Hanjo Kesting: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Über die Schwierigkeiten der Umerziehung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Über die Schwierigkeiten der Umerziehung“ aus Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950–2000. 

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Über die Schwierigkeiten der Umerziehung

Einfach vortrefflich
all diese großen Pläne:
das Goldene Zeitalter
das Reich Gottes auf Erden
das Absterben des Staates.
Durchaus einleuchtend.

Wenn nur die Leute nicht wären!
Immer und überall stören die Leute.
Alles bringen sie durcheinander.

Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht
laufen sie zum Friseur.
Statt begeistert hinter der Vorhut herzutrippeln
sagen sie: Jetzt wär ein Bier gut.
Statt um die gerechte Sache
kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern.
Im entscheidenden Augenblick
suchen sie einen Briefkasten oder ein Bett.
Kurz bevor das Millennium anbricht
kochen sie Windeln.

An den Leuten scheitert eben alles.
Mit denen ist kein Staat zu machen.
Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen.

Kleinbürgerliches Schwanken!
Konsum-Idioten!
Überreste der Vergangenheit!

Man kann sie doch nicht alle umbringen!
Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden!

Ja wenn die Leute nicht wären
dann sähe die Sache schon anders aus.
Ja wenn die Leute nicht wären
dann gings ruckzuck.
Ja wenn die Leute nicht wären ja dann!
(Dann möchte auch ich hier nicht weiter stören.)

 

Die Verspottung der Weltveränderer,

die den Bezug zur Realität verloren haben

Hans Magnus Enzensbergers Gedicht erschien 1971, der Autor war damals zweiundvierzig Jahre alt. Geboren in Kaufbeuren, aufgewachsen in Nürnberg, bei Kriegsende fünfzehn Jahre alt, gehört Enzensberger zu den Schriftstellern, die die Literatur der Bundesrepublik wesentlich mitgeprägt haben. Im Gruppenbild der Generationsgenossen, geboren zwischen 1926 und 1929, verkörpert er den Musterfall des dichtenden Intellektuellen. Auf der einen Seite ein Poet von hohen Graden, sensitiv und formbewußt, auf der anderen Seite ein kritischer Geist und Unruhestifter, ein brillanter Intellektueller. Er hat sich selber in einem Gedicht als „Der fliegende Robert“ porträtiert. Flugkörper sind in Bewegung, ihr Standort ist schwer zu bestimmen. Er ist abhängig von Wind und Wetter, von Luftströmungen und eigener Bewegungsenergie.
Das Gedicht „Über die Schwierigkeiten der Umerziehung“ ist an die Adresse der 68er-Generation gerichtet. Für sie hatte Enzensberger selber eine wichtige Rolle gespielt: vor allem mit der von ihm 1965 gegründeten Zeitschrift Kursbuch, dem theoretischen Organ der antiautoritären Bewegung. Jedes Heft traf die damalige deutsche Wirklichkeit mitten ins Herz. Enzensberger wurde zu einem intellektuellen Anführer der studentischen Revolte. Ihn reizte die Spontaneität der 68er-Bewegung, ihre phantasievollen Aktionen, ihre kollektive Kraft, ihre anonymen Slogans.
Der Autor, der die Ohnmacht von Literatur erfahren hatte, schlüpfte für einen kurzen historischen Augenblick aus der Rolle des Beobachters in die eines handelnden Subjekts. Zugleich wurde ihm der Beruf des Schriftstellers fragwürdig. Im Kursbuch 15 schrieb er im November 1968:

Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden.

Statt „Kunst“ forderte er: Pamphlete, Flugblätter, agitatorische Druckschriften, Literatur als Mittel „politischer Alphabetisierung“.
Dem revolutionären Schwung folgte Ernüchterung, bis daraus verlorene Illusionen wurden. Die Studenten der 68er-Generation führten das Wort vom „falschen Bewußtsein“ im Mund, von dem die Bürger der Bundesrepublik angeblich bestimmt waren – die Formel einer „Kritischen Theorie“ Frankfurter Provenienz, die vereinfacht und vergröbert und zuweilen verfälscht in agitatorischer Absicht verwendet wurde.
Enzensberger war kein Illusionist, blind für die Wirklichkeit. Schon damals schrieb er das Gedicht „Über die Schwierigkeiten der Umerziehung“ – eine höhnische Tirade gegen die revolutionäre Phraseologie und Weltveränderungslust, worin sich so viele gefielen:

Einfach vortrefflich
all diese großen Pläne.

Die sogenannten „Massen“, die man vorgab, erreichen zu wollen, verhielten sich gleichgültig, auch Beschimpfungen („Kleinbürgerliches Schwanken! / Konsum-Idioten!“) halfen nicht weiter. Enzensbergers Spott auf die Weltveränderer, die den Bezug zur Realität verloren haben, kulminiert in dem Satz: „Wenn nur die Leute nicht wären!“, der mehrfach wiederkehrt und in der Schlußstrophe dreifach gesteigert wird:

Ja, wenn die Leute nicht wären
dann…!

Man hat in Enzensberger zuletzt oft einen verkappten Konservativen sehen wollen. Das trifft nur insoweit zu, als das Konservative zu jedem wahrhaften Dichten und Denken gehört. Zum Dichten allemal. Enzensberger leidet nicht an der sonderbaren, gerade unter Intellektuellen verbreiteten Krankheit, jenen Teil der Wirklichkeit auszublenden, der der eigenen Wunschvorstellung nicht entspricht. Er folgt der Einsicht:

Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.

Deswegen wechselt er, wie der fliegende Robert, den Standort: Seine Metamorphosen sind Selbstkorrekturen. Über die „Schwierigkeiten der Umerziehung“ hat er sich schon 1971 belustigt, zu einer Zeit, als viele seiner Kursbuch-Leser, nicht zuletzt dank mißverstandenem Enzensberger, den richtigen Umerziehungskurs genau zu kennen meinten.

Hanjo Kestingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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