Hans Christian Kosler: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Gonzagagasse“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Gonzagagasse“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. 

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Gonzagagasse

Die Flammen aus den Speichern hat der Himmel genährt,
er zog sie auf, er lehrte sie brennen, er begeisterte sie
an den Pfeilerhölzern der Brücken.
Unterdessen zogen die Salzschiffe gleichmütig vorbei,
Maut wurde eingehoben, Zoll bezahlt,
die Tauben nahmen zu.
Vor der Schusterwerkstatt gedieh das Tempelhüpfen.
Dort sprangen sie, in dunkle Mäntel gehüllt,
weil die Frühlingsabende kühl sind, von Feld zu Feld
dem Stein nach bis unter den Kreidebogen.

 

Im Licht des Abschieds

Ein schwerverständliches, rätselhaftes Gedicht! Und dennoch strahlt es – wie jedes der nur knapp hundert Gedichte, die Ilse Aichinger geschrieben hat – eine eigentümliche Magie aus. Wenn man weiß, wie dicht ihre Verse mit ihrer Vita verwoben sind, möchte man ihm auf die Spur kommen, ahnend, daß man das ihm innewohnende Rätsel wohl kaum lösen wird. Ein zusätzlicher Reiz mag in dem Kontrast zwischen Form und Inhalt liegen, in der Irritation, ein trotz seiner schweren Verstehbarkeit doch relativ konventionell gemachtes Gedicht vor sich zu haben.
Ein „Vorholen von Gewesenem“ hat Ilse Aichinger einmal ihre schriftstellerische Arbeit genannt. Auffallend ist daß sie dieses Gewesene meist an genau bestimmten Orten festmacht. Ein Netz von Straßennamen – gleichbedeutend mit Eckdaten ihrer Biographie – liegt über dieses völlig homogene Werk gebreitet, deren leitmotivische Wiederkehr den Leser dazu verleitet, Querverbindungen zu ziehen. Mit dem vorliegenden, 1955 entstandenen Gedicht verhält es sich nicht anders. Die Gonzagagasse ist eine lange schmale Straße am Wiener Franz-Josefs-Kai, einer unwirtlichen Gegend in der Innenstadt, in der sich Handel, Behörden und Anwaltskanzleien ansiedelten. „Blanke Ödigkeit erfüllt dort die Luft“, schreibt sie später in ihrer Kolumnen-Sammlung Film und Verhängnis. Mit der Salztorgasse und der Mark-Aurel-Straße mündet die Gonzagagasse in den Morzinplatz, wo früher das Hotel „Metropole“ stand, das die Gestapo als Hauptquartier benutzte.
Ilse Aichinger, damals ein junges Mädchen, wohnte von 1939 bis 1945 zusammen mit ihrer Mutter, einer geschiedenen jüdischen Ärztin, in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem unheimlichen Ort; die Wohnung, die sie mit einer Frau teilen mußten, war ihnen „zugewiesen“ worden. Selber nicht unmittelbar verfolgt (die Mutter war durch die „halbjüdische“ Tochter geschützt), lebte sie doch Auge in Auge mit den SS-Tätern – und deren späteren Opfern, denn am Kai waren vorwiegend jüdische Textil-Großhändler ansässig.
Man kann sich vorstellen, wie traumatisch sich der Franz-Josefs-Kai damals in das Gedächtnis der Autorin eingegraben haben muß, den sie zum gespenstischen Ausgangspunkt ihres Romans Die größere Hoffnung (1948) machte. Doch sosehr ihr gesamtes Werk auf erlebter Geschichte basiert, so konsequent verzichtet es doch auf konkrete zeitgeschichtliche Hinweise. Nationalitäten, Gestapo und Juden werden in dem vorliegenden Gedicht nicht genannt, nur auf sehr vermittelte Weise ist von einer Bedrohung die Rede, die archetypische Züge trägt. So reichen die Zeiten, als die Salzschiffe „gleichmütig“ den erst später zum Kanal ausgebauten Donauarm passierten und die Brückenpfeiler noch aus Holz waren, ins Mittelalter zurück. Zu dieser Zeit zettelten auch Wiener Kaufleute Pogrome gegen jüdische Händler an, bei denen Speicher in Brand gesetzt wurden.
Doch was haben die Flammen, die von einem trügerischen Himmel, dem Hort christlicher Heilserwartung, genährt werden, mit den spielenden Kindern zu tun? Das Tempelhüpfen, das in das letzte Feld, den Himmel, führt, war früher zwar ein gemein gebräuchliches Spiel, doch dürften in diesem Fall jüdische Kinder gemeint sein. So steht in der Nähe des Kais die Synagoge, der Tempel also, und auch in Die größere Hoffnung spielen dort Kinder, die den gelben Stern tragen. Ein weiteres Indiz: In Film und Verhängnis berichtet Ilse Aichinger von zwei jüdischen Kindern in dunkelblauen Mänteln, die sie spielen gesehen habe, bis sie eines Tages nicht mehr da waren. Die Vermutung liegt nahe, daß sie mit diesem ins Licht des Abschieds getauchten Gedicht ihr ganz persönliches Requiem auf diese Kinder geschrieben hat.

Hans Christian Kosleraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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