Gustav Seibt: Zu Heiner Müllers Gedicht „Traumwald“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Heiner Müllers Gedicht „Traumwald“ aus dem Band Heiner Müller: Werke 1 – Die Gedichte. –

 

 

 

 

HEINER MÜLLER

Traumwald

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
Er war voll Grauen Nach dem Alphabet
Mit leeren Augen die kein Blick versteht
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
Die letzte Tagesspur ein goldener Strich
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.

 

Einklänge

In seinen letzten Lebensjahren spielte Heiner Müller die Rolle eines Dämons des Übergangs. Er verkörperte geteiltes und wiedervereintes Deutschland gleichermaßen, war auf beiden Seiten der inneren Staatsgrenze und der epochalen Zeitgrenze heimisch, ein Mann der Geschichte und unstrittig gegenwärtig. Seine Phantasie blieb gebannt von den Schrecken der Jahrhundertmitte, von Holocaust, Kesselschlacht und Stalinismus. Seine panische Neugier galt den neuesten Metamorphosen des siegreichen Kapitalismus, der sich die ganze Welt zu unterwerfen anschickt. Müller war tragisch und postmodern, sehr deutsch und weltläufig, Erbe Brechts und Leser Jüngers, beeindruckt von französischer Zeitdiagnostik und von Ezra Pound, ein unübertrefflich freundlicher Zuhörer, dessen Zynismus für alle, die ihn persönlich kannten, wirklich, wie Grünbein ihm nachrief, nichts war als Güte. Die Schwärze seiner Kunst war bis zum Ende nicht pessimistisch, sondern messianisch; er hielt die gescheiterte kommunistische Utopie ohne Abstriche gegen die triste bürokratische Realität der DDR. So war ihm eine allseitige Verehrung sicher, und an den tagelangen Exequien haben Alte und Junge, Ostdeutsche und Westdeutsche mit gleicher Bewegtheit teilgenommen. Mit Müller beerdige man, so wurde empfunden, ein Stück des ganzen Jahrhunderts. Mit ihm verschwand einer, der es zusammensehen und zusammenhalten konnte. Danach war Schweigen. In Bayreuth und Berlin standen noch Müllers letzte Inszenierungen auf den Spielplänen, aber seine Stücke sind seither kaum noch gespielt worden.
Das teils verehrungsvolle, teils erschöpfte Schweigen nach Müllers Tod brach Botho Strauß. Sein Prosaband Die Fehler des Kopisten (1997) spricht, ohne ihn beim Namen zu nennen, vom „Dichter als Durcheinanderwerfer, als Prophet des selbstgefertigten Eschatons, der Ja-Sager zu Zerstörung und Entropie (natürlich, um kenntlich zu machen den Schmutz der Geschichte), der Dichter als Medienwurmfortsatz, wie jene allseits verehrte Artaud-Brecht-Chimäre, die ihren deftigen Grabeshauch schon zu Lebzeiten über Land und Kunst dünstete; deren zynisches Frohlocken, deren menschenverächtliche Gesellschaftsbegriffe mit beifälligem Nicken, zuletzt mit allen Ehrenzeichen des Staatsdichters belohnt wurden. In ihm erkannte das häßliche, sich selbst hassende, ewig spätexpressionistische Deutschland seinen ungeniertesten Repräsentanten.“
Diese eine besondere Haßtradition der deutschen Literaturgeschichte fortsetzende Verfluchung enthält bei aller Maßlosigkeit eine Charakterisierung seines Werks, die zu prüfen sich lohnt. Brecht-Erbschaft, Artaudsche Grausamkeit und expressionistische Geste sind darin unverkennbar, in verschiedenen Phasen von unterschiedlichem Gewicht. Auch der Einfluß Hölderlins ist spürbar, aber eines von Brecht überformten Hölderlin, wie ihn dessen Antigone-Bearbeitung zeigt, an die Müllers „Ödipuskommentar“ stilistisch anknüpft. Schon bei summarischer Lektüre wird man einen besonderen Müller-Ton ausmachen können, ein verzweifeltes Schleppen – vor allem in der späten Lyrik. Dieser Ton hängt stark am Metrum und hat nichts mehr zu tun mit expressionistischer Zuspitzung, sondern lebt vom Auslassen und Andeuten, oft von haiku-artiger, epigrammatischer Knappheit. Mit einem einzigen Buchstaben macht Müller aus Goethezeilen ein eigenes Gedicht:

Es fürchten die Götter
das Menschengeschlecht.

Wie reich die Einflüsse und Muster sind, läßt jetzt der vor kurzem erschienene erste Band der Werkausgabe im Suhrkamp Verlag, der die Lyrik unter ein Notdach gebracht hat, erkennen. Auffällig ist dabei der Rückgriff nicht nur auf Brecht, das beherrschende Vorbild der ersten Jahre, nicht nur auf das Volkslied der Romantik, auf Epigramm und Sinngedicht, sondern vor allem der konsequente Verzicht auf jene Verrätselung, Dunkelheit und Formzertrümmerung, die in der Nachkriegszeit jedenfalls im Westen als Strukturelement, als Bedingung lyrischer Modernität galt. Dieser spezifisch westliche Modernismus der Nachkriegszeit (eine sich an den Modellen der Vorkriegszeit orientierende Modernität zweiten Grades) könnte sich im vergleichenden Rückblick als eher akademisches Luxusphänomen herausstellen, das subtil mit dem westdeutschen Wirtschaftswunder und seinem schlechten Gewissen korrespondiert.
Doch der Band bietet noch überraschendere Entdeckungen. Er enthält ein Sonett, das 1994 entstanden ist, gewiß im Zusammenhang mit Müllers Arbeit an der Inszenierung von Tristan und Isolde in Bayreuth, denn die Verweise auf Wagners Parsifal sind unverkennbar: Auf engstem Raum sind Grundmotive der von Wagner übernommenen christlichen Ritterepik versammelt: der Wald als Welt, der Knabe Parsifal, der durch die Lanze zu einem jesusgleichen Erlöser wird. Doch der Stich geht ins eigene Fleisch, die Begegnung mit dem eigenen Kinderbild kündigt den Tod an. Das Spalier der Bäume und die nach dem Alphabet aufgereihten Tiere bringen einen Zug manieristischer Fremdheit in das Gedicht. Sein Duktus ist feierlich und schreitend. Winter und Abend übertragen die Empfindung des nahenden Sterbens in die Außenwelt. Der Tod ist der Erlöser, und das ist die Umkehrung der aufgerufenen Motive.
Stilistisch, in Metrum und Bildlichkeit, nicht zuletzt durch den kunstvollen Einsatz von Enjambements und Binnenzäsuren, erinnert das Sonett an die Lyrik der Jahrhundertwende, an Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Der Anfang von Georges Dante-Übertragung zeigt nicht nur stofflich, in der artushaften Waldszenerie mit Traum und Tod, die Parallele, sondern auch im Ton:

Es war inmitten unsres wegs im leben,
Ich wandelte dahin durch finstre bäume
Da ich die rechte strasse aufgegeben

Wie schwer ist reden über diese räume
Und diesen wald, den wilden rauhen herben..
Sie füllen noch mit schrecken meine träume

So schlimm sind sie dass wenig mehr ist sterben.

Am rätselhaftesten erscheinen in Müllers Sonett die alphabetisch aufgereihten Tiere. Aber sind sie nicht ein symbolistisches Motiv, das an den „Wald der Zeichen“ in Baudelaires Sonett „Correspondances“ erinnert? Auch von diesem Gedicht gibt es eine Übersetzung Georges, unter dem Titel „Einklänge“:

Aus der natur belebten tempelbaun
Oft unverständlich wirre worte weichen
Dort geht der mensch durch einen wald von zeichen
Die mit vertrauten blicken ihn beschaun.

Wie lange echo fern zusammenrauschen
In tiefer finsterer geselligkeit..

Müller hätte, zieht man die Möglichkeit einer Anspielung in Betracht, das Motiv ebenso umgekehrt wie die Parsifal-Symbolik: die sinnlos nach dem Alphabet aufgereihten Tiere mit den leeren Augen, die kein Blick versteht, sind das Gegenteil jener Zeichen, die in Baudelaires Wald den Menschen mit vertrauten Blicken anschauen. Und bereits das Sichtbarste, die Sonettform, harmoniert gut mit dem baudelaireschen Hintergrund.
Daß die Begegnung mit dem Doppelgänger den Tod ankündigt, ist alter Volksglaube, den sich die symbolistische Dichtung hin und wieder zu eigen gemacht hat. Es gibt zur geträumten Begegnung mit dem Kindheits-Ich eine präzise Parallele bei Hugo von Hofmannsthal. Das frühe Gedicht „Erlebnis“ handelt vom Tod, vom Tod als Traum und vorweggenommenem dunkel-süßem Erlebnis, erfahren in schwermütiger Musik, wie auch Hofmannsthals Verse sie machen, „gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend, / verwandt der tiefsten Schwermut“. Der Todestraum führt als Heimweh zurück in die Kindheit, genauer: von ferne an ihr vorbei, zu einem Abschiedsblick des Ich auf sich selbst:

Ein namenloses Heimweh weinte lautlos
In meiner Seele nach dem Leben, weinte
Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff
Mit gelben Riesensegeln gegen Abend
Auf dunkelblauem Wasser an der Stadt,
Der Vaterstadt, vorüberfährt. Da sieht er
Die Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht
Den Duft der Fliederbüsche. sieht sich selber,
Ein Kind, am Ufer stehn, mit Kindesaugen,
Die ängstlich sind und weinen wollen, sieht
Durchs offne Fenster Licht in seinem Zimmer –
Das große Seeschiff aber trägt ihn weiter,
Auf dunkelblauem Wasser lautlos gleitend
Mit gelben, fremdgeformten Riesensegeln.

Die durch die Wiederholung von „weint“ und „sieht“ formal zum Fließen und Klingen gebrachten Zeilen sind dem gefaßteren Ton Müllers ferner als das Schreiten Georges; doch sie ergänzen den aus Wagner und Baudelaire gewonnenen Motivbestand nahtlos.
Man muß Müller noch nicht kanonisieren und der Philologie überantworten, um Interesse an solchen Parallelen zu nehmen. Auch wird er dadurch gewiß nicht zu einer George-Baudelaire-Chimäre; die Feststellung von Botho Strauß ist, ihrer Polemik entkleidet, ein nicht zu bestreitender Sachverhalt. Heiner Müllers Spätwerk – nahezu ausschließlich Lyrik – ist in seinem Reichtum kaum erfaßt. Der Untergang der DDR warf ihn, für den der Staat Voraussetzung von Dramatik war, zurück auf Autobiographie, Historie und Gedicht. Zeitordnungen und politische Orientierungen verloren ihren Richtungssinn. Müller schrieb in „Mommsens Block“ einen poundschen Canto über einen bürgerlichen Historiker; die Betrachtung des eigenen Sterbens vollzog er mit artaudscher Grausamkeit; römische Exempla wie Senecas Selbstmord erscheinen in barocke Farben getaucht. In all dem war Müller unbezweifelbarer Zeitgenosse der 1989 neukonstituierten Epoche. Neue Einklänge zwischen den Zeiten wurden vernehmbar, und der seltsam tonlos und blicklos durch die Spätprogramme des Fernsehens geisternde Müller wurde zum ersten Dichter unseres Fin de siècle.

Gustav Seibt, Sinn und Form, Heft 4, Juli/August 1998

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