Hans Christoph Buch: Zu Günter Kunerts Gedicht „Märkischer Konstantin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Märkischer Konstantin“ aus Günter Kunert: So und nicht anders. 

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Märkischer Konstantin

Lautlosigkeit plus Reglosigkeit:
Der morgendliche Garten im August
Frühe Hitze des Tages
Nördlich Berlin der verhoffte Süden

Zarte Rauchvertikale vom Nachbarhaus:
Der Vesuv
Tau leckt die nackten Füße
grüne Zungen von Sklaven

Dein Imperium umfaßt
1470 Quadratmeter
Barbaren klingeln schon am Gartentor:
Hier

bist du nicht mehr sicher. Wechsle
den Glauben und errichte

dein Reich anderswo.

 

Barbaren am Gartentor

Ein Einfamilienhaus mit Garten am Rande einer großen Stadt, dazu die vage Erinnerung an Kaiser Konstantin, der zum Christentum übertrat und die Hauptstadt des Römischen Reichs nach Byzanz verlegte: Ein sommerliches Idyll, antiker Form sich nähernd, wie es so oder ähnlich auch im Westen Deutschlands hätte geschrieben werden können. Oder doch nicht? Die gespielte Harmlosigkeit seiner Verse täuscht, denn Günter Kunert schrieb das Gedicht Mitte der siebziger Jahre in Ostberlin, wo der Fingerzeig aufs alte Rom den Lesern signalisierte, daß es um Gegenwartsprobleme ging: die Wiedergeburt des Polizei- und Obrigkeitsstaats aus dem Geist des „realexistierenden“ Sozialismus, der mit dem Kommunistischen Manifest so viel gemein hatte wie die Inquisition mit der Bergpredigt. Freie Bürger mutierten zu Untertanen, sprich Sklaven, und diese wurden niedergetrampelt wie das Gras, das dem Dichter mit grüner Zunge die Fußsohlen leckt.
Es war die Zeit, als das vollmundige Versprechen des neuen SED-Generalsekretärs, in Kunst und Literatur dürfe es keine Tabus geben, sich als Versprecher erwies, bevor die durch den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker geweckte Hoffnung auf bessere Zeiten mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns endgültig zerstob. Und Günter Kunert war nicht der einzige Dichter der früheren DDR, der durch den Rückgriff auf die Antike die Zensur unterlief.
Zusammen mit seiner Frau Marianne, der er alle seine Bücher gewidmet hat, lebte Kunert damals in Buch, einem nördlichen Vorort Berlins, bekannt geworden durch die gleichnamige Klinik, in der die Bonzen der Partei ihre durch politischen Streß, Alkohol und Nikotin verursachten Krankheiten kurierten. Damals gehörte ich zu einer Gruppe Westberliner Autoren, unter ihnen Günter Grass, Uwe Johnson, F.C. Delius und Nicolas Born, die regelmäßig ihre Kollegen im Ostteil der Stadt besuchten, um sich über gemeinsam interessierende Fragen auszutauschen. Auf Ostberliner Seite nahmen Sarah und Rainer Kirsch, Hans-Joachim Schädlich, Jurek Becker, Klaus Schlesinger und Günter Kunert an den Treffen teil, die unter konspirativen Umständen in Privatwohnungen stattfanden. Dabei ging es weniger um Politik als um Literatur – man las sich gegenseitig aus in Entstehung befindlichen Manuskripten vor.
Die Staatssicherheit war stets mit von der Partie, in Gestalt eines oder mehrerer Wartburg-Kombis, die in der Nähe des verdächtigen Objekts parkten und mit ausgefahrenen Antennen unsere Gespräche belauschten. Wie sich nach der Wende herausstellte, war es der Stasi nicht gelungen, einen Spitzel in den hochkarätigen Kreis einzuschleusen; sie tappte bis zuletzt im Dunkel über Sinn und Zweck der Lesungen, hinter denen sie nicht zu Unrecht eine deutsch-deutsche Annäherung vermutete.
Die Barbaren am Gartentor sind Vertreter der Firma Horch & Guck, wie die Staatssicherheit im DDR-Volksmund hieß, und ihr demonstratives Stelldichein vor Kunerts Wohnung diente vor allem der Einschüchterung; darüber hinaus signalisierte es dem unbotmäßigen Dichter, daß seine Westkontakte den Machthabern der Partei ein Dorn im Auge waren. Der Rückzug in eine ungestörte Privat- und Intimsphäre war nicht mehr möglich angesichts der Dauerpräsenz staatlicher Organe in Kunerts Vorgarten. So besehen, nehmen die Verse den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann und Kunerts 1979 erfolgte Übersiedlung in die Bundesrepublik im Medium der Poesie vorweg.
Dies ist nur eine mögliche Lesart des Gedichts, das auch ohne Kenntnis der politischen Zeitumstände verstehbar ist, weil es, wie jede gute Literatur, den Kontext seiner Entstehung transzendiert. Poetologisch gesehen, setzt es die mit Winckelmann und Lessing beginnende Rezeption der Antike fort, die seitdem tiefgreifenden Wandlungen unterlag. Aber weder Goethe noch Hölderlin oder Brecht, dessen Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar ein marxistisches Lehrstück war, sind als Vorbilder in Kunerts Versen präsent. Die Ausgangssituation einer Belagerung durch Barbaren taucht immer wieder im Werk des spätgriechischen Dichters Konstantin Kavafis auf, der zu den wichtigsten Anregern der modernen Lyrik gehört. Kavafis lebte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Alexandria, und seine Poesie verknüpft, mit Hilfe raffinierter Anspielungen, Orient und Okzident, Altertum und Gegenwart. So ist in dem Gedicht „Troer“ von den Bewohnern einer belagerten Stadt die Rede, die „Stückchen grade richten“ zur Abwehr einer Gefahr, die sie durch Wegschauen zu ignorieren versuchen, und Kavafis’ bekanntestes Poem „Die Barbaren erwartend“ endet mit einer Frage, die als Motto über Günter Kunerts Gedicht stehen könnte:

Und jetzt – was ohne Barbaren aus uns wird!
Diese Menschen waren eine Art Lösung.

Hans Christoph Buchaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00