Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die erste Elegie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die erste Elegie“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Die erste Elegie

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.
O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum
uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,
sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.
Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche
Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob
sich eine Woge heran im Vergangenen, oder
da du vorüberkamst am geöffneten Fenster,
gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.
Aber bewältigtest du’s? Warst du nicht immer
noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles
eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen,
da doch die großen fremden Gedanken bei dir
aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.)
Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange
noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl.
Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du
so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn’
immer von neuem die nie zu erreichende Preisung;
denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm
nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt.
Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur
in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,
dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa
denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen,
dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel
dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie?
Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen
fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend
uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:
wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung
mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur
Heilige hörten: daß die der riesige Ruf
aufhob vom Boden; sie aber knieten,
Unmögliche, weiter und achtetens nicht:
So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest
die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre,
die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.
Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.
Wo immer du eintratest, redete nicht in Kirchen
zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an?
Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf,
wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.
Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts
Anschein abtun, der ihrer Geister
reine Bewegung manchmal ein wenig behindert.

Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,
kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben,
Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen
nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;
das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,
nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen
wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam,
alles, was sich bezog, so lose im Raume
flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam
und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig
Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.
Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung
reißt durch beide Bereiche alle Alter
immer mit sich und übertönt sie in beiden.

Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten,
man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten
milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große
Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft
seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie?
Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos
wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang;
daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling
plötzlich für immer enttrat, die Leere in jene
Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.

1912

 

Kommentar

Die erste Elegie ist ein klagender Aufschrei eines Einsamen, der sich vor seinen Wünschen der liebenden Vereinigung und mütterlichen Geborgenheit ebenso fürchtet, wie er sich nach ihrer Erfüllung sehnt. Es ist diese Ambivalenz, die das Struktur- und Motivgefüge, die Gedankenführung und den Aufbau dieser Distichen prägt; und es ist die Archaik der Wünsche, welche die utopische bzw. retrotopische Vorstellungswelt dieser Fantasien bestimmt. Für den Religionswissenschaftler Rudolf Otto lag gerade in der Mischung aus Grausen und Knien das Grundmuster der Begegnung mit dem „Heiligen“, das er daher als „mysterium tremendum et fascinans“1 beschrieb.
Mag sich Einsamkeit noch so sehr aus überhöhten Sehnsüchten speisen und auf überhandnehmende seelische Bedürfnisse hinweisen, am Ende beklagen diese Zeilen nicht nur (oder sogar weniger) den psychischen Mangel im Fehlen eines physischen Liebesobjekts, sondern auch und gerade die metaphysische „Leere“ des „Weltalls“, für die dieser Mangel das Verzichtmuster (und letztlich die Metapher) hergibt.
So erklärt es sich auch, dass diese Elegie, ablesbar an den großen Begriffen, mehr und mehr die Welt als ganze, den Kosmos als ganzen abschreitet und wahrhaft kosmologische Dimensionen abruft. Entsprechend wächst sich der Keim einer unerfüllt-unerfüllbaren Sehnsucht zu Wünschen aus, die ihrerseits monumentale Erfüllungsfantasien und im dialektischen Kontrast dazu existentielle Szenarien der Verlassenheit und Leere hervorbringen. Als hörte der einsam Schreiende seine einzelne Stimme als viele „Stimmen“ im Weltraum widerhallen und seine Klage sich vervielfältigen zu einem orchestralen Echo Hiob’scher Verzweiflung.
Mit jeder Utopie/Retrotopie sind Ängste verbunden, ihrer (unmöglichen) Verwirklichung wahrhaft zu begegnen und so real zu erleben, was man sich irreal erträumt hat. Der Grund dafür ist nicht so sehr die Angst vor Enttäuschung (wobei das intuitive Wissen mitschwingt, dass etwas mit der Idealität des Idealen nicht stimmen kann), als vielmehr ein Tabu, das unter die conditio humana fällt: das der Rückkehr in den Mutterleib und darüber hinaus in die Nichtexistenz, welche die idealische Affinität der Lebenden zu den Toten und eine gewisse Negrophilie begründet.
Die Einsamkeit des einmal Geborenen ist indes fait accompli und unabänderlich; selbst Liebende „verdecken sich nur mit einander ihr Los“, sind sie doch „noch nicht unsterblich genug“, um die Leere in Fülle zu verwandeln. Dagegen sammelt sich die Energie der unerfüllt Liebenden à la Gaspara Stampa, jener legendären Venezianerin des 16. Jahrhunderts, die in jungen Jahren vor Liebeskummer starb, „gesammelt im Absprung“ und übertrifft damit das „berühmte Gefühl“ des Verliebtseins um die „Trauer [aus der] so oft | seliger Fortschritt entspringt“: sprich die Kunst, durch die „das Leere in jene | Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft“.
Wenn wir den oder die „Engel“ mit jener „ewigen Strömung“ gleichsetzen, die Lebende und Tote gleichermaßen umfließt – „Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter | Lebenden gehn oder Toten“ –, gewinnen wir eine Vorstellung der Rilke’schen Archaik, die hervorbringt, was Romain Rolland in der Korrespondenz mit Sigmund Freud als Urspung der Religiosität bezeichnete. Freud benennt es in Das Unbehagen in der Kultur (1929) als

[…] ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam „Ozeanischem“. Dieses Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persönlicher Fortdauer knüpfe sich daran, aber es sei die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefaßt, in bestimmte Kanäle geleitet und gewiß auch aufgezehrt werde. Nur auf Grund dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen, auch wenn man jeden Glauben und jede Illusion ablehne.2

Ich denke, das trifft den Rilke’schen Ansatz und seine Bilderwelt recht gut, vor allem, da Freud hinzusetzt: „ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt“, und dann vom Aufsprengen der Ichgrenzen in der Liebe spricht, wenn „auf der Höhe der Verliebtheit die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen droht“.3
In diesem Kontext ist der „Engel“ als Allegorisierung des absoluten Subjekts und seines Allmachtsgefühls zu verstehen, das mit dem Kindsein vor oder am Beginn der Individuation durch eine existentielle Hilflosigkeit und Angewiesenheit auf symbiotische Verhältnisse kompensatorisch vorgeprägt ist. Der „Engel“ steht dann – als psychotische Fantasie – für die „Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzißmus“,4 und in eben dieser Eigenschaft des Selbstobjektverhältnisses für die Fantasien der Verschmelzung mit der Mutter Natur, dem All.

Ich kann mir vorstellen, daß das ozeanische Gefühl nachträglich in Beziehungen zur Religion geraten ist. Dies Eins-Sein mit dem All, was als Gedankeninhalt ihm zugehört, spricht uns ja an wie ein erster Versuch einer religiösen Tröstung, wie ein anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt.5

Von Rilkes faible für asiatische Meditationspraktiken vor allem im Zusammenhang der Buddhalehren ist in diesem Buch wiederholt die Rede (vgl. die Besprechung der Buddha-Gedichte). Nicht zufällig kommt auch Freud in Fortsetzung des eben Zitierten auf einen der Weisheitslehren kundigen „Freund“ (Carl Gustav Jung?) zu sprechen, der ihm versichert habe,

daß man in den Yogapraktiken durch Abwendung von der Außenwelt, durch Bindung der Aufmerksamkeit an körperliche Funktionen, durch besondere Weisen der Atmung tatsächlich neue Empfindungen und Allgemeingefühle in sich erwecken kann, die er als Regressionen zu uralten, längst überlagerten Zuständen des Seelenlebens auffassen will.6

Ohne die Psychoanalyse sind die tiefenpsychologischen Strukturen der Rilke’schen Dichtungen oft kaum auszumachen und noch weniger zu verstehen. Das mindert freilich nicht deren künstlerische Qualität, die hier mit einem Höchstmaß an verdichtender Zusammenschau und Zusammenfügung schwer zu übertreffen ist und im Übrigen den hohen Grad an selbstobjektivierender Durcharbeitung seitens des Autors zeigt, dem dieser das Ende der Schaffenskrise und die Elegien ihre Entstehung verdanken. Wenige Tage nach der Niederschrift dieser „Ersten Elegie“ teilt er seinem Psychoanalytiker in spe Dr. von Gebsattel mit, dass er sich endgültig gegen die Psychoanalyse entschieden habe:

Nämlich, ich bin über die ernstesten Erwägungen zu dem Ergebnis gekommen, daß ich mir den Ausweg der Psychoanalyse nicht erlauben darf, es sei denn, daß ich wirklich entschlossen wäre, jenseits von ihr, ein neues (möglicherweise unproduktives) Leben zu beginnen […].7

Dass das Bedürfnis nach Religion, wie schon der Begriff selber sagt, aus einem Bindungsverlangen kommt, das im narzisstischen oder verliebten Extremzustand der Psyche bereits einen Unendlichkeitshorizont hat, ist eine Binsenweisheit. Meines Wissens der Erste, der sich das gewissermaßen objektpsychologisch erklärte, war niemand Geringerer als Blaise Pascal, der in seinen Pensées schrieb:

Qu’est-ce donc que nous crie cette avidité et cette impuissance, sinon qu’il y a eu autrefois en l’homme un véritable bonheur dont il ne lui reste maintenant que la marque et la trace toute vide, qu’il essaye inutilement de remplir de tout ce qui l’environne, en cherchant dans les choses absentes le secours qu’il n’obtient pas des présentes, et que les unes et les autres sont incapables de lui donner, parce que ce gouffre infini ne peut être rempli que par un object infini et immuable?

Was anderes zeigt uns dieses Verlangen und diese Ohnmacht, als dass es im Menschen einst eine echte Glückseligkeit gab, von der in ihm jetzt nur noch die leere Spur verblieben ist, die er vergeblich zu füllen sucht mit dem, was ihn umgibt? Von Nichtvorhandenem erhofft er die Hilfe, die er vom Vorhandenen nicht bekommt. Aber all diese Bemühungen sind unzureichend, weil der unendliche Abgrund nur durch ein unendliches und unveränderliches Objekt ausgefüllt werden kann.8

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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