Günter Kunert: Zu Paul Scheerbarts Gedicht „Kein Gedicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Scheerbarts Gedicht „Kein Gedicht“ aus Paul Scheerbart: Katerpoesie und Die Mopsiade. –

 

 

 

 

PAUL SCHEERBART

Kein Gedicht

Ich möchte so gern wie ein Vogel
Durch die Lüfte fliegen.
Ich möchte so gern wie ein Löwe
In der Wüste liegen.
Ich möchte so gern wie ein König
die lange Weile besiegen.
Doch der Glanz der ewigen Sonnen
Begeistert mich heute nicht.
Ich habe Vieles begonnen.
Doch das macht noch kein Gedicht.

 

Der Einzelgänger, der nichts vollendet, aber vieles begonnen hat

Trotz des verneinden Titels handelt es sich eindeutig um ein Gedicht, und das keineswegs seiner Form wegen. Es zeigt, mit ironischer Leichtigkeit, eine Grundverfassung des Dichters überhaupt: gescheitert zu sein. Er gleicht einem Sisyphos, der die Sprache zu bewältigen sucht, ohne jedoch ihrer gänzlich Herr zu werden. Immer bleibt ein Ungenügen zurück. Gedichte zu schreiben gleicht einer Gratwanderung, vom Absturz ins Banale ständig bedroht. Darum kennen wir von bedeutenden Lyrikern manches Mißlungene und Triviale.
In den ersten sechs Zeilen formuliert Scheerbart unernst ein Verlangen, das keinem Autor fremd ist: nach Aufschwung, nach gespannter Kraft, nach Herrschaft über die Zeit, ja sie besiegen zu können. Aber vom „Glanz der ewigen Sonne begeistert zu sein“, also einer Inspiration Folge zu leisten, ist ein dem Dichter selten zugestandenes Geschenk unbekannter Herkunft. Gedichte kann man nicht erzwingen. Vieles begonnen zu haben heißt: nichts vollendet. Das sagt Scheerbart zwar nüchtern und ohne Larmoyanz, doch mit einer gewissen Resignation.
Zugleich enthält das resümierende Bekenntnis die unausgesprochene Frage, was denn eigentlich ein Gedicht ausmache, aus welchen Quellen es sich speise. Nun, dafür kennen wir zahllose Erklärungen, da jeder Lyriker seine eigene Poetologie hat und sein individuelles Selbstverständnis, aus denen er die Ursachen für seine ungewöhnliche Tätigkeit zu verstehen sucht. Weiß der Dichter wirklich über sich selber Bescheid? Hilde Domin schrieb einmal klarsichtig:

Jedes Gedicht ist klüger als sein Autor!

Das meint, der Gedichtemacher besitze keineswegs völlige Klarheit über sein persönliches Wirken. Insofern ist Scheerbarts indirekte Frage eine des lyrischen Schaffens überhaupt. Allgemeingültig zu beantworten ist sie nicht, auch wenn sich der Leser so etwas wie eine gültige „Richtlinie“ wünschte.
Wie andere Schriftsteller der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ist auch Scheerbart nebst seinen beiden Gedichtbändchen Die Mopsiade und Katerpoesie in Vergessenheit geraten; letzteres übrigens die erste Publikation des jungen Ernst Rowohlt. Die Lebensdaten – 1863 bis 1915 – markieren die scheinbare Intaktheit einer längst vergangenen Bürgerlichkeit, der sich jedoch mehr und mehr Intellektuelle und Künstler entzogen. Scheerbart, am Alkohol zugrunde gegangen (daher „Katerpoesie“) wurde von namhaften Zeitgenossen geschätzt: von Erich Mühsam, Albert Ehrenstein, von dem Architekten Bruno Taut und von Herwarth Walden, in dessen avantgardistischer Zeitschrift Der Sturm unser Autor seine Texte veröffentlichte, darunter Satiren im Gewand der Utopie. Nahezu prophetisch eine Satire mit dem Titel „Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Landheere, Festungen und Seeflotten“. 1909 den Luftkrieg beschworen zu haben, verdankte Scheerbart wohl weniger den Phantasien seiner Räusche als den unter Künstlern grassierenden Vorahnungen der europäischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges.
Scheerbart zählt sicherlich nicht zu den Großen der deutschen Literatur. Auf dem nationalen Olymp wird man ihn so vergeblich suchen wie in den Schulbüchern. Der Ruhm von gestern verweht schnell. Ewigkeitsgarantien für Schriftsteller werden nicht erteilt. Die Nachwehen erweisen sich oftmals als rabiatere Richter als die zeitgenössischen Kritiker. Immerhin sei Scheerbart eine Nische im luftigen Reich der Literatur gegönnt, und wäre es der Platz eines Spaßvogels und Narren, welch letztere bekanntlich ihrem König, diesenfalls dem Publikum, die Wahrheit, zumindest ihre Wahrheit sagten. Eine solcher Wahrheiten wollen wir uns jedenfalls nicht verkneifen. Unter der Überschrift SCHLUSSWEISHEIT lesen wir:

Wer sich mit anderen verbindet,
Auf Erden niemals Ruhe findet.

Der Einzelgänger Scheerbart hat seine Ruhe gefunden – möge sie sanft sein.

Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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