Giorgos Seferis: Alles voller Götter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Giorgos Seferis: Alles voller Götter

Seferis-Alles voller Götter

ANGELOS SIKELIANOS

Der Tod des Dichters ist die Vollendung einer Geburt. Angelos Sikelianos ist dahingesunken; sein Werk ragt jetzt vor dem Schatten dieses erhabenen Mannes in seiner ganzen Größe auf, vollendet im absoluten Licht.

Wie ein Mandelbaum, ganz mit Blüten bedeckt,
kein Blatt, nirgendwo,
leuchtender Glanz bis tief in die Sinne,
blütenumflorte Stille!

Während wir die tiefe Kluft ausloten, die Angelos Sikelianos aufgerissen hat, als er – eben noch unter uns – starb, denke ich an diese blütenumflorte Stille einer Geburt. Es ist schwer, sich im Augenblick so starker Ergriffenheit zu äußern. Und während ich mich bemühe, seine menschliche Anwesenheit auf unserer Erde für möglichst lange festzuhalten, bin ich mir sehr wohl dessen bewußt, daß er es war, der mit der ganzen Kraft seiner Seele Leben und Tod zu umfassen suchte. Durch keine andere Gestalt werden so viele Bilder von Epitaphien und Auferstehungen in uns wachgerufen; ich möchte sagen, daß sein Werk als Inbegriff des Frühlings in dessen schönster Entfaltung angesehen werden kann: als eine griechische Osterwoche.
Während die Jahre dahingehen und wir dank unserer Dichter zu ahnen beginnen, wie stark die Bindungen an unsere Vergangenheit sind, erkennen wir allmählich, welche Dinge uns von der Welt ablenken, in der wir leben. Es zeigt sich gelegentlich, daß unsere Gefühle, sofern sie echt sind, unsere Zeichen der Verehrung, sofern es sich um wahre Verehrung handelt, und unsere Neigungen, die während einer langen Zeitspanne und über viele Generationen hinweg ausgebildet und nicht erst in uns, sondern lange vor uns begründet wurden, von einem ausgesucht harmonischen Reichtum und einer oftmals sehr eigenwilligen Note sind. Wie eigenwillig, das kann man am Schaffen der bedeutenden Dichter ermessen, die unser Land in den letzten einhundertfünfzig Jahren hervorgebracht hat. Wenn man diese Dichter als Fixpunkte ansieht, die den Horizont einer Idee; nämlich der griechischen Idee, abstecken, und wenn man beachtet, wie grundsätzlich sie sich voneinander unterscheiden und zugleich doch miteinander übereinstimmen, dann läßt sich vielleicht die Weite und die Physiognomie unseres geistigen Standortes erfassen. Er ist stets der gleiche geblieben, birgt aber auch Geheimnisvolles und Widersprüchliches in sich, wie alles, was lebt.
Unsere Tradition ist voller Widersprüche. Die großen Männer gleichen sie aus. In Griechenland ist selbst Dionysos ein Gekreuzigter. Und es bedurfte der großen Kraft von Sikelianos Stimme, um das Wort zu einer neuen Einheit zu verdichten:

Du mein süßes Kind, mein Dionysos, mein Christus…

So denke ich mir auch die Gestalt der Mutter Gottes, die ihm so nahe ist; so denke ich mir die Träume, wie den folgenden, dessen Färbung vom Ikonostasion seiner Kindheit herrühren dürfte:

Ich sah Vater, neben mir liegen,
der plötzlich das Laken vom Leib sich riß,
nackt vor meinen Augen sich aufrichtete,
schöner noch,
noch kräftiger,
und mir sagte:
„Mein Sohn, ich bin erlöst“…

Und ich, versuche, mir ein Bild von Sikelianos’ Religiosität zu machen, von seiner schon aus Lefkada herstammenden Christlichkeit, die weiterwirkt und sich vom Odem der griechischen Erde nährt, sich weitet und Mythen – die wir längst tot glaubten – aufnimmt, sich zwischen Dionysos und Hades bewegt, welche Heraklit zufolge eins sind; eine Christlichkeit, die sich stets nach einer Auferstehung, einer Wiedergeburt sehnt; nach einem „Höheren Griechenland“.
In Sikelianos’ Jugendzeit wurde unsere Geisteswelt ganz von dieser Sehnsucht beherrscht:

Im Denken der jungen Griechen
das sich badet im neuen
roten Licht, tief im Innern,
wird getreu nachgespielt
der Kampf des jungen Gottes,
des neuen Apoll,
als er Python erschlug…

Es ist die Zeit des Palamas, doch von den überragenden Gestalten jener Epoche möchte ich nur Periklis Jannopulos nennen, und zwar so, wie ihn Sikelianos beschreibt. Er gleicht ihm wie ein Bruder:

Und die Liebe des schönen Körpers und der Sonne,
der gebändigten Kraft, sie offenbart
die Schönheit ohne jeden Kampf,
mit nur einer Geste, mit nur
einem ruhigen Lächeln, mit nur
einem raschen und reinen Lachen,
wie der Krähe Gekrächz in der Tiefe
des attischen Himmels Blau,
rein und allein gelassen, lebte sie wieder auf
bei seiner Geste, seinem Lächeln,
o Attika, – und deine zarten Düfte
atmete keiner mit solch
fürstlichem Gespür, keiner
nahm so deine hoffnungslosen Farben auf,
sie noch fester zwischen den Wimpern einzuschließen,
und deinen umherschweifenden Geist in sich einzusaugen.
Wir kannten keinen unter uns,
der mehr deinem Ölbaum glich,
deiner gelben Ähre oder gar
deinem vergilbten Marmor…

Aber Sikelianos war ein viel kraftvollerer Dichter. Er trug zwar auch jene Sehnsucht in sich, die Jannopulos reitend in sein Meeresgrab getrieben hat, aber ihm; in dessen Adern das Blut des Dionysos pulsierte, war es gegeben, den entlegensten Heiligtümern unserer Vergangenheit Leben einzuhauchen. Durch seine Stimme wird wie beim Jüngsten Gericht einer völlig vergessenen, verschütteten Welt Ausdruck verliehen: die ihre Wurzeln in den Gefühlen des Menschen und in einer griechischen Natur hat, die mit der ganzen Frische des ersten Augenblicks atmet. Sikelianos ist nicht in sich gespalten, nicht gebrochen. Und sowenig er den Tod vom menschlichsten Augenblick des Lebens oder seinen Körper vom Körper der Landschaft zu trennen bereit ist, sosehr kämpft er um die Vereinigung der Götter- mit der Menschenwelt. Es findet  bei Sikelianos eine heilige griechische Menschwerdung statt:

… und wir wollen Erde und Sterne vereinigt sehen,
den Acker hinieden mit dem Acker da droben, daß auch
der Himmel Ähren hervorbringen kann für den Vater,
in Stunden, da schwer auf unserem Herzen wiegt
des Lebens Bitterkeit mit ihrer ganzen Last…

Doch es war, nicht meine Absicht; die Dichtung von Sikelianos vorzustellen. Ich wollte lediglich noch ein wenig bei dem Freund verweilen, den wir verloren haben.
Ihm bin ich erst spät im Leben begegnet. Ich glaube, die Schuld dafür muß bei mir gelegen haben. Unsere wirkliche Begegnung fand statt, als ich zum ersten Mal im Manuskript die Heilige Straße las:

Durch die neue Wunde, die mir das Schicksal schlug,
drang die Sonne ein, ich glaube, in mein Herz
mit solcher Wucht, während sie unterging, wie
durch ein Leck plötzlich hereinflutet
das Wasser ins Schiff, das unaufhaltsam
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasinkt…

Ich entsinne mich mit großer Dankbarkeit des Schauers von Ergriffenheit, die dieser einfache, in seiner Stärke verletzende Ton verursachte. Als ich Sikelianos später einige Male auf dem Lande traf oder im Vorbeigehen die Bauern über ihn reden hörte, kam er mir immer vor wie einer, der mit dem Mönchsstab des Geoffenbarten auf dem Weg der Seele wandelt; so bezeichnete er den Weg, auf dem auch Jannopulos zuletzt gewandelt ist. Es war eine Freude, den Fürsten unserer Sprache in der griechischen Natur zu bewundern, mit der er sehr vertraut zusammen lebte, die er berührte – die Berge, den Marmor, die Strände −, wie ein Schäfer die vertrauten Gegenstände seiner Hütte berührt. Ich hatte meine Freude daran, wie die einfachen Menschen aus den Bergen oder Tälern ihn liebten und „Herr Angelos“ zu ihm sagten. Mich hat dieses Leben tief bewegt, weil es etwas Seltenes vollbracht hat: rein zu sein von jedem Selbstmitleid im Kleinen wie im Großen.
So habe ich ihn selbst in den letzten Jahren noch erlebt, sooft es mir vergönnt war, ihm während seines langen Todeskampfes zu begegnen. Denn das Schicksal dieses Menschen, der einst gesagt hatte,

Die einzige Methode ist der Tod!

wollte, daß er lange Zeit an der Schwelle zur Unterwelt leben sollte. Auch das hat er durchgestanden, wie alles andere, und sich dabei seine weitherzige Freundlichkeit sowie den Charme, mit dem er eine Rose auszuwählen und zu schenken wußte, bewahrt. Mir ist noch ein Abend, in seinem Haus im Gedächtnis, an dem es nach einem schweren Schlaganfall schien, als wäre das das Ende dieses verwundeten Löwen. „Ich habe das absolute Schwarz gesehen“, sagte er. „Es war unwahrscheinlich schön.“ Ich stand kurz vor einer langen Reise; ich wußte nicht, ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Ich spürte den Flügelschlag eines großen Engels im Zimmer. Es war, als streife uns der Atem von Dingen, die wir niemals gesehen haben, aber mehr als alles andere im Leben lieben – das Antlitz von einem Griechenland, das wir so leidenschaftlich suchen und das so wenige finden. Beim Weggehen flüsterte ich die letzte Strophe der Großen Heimkehr:

Denn das weiß ich: tiefer noch als das dichte
aaaaaaaaaaSternenlicht, wie ein Adler entrückt,
wartet auf mich dort, wo das göttliche Dunkel
aaaaaaaaaabeginnt,
mein erstes Ich

Ich sah die Auferstehung der Sterne.

Giorgos Seferis, 7.7.1951

 

 

 

Inhalt

− Zu einer Wendung von Pirandello

− Monolog über die Dichtung
1. Fortsetzung und Ende des Dialogs
2. Dogmen und Kunst
3. Das Gefühl der Ewigkeit
4. Die „unsterblichen“ Werke
5. Die „irrationale“ Dichtung
6. Apologie

− Kostis Palamas

− Ein Grieche: Makrijannis

− „Kunst und Epoche“

− K.P. Kavafis, T.S. Eliot

− Angelos Sikelianos

− Kalvos. 1960

− Rede in Stockholm

− Die Sprache in unserer Dichtung

− T.S.E. – Tagebuchseiten

− Improvisationen über die Homerischen Hymnen
1. Dank der Hilfe des heiligen Ampelis
2. Delisches Tagebuch
3. Aphrodite Aineias

− Vorwort zur „Musikalischen Poetik“ von Igor Strawinsky

− „Stimmen“ bei Artemidoros aus Daldis

− Morgan Forster: Blick vom Schiefen Turm

− „Alles voller Götter“

 

Nachwort

Giorgos Seferiadis, der sich später Seferis nannte, wurde am 13. März 1900 in Smyrna geboren, einer kleinasiatischen Stadt, die, zum größten Teil noch von Griechen bewohnt, zum türkischen Reich gehörte. Sein Vater, Stelios Seferiadis (1873–1951), hatte in Frankreich studiert und war Dozent an der Juristischen Fakultät in Paris sowie Rechtsanwalt in Smyrna. Nebenher beschäftigte er sich mit Dichtung und übersetzte vor allem Gedichte und Stücke aus dem Altgriechischen und Französischen ins Neugriechische. 1902 wurde Seferis’ Schwester Ioanna geboren – die später seinen Freund Konstantinos Tsatsos heiratete – und 1905 sein Bruder Angelos.
Anfang des Jahrhunderts nahm die Unterdrückung der Griechen durch den türkischen Staat bedrohliche Ausmaße an, zumal sich immer mehr griechische Gebiete gegen das osmanische Reich auflehnten und nacheinander abfielen. Der meist nicht-chauvinistische Gedanke an ein Griechenland, zu dem – wie in der Antike – auch Kleinasien gezählt wurde, wurzelte tief im Denken aller kleinasiatischen Griechen. Im Vorort Skala, wo die Familie die Sommerferien verbrachte, wuchs Seferis’ Leidenschaft für das Meer, das später zum wichtigsten Topos seiner Lyrik wurde. In seiner Erinnerung verband sich Skala – der einzige Ort, den ich Heimat nennen kann“ – mit einer Harmonie, die niemals wiederkommen sollte. Als er 1951, also fast vierzig Jahre später, diese Gegend besuchte, hielt er in seinem Tagebuch fest:

Das Gedächtnis arbeitete mit absoluter Präzision: Ich habe das Gefühl, erst vor einem Jahr hier gewesen zu sein…

1914, kurz nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, zog die Familie nach Athen. Der Ehrgeiz des Vaters, sein Sohn möge in der Schule und im Studium der Erste sein, und der daraus erwachsende Druck auf ihn überschatteten die nächsten Jahre. Zur gleichen Zeit spaltete die aufflammende Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Königs, der an einen Sieg der Deutschen glaubte, und den Anhängern des republikanischen Politikers und mehrmaligen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos, der zur Entente hielt, die griechische Gesellschaft. Dieser Streit bestimmte die griechische Politik bis Mitte der dreißiger Jahre. Seferis – wie sein Vater ein Venizelist – war in zunehmendem Maße bestrebt, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, die ihm bereits die Ansätze für seine spätere Theorie von den „politischen Orthodoxien“ lieferte, die in vielen Essays durchschimmert: Gegenüber einer allein von Rhetorik und Eigennutz geprägten politischen Kultur, die für ihn mehr mit Fanatismus als mit Vernunft zu tun hatte, empfand schon der junge Seferis nur Abscheu. Als 1935, nach einem Putsch von Venizelos-Anhängern, die demokratischen Strukturen in Griechenland für Jahrzehnte beschädigt wurden, wandte er sich endgültig vom „politischen Spiel der Parteien“ ab. Aus der Ablehnung jeglicher Ideologisierung von Kunst erklärt sich zum anderen auch seine später vertretene These: „Die Autonomie der Kunst ist ein Axiom“, die ihn allerdings nicht als einen Anhänger der l’art pour l’art-Bewegung charakterisiert.
Der Vater, der in Paris als Rechtsanwalt großen Erfolg hatte, holte 1918 die Familie nach. Seferis blieb in der französischen Hauptstadt und studierte bis 1924 an der Sorbonne Jura, während seine Familie 1919 nach Athen zurückkehrte. Sehr bald entdeckte er hier die Dichtung von Jules Laforgue, den er einen „zehn Jahre älteren Bruder“ nannte. In dieser Zeit entwickelte sich in Paris der Surrealismus. Seferis, der die literarische Entwicklung in Frankreich und in Griechenland – von wo er sich regelmäßig Bücher und Zeitschriften kommen ließ – genau verfolgte, bewunderte die Dichtung von Paul Valéry, die von den Surrealisten abgelehnt wurde, teilte aber nicht dessen Theorie der reinen Dichtung. Seine Skepsis gegenüber der automatischen Schreibweise und der Hegemonie des Unbewußten bewahrte er sich bis in die dreißiger Jahre hinein, als er sich im Dialog und im Monolog über die Dichtung von der konsequenten Methode auch des griechischen Surrealismus distanzierte. Doch im literarischen Griechenland der zwanziger Jahre, da uneingeschränkt Kostis Palamas herrschte – der 1931 in einem Brief sein Unverständnis gegenüber Seferis’ Dichtung artikulierte −, gab es noch keine avantgardistische Bewegung. Seferis, für den bereits um 1920 feststand, daß er ein Dichter werden wollte – was für ihn mit Sprach-Arbeit zusammenfiel −, stellte sehr bald desillusioniert fest:

Um sich der Sprache widmen zu können, braucht man Geld.

Als Brotberuf betrieb er fortan, sein Studium und später die Diplomatie.
Dieser Zwiespalt und ein Gefühl der tiefen Einsamkeit, das Seferis nie mehr verließ; verursachten eine Melancholie, die sich in den ersten poetischen Versuchen und in den Briefen jener Jahre alptraumhaft niederschlug. Auch später läßt sich in seinen Tagebüchern diese Grundstimmung finden: „Absoluter Punkt: meine Einsamkeit“ (8.8.25). Seine Hoffnung, mit Hilfe der Literatur aus „dieser schrecklichen Isolation, dieser Verlassenheit, die Selbstmord in kleinen Raten bedeutet“, auszubrechen, erfüllte sich nicht. Er übersetzte John Keats und Théodore de Banville, las Homer, Rimbaud, Apollinaire, Lautréamont, Poe, Verlaine, Barbey d’Aurevilly, und Jean Moréas, über den er 1921 seinen ersten Vortrag im Klub griechischer Studenten hielt. Er begann auf Französisch zu schreiben – wofür er sich in einem Brief selbst verdammte – und war bestrebt, den romantischen Zug aus seinen griechischen Gedichten auszumerzen, die er zu Dutzenden vernichtete: Aus dem Zeitraum zwischen 1924 und 1930 nahm er ganze 17 Gedichte in seinen ersten Gedichtband Wende (1931) auf. Seferis beschäftigte sich ausgiebig mit der französischen Literatur – von Racine und Malherbe bis Baudelaire und Proust −, in der er sich immer mehr heimisch fühlte, was ihn in seiner poetischen Entwicklung nachhaltig beeinflußte und ihm später eine besondere Stellung innerhalb der griechischen Dichtung verschaffte. Die europäische Tradition gehörte seitdem in Seferis’ Selbstverständnis zum unabdingbaren Erbe eines jeden griechischen Schriftstellers, genauso wie die antike Tradition und wie jene Tradition, die mit den Evangelien begonnen hatte und in die demotische Literatur eingeflossen war. Angeregt durch seine Beschäftigung mit der französischen Lyrik setzte er sich mit dem Problem der „musikalischen Dichtung“ auseinander, entwickelte eine meditative Beziehung zur Musik – vor allem zu Bach, Debussy, Strawinsky, zum späten Beethoven −, aus der er bis in die dreißiger Jahre hinein zeitweise mehr schöpfte als aus der Dichtung. In einem Brief an die Schwester vom 4. Januar 1921 beschrieb er seine Verfassung wie folgt: „Alles, was ich sehe, wird in mir zu einem Thema, zu einer tragischen Konstellation; die ich ausdrücken möchte. Leider bringe ich nur meine Ideen aufs Papier und wiege sie womöglich in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt. Mein Schubfach ist zu einem Friedhof geworden… Von früh bis abends denke ich nur an die Kunst, alles andere ist für mich nebensächlich, und trotzdem sind die Resultate nichts, nichts, nichts. Denk dir wie schön ich schreiben würde, wenn ich ein Dichter wäre.“
Seferis erfuhr im Sommer 1922 von der kleinasiatischen Katastrophe – einem Ereignis, das, nach eigener Aussage, wie kein anderes seine psychische Struktur und seine Geisteswelt erschüttert und geprägt hat. Die griechische Armee, ausgezogen, um die „Große Idee“ zu verwirklichen und Kleinasien wieder nach Griechenland zu holen, wurde in der Türkei von den Truppen des Kemal Atatürk vernichtend geschlagen. Der Friedensvertrag von Lausanne, 1922 unterzeichnet, zementierte die noch heute gültigen Grenzen, und vereinbarte einen Bevölkerungsaustausch, der 1,5 Millionen Griechen zwang, ihre kleinasiatische Heimat zu verlassen und sich in Griechenland anzusiedeln. Für Seferis bedeutete dieses Ereignis den tiefsten Einschnitt in der jahrtausendalten Geschichte des griechischen Volkes: „Das, was man für gewöhnlich als ,griechische Diaspora‘ bezeichnete und wir das Genos der Hellenen nannten, war verschwunden. Zum ersten Mal, war das gesammte Griechentum, von einigen Ablegern abgesehen, innerhalb der Grenzen des griechischen Staates konzentriert.“ Noch 1947 schrieb Seferis, auf dieses Phänomen zurückkommend: „Wir sind uns dieses Ereignisses und seiner Auswirkungen noch immer nicht ganz bewußt.“
So begreift Seferis die kleinasiatische Katastrophe als eine nationale Wunde, die Folgen auch für das schöpferische Denken und Schreiben zeitigen müsse. Für die Politiker leite sich ohnehin eine größere Verantwortung ab. Nur aus dieser Überlegung heraus läßt sich Seferis’ Einsatz für Zypern in den fünfziger Jahren erklären, als er in seiner Funktion eines Sonderbotschafters maßgeblich an der Lösung des Zypern-Konflikts beteiligt war. Auf Zypern – „wo die Wunder noch funktionieren“ – „fühlt man (plötzlich) Griechenland weiter, größer. Das Gefühl, daß es eine Welt gibt, die griechisch spricht; griechisch ist. Die nicht von der griechischen Regierung abhängt, was dieses Gefühl der Weite überhaupt erst ermöglicht.“ (6.11.53) Der Zypern gewidmete Gedichtband Logbuch, III – der zwei seiner schönsten Gedichte enthält: „Helena“ und „Gedächtnis, II“ – und der Briefwechsel mit dem zypriotischen Maler Adamandios Diamandis zeugen vom Stellenwert dieser Insel in Seferis’ „Griechenland“-Verständnis.
Auch der schicksalhaft empfundene zweite Weltkrieg und der in Griechenland folgende Bürgerkrieg – der im Dezember 1944 zwischen der linken Einheitsfrontbewegung EAM und den von englischen Truppen unterstützten profaschistischen Bataillonen offen ausbrach und den Seferis im Exil vorausgesehen hatte – reihten sich für den Dichter ein in die Folge seiner „tragischen Visionen“, um einen Begriff von Giorgos Savidis zu gebrauchen. Nach den wiederholten Enttäuschungen im Außenministerium, dem für ihn schmerzlichen Tod von Venizelos 1935, dem Putsch des Generals Metaxas 1936, und der Unfähigkeit der griechischen Regierung, im Verlauf des zweiten Weltkriegs Entscheidungen im nationalen Sinne zu treffen, löste der Bürgerkrieg in ihm eine große persönliche, Krise aus. „Griechenland: ein gekreuzigter Körper, den alle tollwütig ans Kreuz nageln“, notierte er am 21. Dezember 1944 und am 1. Januar 1945: „Nichts Schrecklicheres als die letzten zwei Monate:“ Selbst ein Jahr später verfolgte ihn der Alptraum des Dezember: „Besser sterben, als das noch einmal sehen müssen.“ (6.12.46)
In dieser „dunklen und magischen Welt“ (6.7.42), deren herausragendes Merkmal die sinnlos verstrichene Zeit war, konnte auch die Literatur nicht mehr als ein totalitäres, abgeschlossenes  ästhetisches System aufgefaßt werden. Seferis versuchte, vielleicht um sich mit der komplexen Realität poetisch in Beziehung setzen zu können, in seinen Gedichten eine „körperliche Haltung“, die „Anwesenheit des menschlichen Körpers“, wie er es ausdrückte, zu bewahren: „Wenn sie mich einst verurteilen werden, dann wegen meiner sensualité“ – dieser Satz aus den Tagebüchern könnte als Credo über seinem dichterischen Konzept in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre stehen. Im modernen Ausdruckstanz fand er verwirklicht, was ein ideales Kunstwerk ausmachen müßte: Bewegung und Berührung. Nach einem Besuch des Balletts Frühlingsopfer von Strawinsky in der kargen und präzisen Choreographie von Vaslav Nijinski schrieb Seferis 1932 das poetologische Gedicht „Nijinski“, in dem der Tänzer mit dem Dichter verschmilzt. Diese Sehnsucht nach einer wirklichen Berührung, poetisch verarbeitet u.a. in den Gedichten „Raven“ und „König von Asine“, verfolgte ihn bis zu seinem Tod. Doch auch in seinem letzen Gedichtband Drei geheime Gedichte (1966) blieb diese Sehnsucht unerfüllt – blieb Sehnsucht:

Du mußt diesem Schlaf entkommen;
dieser gepeinigten Haut.

In diesem Sinne sind Seferis’ Gedichte und Texte seit Anfang der zwanziger Jahre bis zu seinem Tod als „work in progress“ zu sehen, Variationen zu einem Thema, das als Konstante seines Schaffens angesehen werden kann: zur Verantwortung des Dichters, die sich in dessen Verantwortung gegenüber der Sprache zeigt. Die Konzentration auf Sprache, bei Seferis durch die äußeren Umstände und seine psychische Befindlichkeit befördert, führte zu einer neuen poetischen Ausdrucksweise und befähigte die neugriechische Lyrik – wenn man an so unterschiedliche Dichter wie Ritsos, Elytis und Gatsos denkt – neue Sachverhalte auf originäre Weise zu verarbeiten. Nicht zuletzt profitierten auch oder gerade die Nachkriegsautoren (wie z.B. Takis Sinopulos, Manolis Anagnostakis und Nasos Vagenas) mit ihrer desillusionierten Weltsicht von der Präzision einer anti-rhetorischen Sprache, in der ein jedes Wort seine Gewichtigkeit zwischen den anderen Wörtern behaupten muß – was vor Kavafis und Seferis so nicht der Fall war:

Bei der Beerdigung von Giorgos Seferis, zwei Tage nach dessen Tod am 20. September 1971, nahmen Hunderttausende Athener an der Prozession teil, die zu einer Kundgebung gegen die damals herrschende Junta wurde: offenbar lag hier ein Mißverständnis vor. Die wenigsten nämlich kannten den, den man gerade zu Grabe trug, als Dichter oder gar dessen Bedeutung für die neugriechische Literatur im 20. Jahrhundert – obwohl ihm 1963 der Litetaturnobelpreis verliehen worden war; immerhin erschienen in den dreißiger Jahren die ersten fünf Gedichtbände von Seferis in einer Auflage von jeweils nur 50 bis 356 Exemplaren, die erst nach Jahren verkauft werden konnten, woran sich auch später nur graduell etwas änderte. Und auch als Politiker war er niemals in Erscheinung getreten, was solchen Zulauf hätte rechtfertigen können. Die Teilnehmer der Kundgebung sangen die Verse eines Mannes, den sie bis dahin kaum dem Namen nach kannten:

Noch ein wenig
wir werden die Mandelbäume blühen sehen
die Marmorsteine leuchten in der Sonne
des Meeres schäumende Wellen

noch ein wenig
erheben wir uns ein wenig höher noch.

Dieses und einige andere von Mikis Theodorakis Anfang der sechziger Jahre vertonte Gedichte; sowie Seferis’ 1969 verfaßte Erklärung gegen die Obristendiktatur hatten ihm die unverhoffte Popularität eingebracht. Dabei waren dieser Erklärung; der ersten und letzten öffentlichen „poIitischen“ Stellungnahme in seinem Leben, etwa vierzig Jahre LoyaIität als Diplomat gegenüber allen – auch monarchistischen, faschistischen und ulltrarechten – Regierungen von 1926 bis 1962 vorausgegangen, trotz seiner persönlichen Ablehnung einiger dieser Machtstrukturen. Wäre Seferis kein Dichter gewesen, der die „großen Ideen“ (gemeint sind: Dogmen) von seinem Werk fernhalten wollte, „um nicht als Künstler zerstört zu werden“ (13.5.33) – abgesehen davon; ob er sie kannte oder nicht −, könnte man darin einen gewichtigen Grund für jenes Mißverständnis sehen. Aber Seferis lebte in dieser Wirklichkeit als Diener „zweier Herren“ (1.3.27), wie er selbst bemerkte, dem Beruf (dieser „äußeren Unterwerfung, die mich mein Leben lang verwunden wird“) und seiner Berufung als Dichter durch die sorgsame Trennung von Privatleben und Dichtung einerseits und diplomatischem Beruf andererseits. Vergleichbar eher mit dem Reformator Goethe als mit dem Rebellen Beethoven, um ein vereinfachtes (nicht ganz stimmiges) Bild zu benutzen, das er selbst in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Giorgos Theotokas, gebrauchte. Er bewegte sich zeit seines Lebens, wie der Weimarer Dichter, fast ausschließlich im Umkreis des „Hofes“ und genoß dessen Rituale, was Theotokas im Vorwort zu seinem Briefwechsel mit Seferis sehr umsichtig beschreibt; seine „Rebellion“ (oder von ihm aus gesehen: sein Schmerz) – mächtig für die einen, dürftig für die anderen, da sie sich in leuchtenden dunklen Versen aussprach, wenn man an Gedichte wie „Drei geheime Gedichte“ oder „Drossel“ denkt – fand in seiner Kunst statt. Denn sein moralischer und patriotischer Anspruch war in keinem Augenblick seiner vierzigjährigen Beamtenlaufbahn mit der von der jeweiligen Regierung betriebenen Politik in Übereinstimmung zu bringen. Seferis blieb der Diplomatie verhaftet, was seine soziale wie poetische Optik beeinflußte, einengte und sie zugleich, im Bestreben aus dieser Enge auszubrechen, in andere – existentielle – Bereiche weitete. Seferis nennt gelegentlich die Regierenden, also seine unmittelbaren Vorgesetzten, in Tagebüchern und Briefen psychopathisch, verantwortungslos, verkrüppelt, engstirnig, durchtrieben und korrupt, bis er zur Schlußfolgerung gelangt: „Du mußt zu einer Mumie werden, um das alles auszuhalten… Das Gefühl, im Schlamm zu waten… Ich muß ein für allemal begreifen: Ernsthaftigkeit und Politik sind zwei wesensverschiedene Dinge.“ (18.11.42)
Doch Seferis’ Beamtentum provozierte nicht nur solchen Widerspruch, den er wiederholt in seinen Tagebüchern und Briefen – in gewissen Hinsicht: selbstquälerisch – festgehalten hat; es bedeutete zugleich die ständige Versetzung von einem Ort zum anderen. London, Koritsa, Alexandria, Kairo, Johannesburg, Ankara, Beirut, London heißen einige Stationen seiner diplomatischen Laufbahn zwischen 1931 und 1962. Nicht verwunderlich scheint daher, daß das Bild der „Reise“ und das der „neugriechischen Diaspora“ nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges den transparenten Hintergrund für seine Gedichte und Essays abgeben. Positiv gesehen, als einen wichtigen poetologischen Ansatz, hat es am ehesten Henry Miller, der Ende der dreißiger Jahre mit Seferis befreundet war, in seinem Buch Der Koloß von Marussi: „Alles, was er betrachtete, war griechisch in einer Art und Weise, die ihm nicht vertraut gewesen war, als er sein Land noch nicht verlassen hatte.“ Seferis’ Suche nach „Griechenland“ – „dieser unentrinnbaren Versuchung“ (16.2.25) −, die 1931 mit seiner Versetzung als Botschaftsrat nach London begann, bestimmte bis zu seinem Tod den Inhalt und die Struktur fast aller seiner Gedichte und Essays. Da ihm aber eine Identifkation mit dem Staat, dem er diente, zu keinem Zeitpunkt möglich war, schien ihm auch eine Identifikation mit seinem Land unmöglich, das er nur durch das Raster seines vom Beruf okkupierten Alltags oder seiner theoretischen, Studien zur Kulturentwicklung sah und in dem das Volk genauso wie seine politischen Führer korrumpierbar zu sein schien. Bei Seferis tritt das „Volk“ nur zweimal als selbstbewußte Kraft in, der neueren griechischen Geschichte auf: Während des Aufstandes gegen die türkische Herrschaft 1821- und im nationalen Befreiungskampf während des zweiten Weltkrieges. Damit ist nicht gemeint, daß sich Seferis nicht als Grieche fühlte, im Gegenteil, er fühlte sich eher als einer der letzten „Menschen des Griechentums“, die in Verbindung mit der „ewigen und vielgestaltigen griechischen Idee stehen“, wie er am 20. August 1932 Theotokas schrieb. Das Gefühl der Einsamkeit und der Verfügbarkeit des eigenen Lebens, steigerte sich ins schier Unermeßliche: „Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das Griechentum denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen“, notierte er am 5. Januar 1938 in seinem Tagebuch. Und etwas später, während Thomas Mann in den USA in seiner Rede über Arthur Schopenhauer der pessimistischen Gesinnung noch eine große Zukunft voraussagte, poetisierte Seferis eben diese Grundhaltung im Gedicht „Der letzte Tag“ oder in der folgenden Tagebucheintragung: „Das, was am schwersten wiegt, ist das Gefühl der Fäulnis, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen, raushängende Zunge, schlaue erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe sich noch leben?“ (27.11.39)
Um diese reale „Heimatlosigkeit“ – also das reale Griechenland – verdrängen zu können, um eine wenigstens geistige Heimat zu finden, entwickelte Seferis Mitte der dreißiger Jahre das „Dogma des Griechentums“, das losgelöst von den konkreten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen gedacht wurde, und die Vorstellung von einem „griechischen Volk“, das es so wohl nur in der Anschauung des Dichters gegeben hat. „Hellenismus“ nämlich, verstanden als „Gedanke der menschlichen Würde und Freiheit, nicht als historischer Begriff.“ (5.1.38) Aus solch einem Imptus heraus – das spezifisch „griechische Element“ in der neueren Literatur herauszuarbeiten – entstanden wohl auch die Reden zu Palamas und Sikelianos sowie der Essay zu Kalvos.
Der naive Maler Theophilos, auf den Seferis 1934 durch den Psychoanalytiker und surrealistischen Dichter Andreas Embirikos aufmerksam gemacht wurde, und der General Makrijannis, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Memoiren verfaßt hatte, galten ihm als Unterpfand und Substanz dieses „Dogmas“. In ihren Werken – die für Seferis in einer Traditionslinie mit der antiken Klassik und dem, was er selbst schreiben würde, standen – sah er echte Ergriffenheit und spontane künstlerische Vollkommenheit realisiert. Diese beiden Künstler erreichten seiner Meinung nach das, was für den Sensualisten Seferis die größte Aufgabe des Dichters darstellt: die Seele des Menschen zu berühren, ihn zu sensibilisieren. „Ich schreibe, wie jemand seine Adern öffnet“, steht am 7. September 1926 in seinem Tagebuch – zumindest eine pathetische Umschreibung für den existentiellen Wert der Dichtung in seinem Leben.
Auf der anderen Seite – und auf einer anderen, das heißt literarischen Ebene – standen für Seferis jene drei Dichter, die den künstlerischen Anspruch in die neugriechische Literatur einbrachten: Solomos, Kalvos und Kavafis – „unsere drei toten Dichter, die kein Griechisch sprachen“, mit denen sich Seferis zum Teil identifizieren konnte und mit deren Gedichten er sich sein Leben lang auseinandersetzte. Über Solomos hat Seferis zwar keine eigenständige Arbeit geschrieben, aber er fehlt in fast keinem der Essays. Wie diese drei Dichter sprach auch Seferis zunächst „kein“ Griechisch und lebte wie sie, jahrzehntelang außerhalb Griechenlands. Vor allem Solomos und Kavafis machten einen ähnlichen Prozeß der Suche und des Forschens nach einem ihrer Epoche adäquaten, poetischen Ausdruck durch wie Seferis. Bereits 1925, nachdem er sich fast sechs Jahre in Frankreich und England aufgehalten hatte, stellte er kaum in Athen angekommen, fest, daß „die Aufgabe der Jungen“ darin bestehe, „eine neue Sprache zu formen“ (25.7.25) und verglich sich darin wiederholt mit einem Handwerker. In der 1935 gegründeten Zeitschrift Nea Grammata veröffentlichte Seferis eine Reihe von Essays, in denen er folgende Wertvorstellungen verteidigte: die gesprochene Sprache Dimotiki; bestimmte Schriftsteller der älteren Generation wie Palamas und Sikelianos, die einigen Kritikern als „überholt“ galten; das Beste und Lebendigste, das außerhalb Griechenlands entstand, unabhängig von Schulen und persönlichen Neigungen; die Veröffentlichung von Texten jüngerer griechischer Autoren wie Elytis und Andoniou, die sonst keine Artikulationsmöglichkeit gehabt hätten.
Dieses praktische und theoretische Ringen um eine neue dichterische Sprache ging einher mit einem ausgiebigen Studium der englischen und vor allem der französischen Moderne. Seine Schwester Ioanna Tsatsou berichtet, mit welcher Ausdauer und Beharrlichkeit Seferis 1927/28 ein Kapitel aus Valérys Monsieur Teste übersetzte und an seinem Stil arbeitete, „einem einfachen Stil“ – wie sie schreibt – in der Dimotiki, neben sich die Bücher von Solomos und Makrijannos. Seferis, für den sich der Mensch im Stil offenbart, entdeckte sein Griechenland zunehmend im griechischen Wort. Als er seine Gedichtbände Wende (1931) und Mythistorima (1935) herausbrachte, hatte er die Erneuerung der dichterischen Sprache nicht nur angestrebt, sondern auch erreicht. Gewichen waren der Pomp, das Pathetische und das überschwenglich Poetische der Poeme und Gedichte der bis dahin vorherrschenden Dichter Palamas, Sikelianos und ihrer Epigonen einem prosaischen, kompakten, gestischen Ausdruck. Im Gegensatz zur Manier der Neo-Symbolisten Uranis, Agras, Lapathiotis und zur Strömung des Kariotakismus, die vor allem nach dem Selbstmord von Kostas Kariotakis 1928 dessen Weltverneinung als poetisches Lebensgefühl übernahm, nicht aber dessen literarische Qualität, befreite Seferis seine Dichtung von jedem unnötigen Ballast und reinigte sie von jedweder „Ästhetisierung“. An die Stelle der bis dahin üblichen Dithyramben auf Liebe, Natur und Nation trat eine pessimistische Grundstimmung, die das, was man Modernes Bewußtsein oder Tragische Weltanschauung nennt, zu poetischen Bildern verdichtete. Eingang ins Gedicht fanden Tagebuchaufzeichnungen, Zitate, Träume, die Probleme des Dichters mit dem Gedicht, Fragmente aus anderen Gedichten. Ähnlich assoziativ entstanden auch viele Essays, von denen einige aus Tagebüchern kompiliert wurden. Und nur, weil sich Seferis nicht an die (auch eigene) theoretische Forderung nach dem spezifisch „griechischen Element“ in der Dichtung gehalten hat, sondern sich nach den Standards der „Weltpoesie“ richtete, blieb seine Dichtung auch nach 1940 substantiell, als sich die jüngeren Dichter wie Sinopulos und Anagnostakis zunehmend gegen das „Dogma des Griechentums“ wandten, weil sie in ihm keine Notwendigkeit sahen.
Die Ferne zu der bisherigen poetischen Praxis in Griechenland – mit Ausnahme Kavafis’, der aber in Ägypten gelebt hatte und in Griechenland aus mehreren Gründen noch unbekannt war – zeigt sich auch darin, daß Seferis ganz richtig bei keinem zeitgenössischen griechischen Dichter Anfang der dreißiger Jahre ähnliche Bestrebungen oder Tendenzen erkannte, wohl aber bei T.S. Eliot, dessen Gedichte er 1931 kennenlernte, was ihn zur Feststellung veranlaßte, Eliot sei der erste Dichter, den er beeinflußt habe: Und während Eliot seine apokalyptischen Bilder im Wüsten Land der Großstädte ansiedelt, beschreibt Seferis im Gedieht „Argonauten“ die als utopielos empfundene Welt mit dem Bild des auf den uferlosen Meeren umhertreibenden modernen Ulysses:

Was suchen denn unsere Seelen reisend
auf verfaultem Meergehölz
von Hafen zu Hafen?

− um vielleicht damit sein eigenes Unterwegs-Sein zu reflektieren. „So verbringen wir unser gesamtes Leben, einige Bretter umklammernd, die früher unser schönes Schiff waren“, steht in einem Brief von 1923 an seine Schwester Ioanna und die einzige Hoffnung, die er sein Leben lang nährte – „den Menschen zu finden, wo er auch ist“, so formuliert in seiner Nobelpreisrede von 1963 −, versuchte er sich durch das Auswerfen von „Flaschenpost“, in die er seine Gedichte steckte, zu bewahren.
So wäre die zunehmende Anerkennung seiner Dichtung und jene Manifestation anläßlich seiner Beerdigung doch kein Mißverständnis, sondern die Konsequenz seiner Suche, nach „Griechenland“, bis ihn Griechenland zur Stunde des Todes selbst fand? Daß die Obristen ebensowenig mit seiner Auffassung von „Griechenland“ übereinstimmten wie die Regierungen zuvor, machte er nicht nur mit seiner Erklärung von 1969 deutlich: Aus Protest gegen die Junta veröffentlichte Seferis seit dem Putsch 1967 nichts mehr in Griechenland und lehnte am 27. Dezember 1967 in einem (nicht-offenen) Brief an Franklin Ford von der Harvard Universität das Angebot zu den berühmten Poetik-Vorlesungen für das akademische Jahr 1969/70 mit einer Begründung ab, die seinen Standpunkt und seine Tragik eindeutig umreißt: „Ich gehöre keiner Partei an, weder der Rechten noch der Linken. Ich beschäftige mich ausschließlich mit der schöpferischen Arbeit; und genau hier beginnen die Probleme. Wie Sie wissen, wurde seit dem vergangenen Frühling in meinem Land eine Zensur verhängt; und ich denke, daß das geschriebene Wort ohne die Freiheit des Ausdrucks nicht gedeihen kann; ich meine nicht nur meine eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit eines jeden andern, meine Ideen zu bekämpfen (…) Wenn es im eigenen Land keine Freiheit des Ausdrucks gibt, dann gibt es sie nirgendwo auf der Welt. Der Zustand des Selbstexilierten gefällt mir nicht; ich will aber bei meinem Volk bleiben und sein Schicksal teilen…

Asteris Kutulas, Nachwort, Frühjahr 1989

 

Giorgos Seferis (1900–1971)

beruft sich mit dem Ausspruch „Alles voller Götter“ auf Thales von Milet, um am Beispiel des antiken Tempels bewußtzumachen, daß rationales Verständnis allein für die Kunstbetrachtung nicht ausreicht. „Wir brauchen den Glauben an diese antiken Zeichen, den Glauben, daß sie ihre eigene Seele haben. Dann erst wird man in einen Dialog mit ihnen eintreten können, seine Seele in der Seele der Marmorbauten auf der Erde, auf der sie stehen, spiegeln.“ In dieser Hinsicht besteht für Seferis Übereinstimmung in der Sprache von Architektur, Dichtung, Malerei und Musik. Während Paul Valéry rigoros erklärt, daß sich die toten Sprachen in Vergessenheit auflösen werden und im Grunde genommen kein Mensch fähig ist, die Gefühle von Homers Helden nachzuempfinden, stellt Seferis Kommunikation, die von den geschichtlichen Wurzeln ausgeht und auf elementare Weise zu künstlerischer Äußerung führt, als ein existentielles Problem heraus. Dabei betont er gegenüber T.S. Eliot, der die autokratische Linie Vergils favorisiert, die Linie Homers in der europäischen Literatur. Über allen Divergenzen steht sein Credo in der Nobelpreisrede von 1963: „Ich glaube, daß die von Angst und Unruhe beherrschte moderne Welt, in der wir leben, die Dichtung braucht.“

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1989

 

Zu Besuch bei Maro Seferiadis im Oktober 1985

In Athen lässt sich die Strecke Kato Patissia, Korakas 39 – Kolonaki, Aghras 20 sogar halbwegs zu Fuß bewältigen. Dennoch sind die einstigen Wohnadressen von Jannis Ritsos und Giorgos Seferis um Horizonte auseinander. Nach den literarischen Koordinaten befand man sich mit Ritsos in der Welt bei Louis Aragon, Paul Eluard, Wladimir Majakowski, Pablo Neruda und – nicht zu vergessen – beim aus Thessaloniki stammenden, zu Lebzeiten ausgebürgerten und erst 2009 postum repatriierten türkischen Nationaldichter Nazim Hikmet. In dem sehr aparten Innengarten der auf dem Gegenhang des Olympiastadions stehenden Seferis-Villa gab es eine Fotografierecke, und auf den dort entstandenen Fotos waren zu bewundern z.B. Ezra Pound oder Henry Miller, die zum Seferis-Kosmos ebenso gehörten wie Paul Valéry, Paul Claudel, Pierre Jean Jouve, T.S. Eliot und Edward Morgan Forster. Das Entrée zu Maro Seferiadis hatte ein Telefonat von Jannis Ritsos bewirkt. Unvergesslich seine Frotzelei auf die Frage, woran ich denn bei der Witwe des Dichters sein würde: „Früher eine schöne Frau, jetzt eine schöne Ruine“. Anlass meiner Aufwartung bei der überaus freundlichen, nach einer Schenkelfraktur im Rollstuhl sitzenden älteren Dame war allerdings weniger ein Kranken-, sondern ein Bettelbesuch. Für die von Asteris Kutulas erarbeitete Essay-Auswahl musste über die Übersetzungsrechte befunden werden. Reclam Leipzig erhielt nur in Ausnahmefällen die gesamtdeutschen Rechte, und da sich der Verlag alles andere als reichlich mit Devisen gesegnet sah, war zu verabreden, dass die Tantiemen über eine Sublizenz des Suhrkamp-Verlags verrechnet werden sollten, was dann auch geschah. Mit Hingabe wurde das Porträtfoto ausgewählt, das auf die Rückseite des Schmutztitels kommen sollte: Seferis im Halbprofil, davon der Schatten auf der Bücherwand im Hintergrund, mit in sich gekehrtem Gesichtsausdruck, in einem Buch lesend, auf dem Buch die rechte Hand, in der Linken die Tabakpfeife, das Hemd bis oben geschlossen, darüber ein legerer Westover – ein zwar „gestelltes“, aber trotzdem ein für den Porträtierten einnehmendes Foto. Auf einer anderen Fotografie von weniger privater Ausstrahlung und ohne die Lesebrille mit schwarzem Rahmen war der Blick dem Betrachter zugewandt. Doch weil die starken Augenbrauen die Augenpartie durch einen dunklen Schatten überdeckten, erhielt dieses Motiv nicht den Zuschlag. Mit der Widmung versehen „Gia ton k. Horst Möller me tin filia mou. Maro Seferis“ wurde dieses Bild dem vorher im Diarium verewigten Gast überreicht. Auch in die Hand gedrückt, allerdings nur zum Bewundern, bekam er noch ein anderes Utensil, das von symbolhafter Bedeutung, aber in diesem, im ursprünglichen Zustand belassenen einstigen Arbeitszimmer von eher akademischem Gepräge eigentlich ein verwunderlicher Fremdkörper war. Olivenbauern eines entlegenen Dorfes hatten dem Jubilar zum 70. Geburtstag einen aus einer Ölbaumwurzel geschnitzten monströsen Aschenbecher zum Geschenk gemacht. Mag diese Geste als noch so marginal erscheinen, bringt sie dann doch gleichsam etwas mit Jannis Ritsos Verbindendes zum Ausdruck: Auch für ihn war es Genugtuung, dass diejenigen, die ihn in seiner unmittelbaren Umgebung während der Jahre in Karlovasi auf Samos gemieden und das über ihn von der Junta verhängte Isolationsgebot eingehalten hatten, danach, als der Spuk vorbei war, am Meeresufer einen grandiosen Dichterthron errichteten und der Straße, deren Anwohner er war, seinen Namen gaben. Sowohl Seferis als auch Ritsos haben zu Lebzeiten jeder auf seine Weise erfahren, um nicht zu sagen: erleiden dürfen, was Seferis in die Worte fasste: „Je länger die Anomalie dauert, desto weiter schreitet das Verhängnis fort.“ Es ist dringender denn je geboten, sich beider Dichter aufs Neue zu vergewissern, ihr Werk zu unserem täglichen Brot zu machen und uns das von ihnen auf unverwechselbare Weise tief ausgelotete Gerechtigkeitsempfinden zur Ermutigung dienen zu lassen.

Horst Möller, die horen, Heft 249, Wallstein Verlag, 1. Quartal 2013

Die Maske des Archaischen

In dieser rasch schrumpfenden Welt braucht jeder von uns den anderen. Wir müssen den Menschen suchen, wo immer er sein mag. Auf dem Wege nach Theben begegnete Ödipus der Sphinx und beantwortete ihr Rätsel mit „Der Mensch“. Dieses einzige Wort vernichtete das Ungeheuer.

So äußerte sich Giorgos Seferis 1963 in Stockholm, als er den Nobelpreis erhielt.
Der Dichter, bis dahin nur wenigen Kennern in seinem Land und in der übrigen Welt vertraut, war von Beruf Diplomat. Mit bürgerlichem Namen hieß er Giorgos Stylianos Seferiadis. Am 29. Februar 1900 in Smyrna, dem heutigen Izmir, geboren, wurde er zusammen mit seiner Familie von den Türken aus seiner Heimatstadt vertrieben. Und dieses Erlebnis der Flucht sollte sich wiederholen, als im Zweiten Weltkrieg die Deutschen den Balkan besetzten und Seferis, der in den dreißiger Jahren in England und in Albanien Botschaftsdienst versehen hatte, mit der griechischen Regierung zunächst nach Kreta und dann nach Ägypten und nach Südafrika ausweichen mußte.
Als Lyriker ging Seferis nicht auf die politische und soziale Lage seines Landes ein. Wo er es doch gelegentlich tat etwa in der Reflexion Santorin über die gleichnamige Kykladeninsel (das Poem steht in dem Band Gymnopädie aus dem Jahre 1936) –, da geschah es nur auf eine indirekte Art, die das Konkrete im Gleichnishaften verschwinden ließ:

Wir blickten uns um und standen nackt auf dem Bimsstein
und sahen die emporgestiegenen Inseln
und sahen wie die roten Inseln versanken
in ihren Schlaf, in unseren Schlaf.
Hier standen wir nackt, in unsrer Hand hing
die Waage die sich senkte nach der Seite
des Unrechts.

Seferis empfand die soziale Misere als Teil des universellen Unglücks. Und in seinem Hauptwerk, dem – aus nur 24 Gedichten bestehenden – Mythischen Lebensbericht von 1935, wurde die Schuld des Menschen nicht (wie etwa bei Jannis Ritsos) als Versagen im Bereich gesellschaftlicher Verantwortung begriffen, sondern als etwas, das letztlich anthropologisch verursacht ist:

den Fremdling den Feind wir sahn ihn im Spiegel.

Seferis, der auf die Not wie auf ein ewig gültiges Muster verwies („… / Jene die einmal leben wo wir enden / … / mögen sie unser gedenken … // Wir die wir nichts besaßen werden sie lehren den Frieden.“), strebte als Künstler danach, der Existenz Sinn zu geben, indem er sie zu ihren Ursprüngen hin ,vertiefte‘. Wobei ihm freilich auch die Vergangenheit fast niemals Beispiele gesättigten Daseins lieferte, sondern – wie das Gedicht „Die Argonauten“ verdeutlicht – ebenfalls nur Bilder des Scheiterns vermittelte… eines Scheiterns allerdings, das von so großem Zuschnitt war, daß von ihm eine beinahe tröstende Wirkung ausging:

Doch die Fahrten nahmen kein Ende.
Ihre Seelen wurden eins mit den Riemen und Laschen
mit dem ernsten Antlitz des Bugs
mit der Furche hinter dem Ruder
mit dem Wasser das ihr Abbild in Stücke brach.
Die Gefährten endeten nacheinander,
gesenkten Auges. Ihre Ruder
bezeichnen den Ort am Strand wo sie schlafen.

Und, nach einem Strophenabstand, folgen die harten, mitleidlosen Worte:

Keiner erinnert sich ihrer. Gerechtigkeit.

Seferis überantwortet sich der Geschichte, und aus ihren Abgründen, wo sich die Fakten bereits in den Mythos verlieren, wird der suchende Blick reflektiert und gelangt in die Gegenwart zurück – um soviel fremder geworden, wie ihm in den Weiten von Raum und Zeit die Nichtigkeit des Menschen unauslöschlicher Eindruck geworden ist:

MICH REUT DER BREITE FLUSS

Mich reut der breite Fluß den ich durch meine Finger rinnen ließ
ohne einen einzigen Tropfen zu trinken.
Jetzt versinke ich im Gestein.
Eine kleine Föhre in der roten Erde,
weiter kein Weggenoß.
Was ich liebte ist dahin mit den Häusern
die im letzten Sommer noch neu waren
und dann einstürzten im Herbstwind.

Aus fader Augenblicklichkeit wird die Reise in die Vergangenheit angetreten. Aber die geistige Bereicherung, die durch das Eintauchen in die sinnträchtigen Momente des Einst möglich wird, führt zugleich zum Versäumen des real Gegebenen, das nur im Präsens hätte erfahren werden können. So aber bleibt lediglich die Unruhe, die Unrast:

Mit unseren abgebrochenen Rudern stachen wir wieder in See.

Während das Sein als zugleich auswechselbar und verlogen empfunden wird („Jeder von uns hat dir dasselbe geschrieben / und verschwiegen hat es jeder vor dem andern…“), wächst mit der Enttäuschung und dem Haß die Aggression:

… eine Last sind uns
die Freunde die nicht mehr wissen wie sterben.

Der Wunsch nach Abkapselung, der zunächst einem Verlangen nach Erkenntnis entsprang, verkommt mit der Zeit zu einer nutzlosen Trotzigkeit, die nicht mehr hoffen läßt, daß aus der Historie und dem Mythos noch Erfahrungen beigebracht werden können, die der Gegenwart nützlich sind:

Gewiß wollte ich allein sein, ich suchte
die Einsamkeit, aber ein solches Warten suchte ich nicht,
nicht dies Zerstückeln der Seele am Horizont,
dieses Liniengewirr, diese Farben und eine so große Stille.

Der Mensch, so wie er sich in der Dichtung von Seferis präsentiert, ist nicht nur in ständiger Gefahr, die tragische – und damit die einzig wesentliche – Komponente seines Schicksals zu versäumen („… im Kampf, wie es heißt, mit unechten Schwierigkeiten…“), der (neu-)griechische Mensch ist auch permanent davon bedroht, seinen Nachbarn, den Mitmenschen, zu verfehlen – ganz als sei das Leben nichts als ein böser Traum zwischen antiken Ruinen, ein Alptraum, durch den hindurch ein jeder auf labyrinthischen Pfaden wandelt, um stets aufs neue der Leere zu begegnen, der Unmöglichkeit:

Unsere Freunde sind fort
aaaaaaaaaaaaaaaavielleicht haben wir sie gar nicht gesehen, vielleicht
sind wir ihnen begegnet als noch der Schlaf
uns nah an die atmende Welle trug
vielleicht suchen wir sie nur weil wir das andere Leben suchen
das Leben jenseits der Statuen.

Die „Marmorbilder und tragischen Säulen“ bringen nicht mehr an Bedeutung in die Welt Seferis’ hinein, als sie ihr durch tote Schönheit an vitaler Unmittelbarkeit rauben. Seferis, wenn er Identität durch Hingabe an die Überlieferung zu gewinnen trachtet, überspringt die christlich-byzantinischen Phasen der nationalen Kultur und folgt schwermütig den Zügen der Argonauten:

Viele Kaps ließen wir hinter uns, viele Inseln, das Meer
das zum anderen Meer führt, Möwen und Robben…

Die Zukunft wirkt im Kontext dieser Poesie wie ein Spiegel, der lediglich Vergangenes enthält, nur Geschichte oder geschichtliches Echo, archaische Urlandschaft:

Unser Land ist verschlossen, nichts als Berge
auf denen Tag und Nacht die niedrige Decke des Himmels liegt…

Entvölkerte Dörfer zeigen den Stand des sozialen Lebens. Und Wassermangel („Wir haben keine Flüsse wir haben keine Brunnen wir haben keine Quellen, / einzig ein paar Zisternen…“) versinnbildlicht eine metaphysische Leere, die mancherlei Verwandtschaft mit der Ödnis von Eliots The Waste Land aufweist, jenem großen Gedicht, das gleichfalls einen zerscherbten Mythos zum Gegenstand hat und das Seferis zum anregendsten Dokument der modernen Lyrik wurde.
Der Surrealismus, mit dem der Dichter sich bereits vor seiner Begegnung mit Eliots Poesie, die 1931 erfolgte, vertraut gemacht hatte, lieferte weitaus weniger Impulse als das Werk Rimbauds, das zum anderen evozierenden Element wurde und mit zwei Versen aus Fêtes de la faim das Motto für „Mythischer Lebensbericht“ abgab:

Si j’ai du goût, ce n’est guères
Que pour la terre et les pierres.

Seferis, der einmal gesagt hat „Ich möchte einfach sprechen können, aber wir haben das Wort dermaßen mit Musik überladen, daß es langsam sinkt…“, mußte, wollte er nicht dem Klassizismus anheimfallen, sich an Schöpfungen nationaler Gegenwartskultur erfrischen.
So nutzte er einerseits die volksnahe neugriechische Sprache und andererseits das Werk Konstantin Kavafis’, eines Dichters, der aus seiner triebhaften Besonderheit die Impulse für ein erotisch-geistiges Spiel mit geschichtlichen Masken gewann, der aber in einzelnen Stücken auch die Sprache für eine fast unchiffrierte Beschreibung der psychologischen und sozialen Wirklichkeit jenes homosexuellen Milieus in Alexandria fand, zu dem er, der Sproß einer vornehmen Familie, Kontakte unterhielt:

Was soll bei Karten und Würfeln der Junge herausholen
In Kaffeehäusern seiner Schicht, volksmäßigen.
So schlau er auch spielte, so Dumme er auch wählte.

Das Angeschaffte, ja, das war danach.

Die Dichtung Seferis’ enthält, im Gegensatz zu der von Kavafis, kaum Geschlechtliches. Ihr ist es um das Setzen existentieller Markierungen zu tun:

Die Welt hat keine Griffe,
sie zu laden auf die Schultern und zu gehen…

Sogar das Körperliche, wo es sich aufdrängt und seine Ansprüche gegen das Primat des Gedanklichen anmeldet, hat es sich einer symbolischen Auslegung zu unterwerfen, wie ein Haiku aus dem Band Heft der Entwürfe von 1940 beweist:

Ernst und bedächtig
ihre hängende Brust
mitten im Spiegel.

Durch die Sinnlichkeit mehr irritiert als erfrischt, litt Seferis unter der Erkenntnis, wie befristet das Dasein ist und wie sehr selbst das Protokollieren unseres Scheiterns der Zeitlichkeit unterliegt:

Du schreibst:
die Tinte nahm ab
das Meer nimmt zu.

Das Leben bleibt fragmentarisch. Und Mann und Frau begegnen einander nur – wie in dem (eine Homergestalt paraphrasierenden) Gedicht „Der lüsterne Elpenor“ aus der Sammlung Die Drossel von 1947 – auf traumwandlerische Art, um fiebrige Worte zu tauschen und sich dann zu trennen:

Er schlug
den steilen Weg ein der zum Großen Bären hinaufzieht
und sie schritt auf den hellerleuchteten Strand zu
wo die Woge ertrinkt im Gebrüll aus dem Radio…

Weder kann die Liebe die Menschen zusammenhalten, noch vermag die moderne Welt der Technik und der Politik, die im Gedicht durch ein Rundfunkgerät repräsentiert wird, Bedingungen zu schaffen, die genügen:

Athen. Die Lage hat sich rapid
verschlechtert, Beunruhigung herrscht
in der Öffentlichkeit…

Der Weg des Mannes zum Sternbild des Großen Bären (ein Weg ins Transzendentale) kann nicht weiter verfolgt werden: weil da Nachrichten sind, sehr irdische Informationen, die sich ins Ohr drängen und die alles Interesse beanspruchen.
Seferis, der aristokratisch zurückblickende Dichter, hat sich gegen Ende seines Lebens von der aktuellen Szene nicht mehr abwenden mögen: „… seit einigen Monaten“, so schrieb er 1969 an die Londoner Times, „erscheint es mir in Anbetracht dessen, was ich selber empfinde und was man um mich herum fühlt, immer dringlicher, über unsere gegenwärtige Situation zu reden… Es ist fast zwei Jahre her, seit man uns ein Regime aufgebürdet hat, das aufs entschiedenste allen Idealen widerspricht, für die diese Welt – und in besonders glorreicher Weise unser Volk – im letzten Weltkrieg gekämpft hat…“. Der Dichter, der zuvor versucht hatte, sich aus dem politischen Meinungsstreit herauszuhalten, entschloß sich nun aus Protest gegen die Diktatur der Obristen zum Opfer des literarischen Schweigens. Und paradoxerweise brachte ihm, dem Esoteriker, dessen wichtigste Bücher lange Zeit hindurch nur in Auflagen von 50 bis 200 Exemplaren verbreitet waren, gerade diese künstlerische Abstinenz schließlich eine Popularität, wie sie einem Lyriker nur selten zuteil wird.
Als Seferis im September 1971 starb, folgte seinem Sarg durch die Straßen Athens ein nach Tausenden zählender Zug, in dem sich neben seiner Witwe, ausländischen Diplomaten und konservativen griechischen Politikern viele Namenlose befanden, die eines seiner Gedichte in der Vertonung von Mikis Theodorakis sangen und in Sprechchören Freiheit und Demokratie verlangten.

Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation in: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske. Essays, Claassen Verlag, 1974, Hier in Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens. Essays über 33 Schlüsselfiguren der Moderne, Wallstein Verlag 2008 revidiert.

 

 

Asteris Kutulas über Seferis

Kuno Raeber: Giorgos Seferis in Athen
DU, Heft 3, März 1964

Zum 1. Todestag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Zur ersten Wiederkehr des Todestages von Seferis
Die Tat, 16.9.1972

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Die schwierige Suche nach Griechenland
Neue Zürcher Zeitung, 19.2.2000

Zum 50. Todestag des Autors:

Philipp Haibach: Alles voller Götter
der Freitag, 20.9.2021

Christoph Schmitz-Scholemann: Giorgos Seferis – Griechenlands Diplomat der Poesie
Deutschlandfunk, 20.9.2021

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Giorgos Seferis liest To Fos.

 

Giorgos Seferis – Kurzer griechischer Dokumentarfilm.

 

Vorschau auf den griechischen Dokumentarfilm Log books: George Seferis.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00