Günter Kunert: Zu Nicolas Borns Gedicht „Dies Haus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nicolas Borns Gedicht „Dies Haus“ aus Nicolas Born: Gedichte 1967–1978. –

 

 

 

 

NICOLAS BORN

Dies Haus

in dem wir wohnen
wird hinter uns abgerissen

Wir liefern die Schlüssel ab
beim Verwalter
so ist es

Es sind
ein paar Dialoge geschrieben
die andere sprechen

Die Bücher
machen das größte Kopfzerbrechen

Für die paar Tage bitte
keine Blumen mehr
nichts mehr einkaufen

Vier Stockwerke
das ist die Höhe

Wenn es soweit ist
muß alles sehr schnell gehen

 

Im Hause des Lebens

Dieses Gedicht, das wir hier lesen und das wir, bevor wir die Seite umblättern, schon wieder vergessen haben, ist gleichwohl ein exemplarisches Gedicht. Mit einer wissenschaftsartigen Metapher ausgedrückt: Es enthält ein Grundelement, das ihm sein spezifisches Gewicht verleiht. Dieses Grundelement mag im Zeitalter verlorengegangener ästhetischer Maßstäbe als eines der letzten unbezweifelten Kriterien „echter“ Lyrik dienen: Es ist die Gleichnishaftigkeit. Was der Lyriker uns da über einen ganz offenkundig unfreiwilligen Wohnungswechsel mitteilt, ist, entgegen seiner Umgangssprachlichkeit, eben doch mehr als nur eine Mitteilung in einer besonderen, optisch bestimmten Schreibweise.
Geringfügige Veränderungen, die wie unbeabsichtigte Verstöße gegen die sprachliche Logik aussehen, schaffen Irritation. Schon der Anfang klingt bedrohlich, allein weil die gewohnte Kausalität aufgegeben ist. Denn das Haus wird ja nicht abgerissen, nachdem man es (normalerweise) verlassen hat, sondern man wohnt noch darin, und der Abriß vollzieht sich sozusagen hinter unserem Rücken, also auf unangekündigte, heimtückische Art.
Und wie wir gar die Schlüssel abliefern! Nämlich mit einem resignierenden, die Endgültigkeit und „ewige Wiederkehr“ des Vorganges markierenden „So ist es“ – das zeichnet mit diesen drei Wörtchen die Kapitulation und die Aufgabe jeglicher Hoffnung nach, noch einmal irgendwann später im umfassenden Sinne behaust zu sein. Und wer eigentlich hat die Dialoge geschrieben, welche von anderen gesprochen werden, da wir, das „Wir“ des Gedichts, anscheinend verstummt sind? Mit der Wendung: „Es sind ein paar Dialoge geschrieben…“ weist das Gedicht-Subjekt wie der dahinter residierende Autor für diese Dialoge jede Urheberschaft zurück. Wer aber ist dann deren Verfasser? Die Darstellung der Dialogentstehung als eines neutralen Geschehens hebt letzteres in den Bereich von Naturereignissen. Als seien diese Dialoge vom Himmel gefallen, inhaltslos vermutlich, nur zum nichtigen Zweck steter Wiederholung geschaffen. Als Kontrast zu ihrer Banalität bieten sich die Bücher an und verlocken zu einem Aphorismus, geschaffen aus der realen Erfahrung des umziehenden Bibliotheksbesitzers und dennoch darüber hinausgehend: diese vierte Strophe. Weil auch das „Kopfzerbrechen“ doppelsinnig erscheint: Einmal als Witz und zugleich als Signal, liest man es erneut von den anschließenden Überlegungen her.
Warum keine Blumen mehr? Für welche paar Tage nicht mehr? Was steckt dahinter, daß einzukaufen nicht mehr lohnt? Handelt es sich um einen Auszug ohne neues Wohnziel? Nach dem Einkaufsverzicht wirkt der Scherz, daß vier Stockwerke die Höhe seien, gar nicht mehr komisch – noch dazu, daß es sehr schnell gehen muß, wenn es soweit ist, was unabweislich suizidäre Assoziationen hervorruft, verbunden mit zweierlei Verstehensmöglichkeiten: einer aktiven und einer passiven. Und zwar daß einerseits Schnelligkeit wünschenswert wäre, „wenn es soweit ist“, und daß andererseits so etwas wie nachdenklicher Trost über das beruhigend rasche Tempo die Reflexion grundiert.
Ohne es als Symbol überstrapazieren zu wollen, rückt das Gedicht seinen Gegenstand, „dies Haus“, in die Nähe dessen, was man früher in ungebrochener Naivität das „Haus des Lebens“ nannte. Freilich sei eingestanden, daß der viel zu frühe Tod des Dichters – er wäre vor wenigen Tagen fünfzig Jahre alt geworden – nicht ohne Einfluß auf meine Lesart geblieben ist; das Gedicht hat für mich im nachhinein eine zusätzliche Bedeutsamkeit bekommen, die vielleicht ursprünglich gar nicht darin angelegt ist. Aber wie in den Naturwissenschaften die Komplementär-Theorie davon ausgeht, daß der Untersuchende und das Untersuchungsobjekt nicht säuberlich voneinander getrennt sind und aufeinander einwirken, so wenig ist Objektivität beim Interpretieren von Gedichten möglich: Zum Glück für die Lyrik.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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