Günter Kunert: Zu Dagmar Nicks Gedicht „Hybris“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Dagmar Nicks Gedicht „Hybris“ aus Dagmar Nick: Fluchtlinien. –

 

 

 

 

DAGMAR NICK

Hybris

Wir sind nicht mehr die gleichen.
Uns ätzte das Leben leer.
Es gibt keine mystischen Zeichen,
es gibt kein Geheimnis mehr.

Wir treiben durch luftlose Räume
erloschenen Angesichts.
Die Nächte verweigern uns Träume,
die Sterne sagen uns nichts.

Wir haben den Himmel zertrümmert.
Das Weltall umklammert uns kalt.
Der Tod läßt uns unbekümmert.
Wir haben Gewalt.

 

Tragische Folgen

Manchmal haben Binsenweisheiten und Banalitäten das Recht, angemerkt zu werden. Etwa diese, daß unser Dasein oder, bescheidener gesagt, unsere Biographie der Herrschaft des Zufalls unterworfen ist. Was wir werden, was sich an uns vollzieht und dabei wie Schicksal ausschaut, stammt häufig genug aus der Hand anderer Mitmenschen, ohne daß diese, ohne daß wir davon ahnen. Eine solche Zufallskonstellation mag Dagmar Nick zum Schreiben veranlaßt und später zu ihrer Entdeckung geführt haben. Da auch an meiner literarischen „Wiege“ der Zufall Pate stand, und zwar im gleichen Jahrzehnt, schien mir die obige Präambel vonnöten. Gerd Kalow erwähnt im Nachwort zu Dagmar Nicks vorletztem Gedichtband Fluchtlinien wie beiläufig einen Umstand, der damals sich so oder ähnlich für junge Autoren abgespielt hat: Erich Kästner, im ach so fernen Jahre 1945 Redakteur der Neuen Zeitung, druckte dort selbst das erste Gedicht der damals erst Achtzehnjährigen. Ich habe ihre Gedichte zuerst in der Zeitschrift Ulenspiegel gelesen, wo Wolfgang Weyrauch nur kurze Zeit danach meine ersten Gedichte veröffentlichte. Wir, Dagmar Nick und ich, sind, einem billigen Wortspiel zufolge, die „Dichter der ersten Stunde“ – ich wahrscheinlich schon der zweiten.
Wir sind beide nicht ausschließlich beim Gedicht geblieben, sondern vom Pfade der lyrischen Tugend immer wieder abgewichen. Dagmar Nick hat auch eines Tages Hörspiele geschrieben, Prosa, Reisebücher und bis dato vier Gedichtbände publiziert. Aber es ist keineswegs immer die Fülle, die wesentlich ist.
Mich hat das Gedicht „Hybris“ nicht nur aus Gründen der Affinität zu gleichartigem Denken oder einer gewissen spezifischen Zeitgenossenschaft berührt, sondern weil ich es in bezug zu jenen Anfängen lese. Und mich dabei meiner (und nicht ausschließlich meiner) Hoffnungen, Illusionen und Träume erinnere. Ich stimme mit ein:

Wir sind nicht mehr die gleichen.
Uns ätzte das Leben leer…

Eher als das Leben aber doch die global gewordene Misere, das Syndrom aus suizidärer Verblödung und Vergiftung, aus Menschenüberschuß und Willensmangel, am Gang der Dinge noch etwas zu ändern, statt bloß daran herumzudoktern.
Dieses in sich widersprüchliche „Wir“, das seine seelischen und spirituellen Verluste beklagt und zugleich auf seine Fähigkeit wissenschaftlichen „Machens“ verweist, auf das Einverständnis mit Tod und Zerstörung, um in der Schlußzeile die einzige und letzte Kompensation für alles Verlorene zu nennen: „Gewalt“ – dieses „Wir“ umfaßt unsere schuldhafte Unschuld.
Aus einer gewaltbedingten Katastrophe vor über vierzig Jahren hervorgegangen, ist uns nichts anderes beschert worden als weitere Gewalt, auch wenn diese heute eine andere Erscheinungsweise zeigt. Aus der einstigen Gewalt gegen Menschen (die partiell hier und dort immer wieder aufflackert) ist nun eine Gewalt gegen die Sache der Natur entstanden. Und nicht nur gegen die Natur in ihren biologischen, vegetativen Formen, sondern auch und erst recht gegen unsere Menschennatur, indem diese von uns selber gegen uns geübte Gewalt uns „instrumentalisiert“ und somit zu Mitteln für die uns nicht mehr erkennbaren Zwecke gemacht hat.
Die „frevelhafte Selbstüberhebung mit tragischen Folgen“, als welche der Titel übersetzbar ist, verweist zurück in die Antike, wo über das uns jetzt erreichende Verhängnis schon größere Klarheit bestand als gegenwärtig. Und obschon das Gedicht den Bestand mystischer Zeichen leugnet, ist es doch selber eines, wenn auch ein verspätetes und wahrscheinlich nicht gar so sehr mystisches.
Zwölf Zeilen in einer einfachen Sprache, sachlich, nüchtern, eben so, wie man das Schreckliche einzig Wort werden lassen kann. Selbst der nahezu triviale Reim, der uns in jedem anderen Gedicht minderen Ernstes und geringerer Ängste unerträglich erschiene, hier ist er die absolute Entsprechung für die Absicht: ein Menetekel an die Wand zu malen, welche bereits zu stürzen droht.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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