzählt, daß sie etwas erlebt, das mit jener konventionell-narrativen Form des Erzählens gerade nicht vereinbar ist: Erzählt wird ja, daß die vögel die schreibhand lähmen, daß ihre matrix lau ist, daß sie von efferenzsystemen übersät ist, daß sie also nicht mehr in lineare phasen vorquellen kann, sondern nur mehr schwappt und schaukelt.
So gesehen mag die schreibhand entweder die wahrscheinliche Angemessenheit wissenschaftlicher Beschreibung für sie, die dichtet, als Diskrepanz zu ihrem eigenen Schreiben erleben oder auch die Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Schreiben, sei es wissenschaftlich oder poetisch bestimmt, und ihrem eigenen Zustand; aber all das so, daß sie selbst es eben nicht mehr zu linearen phasen oder zu kontrollierbaren efferenzsystemen, zu einer zielgerichteten Schreibbewegung bringen kann, wenn auch und vielleicht gerade deshalb und insofern zu einem so nett.
Das selbst-widersprüchliche Erleben der beschriebenen Hand könnte sich ja auch einer modernistischen Poetologie des Sonetts folgend abspielen, wie sie im Zusammenhang mit dem französischen Symbolismus entwickelt worden ist; einer Poetologie entsprechend, in der das lineare Erzählen und damit das in lineare phasen vorquellen und also auch der Satz eine untergeordnete Rolle spielen; einer Poetologie, für die einerseits das Verhältnis der Worte beziehungsweise der begrifflichen Wechselwirkungen viel wichtiger ist und andererseits und allgemeiner überhaupt alle parallelisierenden Verfahren (alle die Wiederholungszwänge), die der einsinnigen Entwicklung eines Gedankengangs entgegenwirken.

Indem heldin die Diskrepanz zwischen der Darstellung und dem, was dargestellt werden soll, so deutlich macht, und indem das Ende einer schreibhand, also vielleicht auch der Möglichkeit eines Schreibens, als ein Thema oder ein Gegenstand des Gedichts verstanden werden kann, folgt dieses Gedicht der Sprach- und Wirklichkeitskritik, die für einen guten Teil der Moderne, insbesonders auch für Priessnitz’ unmittelbare Vorläufer, die Dichter der Wiener Gruppe, charakteristisch ist.
Diese modernistische Sprachkritik, dieser Sprachzweifel, hat in der Literatur häufig eine anti-konventionelle Haltung mit sich gebracht (etwa im Dadaismus, aber auch in der experimentellen Literatur der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre). Die traditionelle Sprache, speziell die traditionelle Syntax, die ihr üblicherweise zugesprochenen Möglichkeiten, wurden gleichsam zur Wand, durch die man mit dem Kopf einer anderen, neuen Poesie gehen wollte.
Da wurde diese Syntax zertrümmert, Agrammatik geübt, Neologismen bemüht oder assoziative Kombinatorik, da wurde zu zeigen versucht, daß Texte (nicht zufällig nennt Priessnitz seine Texte ,Gedichte‘), welche die Sprache konventionell gebrauchen, das, was sie konventionell benennen, nicht zeigen können oder auch, daß ,experimentelle‘ Texte so wenig einen Gegenstand haben wie – angeblich – abstrakte bildnerische Werke. Dementsprechend sollten Gedichte nicht etwas Bestimmtes erzählen, und schon gar nicht sollten sie Helden haben. Der übliche und der konventionelle Sprachgebrauch wurden als ungeeignet dafür angesehen, poetisch zu bezeichnen.
Das Gedicht heldin nun besitzt eine Reihe der Eigenschaften, die jenen des Modernismus entgegensetzt sind, und somit werden in diesem Gedicht die entsprechenden modernistischen (stillschweigenden) Verbote übertreten. (Ein Übertreten, das um so schwerer wiegt, als das Gedicht ja nicht heute geschrieben wurde, sondern in den siebziger Jahren.)
heldin kann etwa sehr wohl als ein Gedicht gelesen werden, das einen Gegenstand oder ein Thema hat (eben das Verenden der heldin, nämlich der schreibhand oder des Schreibenden). Die Syntax dieses Gedichts ist nicht nur regelrecht, sondern konventionell-poetisch und rhetorisch-prunkvoll. Die Assoziativität beziehungsweise die lexikalische Vieldeutigkeit wird durch die lineare Erzählung hintangehalten oder wenigstens mit einem bestimmten Rahmen versehen. Dazu werden der schreibhand offenbar die Eigenschaften eines Bewußtseins zugesprochen (sie hat probleme, sie stellt selbst die regelung auf dumpfer, sie straft sich, so nett zu sein im wiederholungszwange usw.). Und damit wird vielleicht nicht nur auf allegorische Weise der Tod oder das Ende dessen verkündet, der die schreibhand besitzt, sondern auch der so konventionelle lyrische Topos der Mentalisierung von Gegenständen strapaziert, denen normalerweise kein Bewußtsein zugesprochen wird.
Das Thema oder der Gegenstand des Gedichts, das, was erzählt wird, ist aber eben wiederum in dem Sinn modern, als vom Verlust der Möglichkeit des Schreibens beziehungsweise des Dichtens erzählt wird. Wie in so vielen modernen Gedichten wird in dem Gedicht Sprachkritik oder Verzweiflung an der Sprache thematisiert. Man kann auch dieses Gedicht als kritisches, ja skeptisches Nachdenken über das Schreiben im Schreiben verstehen oder als Scheitern an der Sprache. Es ist das Thema des Lord-Chandos-Briefs, seitdem in unzähligen Varianten behandelt und beinahe totgeritten. Und auch bei Hofmannsthal wird das Problem auf eine konventionelle Weise dargestellt, damit einen performativen Widerspruch heraufbeschwörend, der allerdings von Hofmannsthal offenbar nicht bemerkt oder in die Darstellung einbezogen wird, was dem Text einige Weinerlichkeit und Sentimentalität verleiht.
In heldin wird dieser performative Widerspruch zwischen der Konventionalität der Darstellung und dem, was dargestellt wird, zu einem wesentlichen Moment der Bedeutung. Denn diese Konventionalität stellt sich in all den erwähnten traditionalistischen Zügen des Gedichts selbst aus und macht die Diskrepanz zwischen dem deutlich, was erzählt wird, und dem, wie es erzählt wird. Die Sprache des Gedichts stellt gerade durch ihre Konventionalität die Distanz zwischen Erzählen und Erzähltem als Diskrepanz aus.
Man kann also die Diskrepanz zwischen dem krampf, der Lähmung, dem Einschlafen der schreibhand und der Weise, in der dieser krampf, diese Lähmung, dieses Einschlafen beschrieben und erklärt wird, als das Scheitern einer konventionell-erzählenden Sprache an ihrem angeblichen Gegenstand oder Thema ansehen. Die Sprache des Gedichts ist dann selbst-widerlegend, insofern sich zeigt, daß sie nicht auf das angewendet werden kann, worauf sie vorgibt, angewendet zu werden, Die selbstanwendbarkeitsprobleme, welche das, was über die schreibhand schreibt, von der schreibhand behauptet, sind dann auch Anwendungsprobleme dessen, was über die schreibhand schreibt, und in dem Gedicht tatsächlich unlösbar. Auch die Sprache des Gedichts selbst wäre dann keine erhellung, die einen krampf beschämen kann.
Die heldin könnte dann auch die Sprache des Gedichts sein, allerdings in einem ironischem Sinn des Wortes. Angesichts der Übermacht an Bildern (wissenschaftlichen und traditionell-poetischen), angesichts der vor-gebildeten Sprache, ihrer syntaktischen und semantischen Eigenmächtigkeit, ja der ganzen vor-handenen Kultur, versagt diese Sprache gerade dann, wenn sie dieses Versagen als etwas Bestimmtes beschreibt, das etwas Bestimmtem, nämlich einer schreibhand zustößt, die nicht sie selbst ist.

Soviel zu dem Sonett heldin unter der Annahme, das, was über die schreibhand schreibt, und die schreibhand selbst, seien nicht ein und dasselbe. Aber ist diese Annahme die einzige, die durch das Gedicht nahegelegt wird? Spricht nicht manches dafür, daß das, was von der schreibhand erzählt, auch selbst die schreibhand ist, also die Hand, von der erzählt wird? Und findet diese Möglichkeit nicht schon einen wichtigen Anhaltspunkt darin, daß in einem Sonett von der schreibhand gesagt wird, daß auch sie ausgerechnet ein so nett ist? („So ein Zufall, im selben Moment, wo wir von dem Radlfahrer reden, kommt auf der Straß einer dahergefahren!“, heißt es bei Karl Valentin.)
In einer Fortsetzung dieser Interpretation werde ich versuchen, das Gedicht unter dem Gesichtspunkt der Identität der beschreibenden Hand und der schreibhand zu deuten. Ich werde versuchen, die Folgen dieser neuen Annahme auf die Argumente des ersten Teils zu skizzieren und dabei die Paradoxa der Selbstbeobachtung oder, allgemeiner, des Selbstbezugs zu entfalten oder, noch allgemeiner und zugleich fundamentaler, die Probleme der Bezugnahme, so wie sie sich in diesem Gedicht darstellen.
Und ich versuche ebenfalls zu zeigen, wie unter der neuen Annahme auf bestimmte Fragen ein Licht geworfen wird, die sich unter der Annahme, daß sich das, was über die schreibhand schreibt, und die schreibhand selbst, voneinander unterscheiden, nicht beantworten lassen. (Ein Licht soll da etwa auf die Frage geworfen werden, wie – im letzten Terzett – die seltsame, widersprüchliche Rückkehr zu einer Art von Beschreibung zu verstehen sei, die zugleich ein Aufgehobenwerden in Begrifflichem sein könnte.)

Franz Josef Czernin, Schreibheft, Heft 47, Mai 1996

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