Hans-Otto Dill: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Erklärung einiger Dinge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Erklärung einiger Dinge“ aus dem Band Pablo Neruda: Erklärung einiger Dinge. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Erklärung einiger Dinge

Du wirst fragen: Und wo ist der Flieder?
Und die Metaphysik von Mohn zugedeckt.
Und der Regen, der oft die Trommel
seiner Worte schlägt und sie füllt
mit Leere und Vögeln?
Ich will dir jetzt alles sagen, was mir geschieht.

Ich pflegte in einem Viertel
von Madrid zu leben mit Glocken,
mit Uhren, mit Bäumen.

Von da konnte man
das trockene Antlitz Kastiliens sehen
wie einen Ozean aus Leder.
                                                 Man nannte mein Haus
das Haus der Blumen, denn überall
brachen Geranien hervor: es war
ein schönes Haus
mit Hunden und kleinen Kindern.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaRaúl, entsinnst du dich
Erinnerst du dich, Rafael?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFederico, erinnerst du dich
dort unter dem Rasen,
entsinnst du dich meines Hauses der Balkone, wo
das Junilicht Blumen in deinem Mund ertränkte?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBruder, Bruder!

Alles
war laute Stimmen, Salz von Warenlagern,
Anhäufung herzschlagenden Brotes,
Märkte meines Argüelles-Viertels mit seiner Statue
wie ein fahles Tintenfaß zwischen Stockfischen:
das Öl erreichte die Löffel,
dunkles Getöse
von Füßen und Händen erfüllte die Straßen,
Maße, Liter, scharfe Essenz
des Lebens,
aaaaaaaaaaagestapelter Fisch,
Geweb von Dächern mit kalter Sonne, in der
der Pfeil ermüdet,
wahnsinniges zartes Elfenbein von Kartoffeln,
Tomaten immer wieder bis hinab zur See.

Und eines Morgens brachen Flammen aus allem,
und eines Morgens stiegen lodernde Feuer
aus der Erde,
verschlangen Leben,
und seither Feuer,
Pulver seither,
und seither Blut.

Banditen mit Flugzeugen und Marokkanern,
Banditen mit Ringen und Herzoginnen,
Banditen mit segnenden schwarzen Mönchen
kamen vom Himmel, um Kinder zu töten,
und durch die Straßen das Blut der Kinder
floß einfach, wie das Blut von Kindern.

Schakale, widerwärtig für einen Schakal,
Steine, auf die die trockene Distel gespien hätte,
Vipern, die Vipern verachten würden!
Vor euch habe ich das Blut
Spaniens aufwallen gesehn,
euch zu ersäufen in einer einzigen Woge
von Stolz und Messern!

Generäle
Verräter:
Seht mein totes Haus,
seht mein zerbrochenes Spanien:
doch aus jedem toten Haus schießt brennendes Metall
anstelle von Blumen,
aus jedem Loch in Spanien
springt Spanien empor,
aus jedem ermordeten Kind wächst ein Gewehr mit Augen,
aus jedem Verbrechen werden Kugeln geboren,
die eines Tages den Sitz
eines Herzens finden werden.

Ihr fragt, warum seine Dichtung
uns nichts von der Erde erzählt, von den Blättern,
den großen Vulkanen seines Heimatlandes?

Kommt, seht das Blut in den Straßen,
kommt, seht
das Blut in den Straßen,
kommt, seht doch das Blut
in den Straßen!

Nachdichtung: Stephan Hermlin

 

Pablo Neruda erklärt einige Dinge

oder Von der Betroffenheit eines großen Dichters

Neruda gehört zu meinen Lieblingsdichtern. Und von seinen über tausend Gedichten habe ich mehr als zwei Dutzend in den Status von Lieblingsdichtungen erhoben. Aber nicht diese fallen mir zuerst ein, bedenke ich, daß dieser größte Poet unseres Jahrhunderts am 12. Juli achtzig Jahre alt geworden wäre. Zuerst denke ich an „Erklärung einiger Dinge“, entstanden anno 1937 im von den Faschisten überfallenen Spanien. Diese erste Lektüre Nerudas, in der schönen Übertragung von Stephan Hermlin, machte mich tief betroffen vor 25 Jahren. Warum diese Betroffenheit, und wie kann ich sie rekonstruieren, diese spontane Reaktion, nachdem ich dieses Stück Dichtung viele Male sozusagen professionell seziert habe? Ich senkte es ein in den Kontext der Biographie, der Werkgeschichte, der lateinamerikanischen und Weltliteratur, der Zeit- und Universalgeschichte. Jener erste spontane Eindruck ist wie ein Schemen, wie abgesunkener Bodensatz, überlagert von den geologischen Schichtungen der Sekundärliteratur, diesen Ablagerungen vieler Etappen von Literaturbetrachtung zwischen Soziologie und Strukturalismus, von positivistischer zu marxistischer Kritik. Lehrmeinungen, die auch ich vertrete, besagen, die Erfahrung des faschistischen Überfalls habe den in Spanien tätigen Neruda von einem unpolitischen zu einem bewußt politisch denkenden, handelnden und dichtenden Menschen mit ersten tiefen Einblicken in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge gemacht. Die poetische Fixierung dieser Wandlung in den Spaniengedichten bedeute die kopernikanische Wende in seinem zuvor unpolitischem Schaffen. In der Tat verweist die chaotisch-surrealistische Zusammenstellung von Flugzeugen, Marokkanern, beringten Banditen, Herzoginnen und schwarzen Mönchen auf die politische Allianz gesellschaftlicher Kräfte: der deutschen und italienischen Faschisten mit ihren Junkers- und Caproni-Flugzeugen, der ultrareaktionären Militärs, deren Führer Franco aus Marokko einfiel, der konservativen Aristokratie, reichen Oligarchie, des profaschistischen Teils des Klerus. Diese unheilige Allianz entfesselt den Krieg gegen Volk und Volksfront, die sich mit Messern, brennendem Metall, Gewehren mit Augen und mit Kugeln im antifaschistischen Widerstandskampf erheben. In Strophe und Antistrophe, in ihrer Spiegelsymmetrie drückt sich mit architektonisch vollkommener Struktur wirksam die Erkenntnis des Antagonismus zwischen Faschisten und Volk aus: die Verse über die Banditen, Flugzeuge, Schakale, Vipern beginnen mit dem Subjekt, die Antwortverse enden mit dem Subjekt. Und Neruda ergreift Partei, nennt die Faschisten Banditen, Schakale, Vipern, aber identifiziert sich mit „meinem zerbrochenen Spanien“. Doch diese Erkenntnisse und Wertungen lösten nicht jene tiefe Betroffenheit aus, von der die Rede geht: wie viele Menschen hierzulande, und wie der spätere Neruda, verfügte ich über tiefere Erkenntnisse als Neruda im Jahre 1937 über gesellschaftliche Ursachen des Faschismus. Aber die Erklärung dieser Dinge war auch nicht Nerudas Hauptanliegen.
Er erklärt eine Revolution in seinem Dichten: er macht den Leser darauf aufmerksam, er werde bislang gewohntes Inventar früheren Dichtens vermissen: Vögel, Regen, Blumen Chiles. Und Metaphysik. Verändertes Dichten ist Ausdruck eines grundlegenden Wandels in der Dichterpersönlichkeit, den er ankündigt und dessen Motivation er nennen will:

Ich will dir jetzt alles sagen, was mir geschieht.

Er spricht nicht, wie Jewtuschenko, im Präteritum: „Mit mir ist folgendes geschehn“; sondern bleibt ganz gegenwärtig, aktuell, unmittelbar. Der Anlaß des Gedichts ist nicht die Vermittlung der obengenannten Kenntnisse, die er vielmehr schon vorher, vor Kriegsausbruch, während der Volksfront, in Diskussionen vor allem mit progressiven Schriftstellern gewonnen hatte, mit Raúl (González Tuñón) Federico (García Lorca), und vor allem mit dem kommunistischen Dichter Rafael (Alberti), dem er ungeheuer viel für seine politische, weltanschauliche und künstlerische Entwicklung verdankte.
Was ihn zutiefst betroffen macht, ist der Krieg. Aber zuerst schildert er den Frieden. Friedlich ist sein Haus, die Diplomatenwohnung mit den Geranien: Geranien sind irgendwie friedliche Blumen, harmlos, unheroisch. Ein Bild des Friedens auch das Markttreiben von Argüelles: Handel und Wandel bedeuten Frieden. Und plötzlich montiert Neruda in hartem Umschnitt auf dieses Bild friedlicher Normalität das gegensätzliche Bild von Krieg, Tod, Grauen, Vernichtung:

Und eines Morgens brachen Flammen aus allem.

Flammen, Feuer, Pulver, Blut. Bomben fallen auf Guernica – Picassos Gemälde ist das Pendant des Malers zu Nerudas „Erklärung einiger Dinge“ – und Madrid. Erstmals in der Geschichte des modernen Krieges werden wehrlose Zivilisten aus heiterem Himmel getötet, wie später im zweiten Weltkrieg.
Das emotional überzeugende Nacherleben des plötzlichen Umschlags von Frieden in Krieg war neu für meine in den Krieg als Normalzustand hineingewachsene Generation: Wir kannten nur die Umstellung auf den Frieden, die sich leichter bewerkstelligen ließ. So vermittelte dies Gedicht meiner Generation Antikriegsemotionen, die aus eigener Lebenserfahrung nicht hervorgingen. Dies erklärt die große Betroffenheit des Lesers von damals vielleicht und macht das Gedicht heute, da Banditen mit Raketen das Leben der Menschheit bedrohen noch aktueller, noch gegenwärtiger. Aber dennoch ist dies allein noch nicht der konkrete Anlaß, das auslösende Motiv dieses Gedichts, obwohl sein antifaschistischer und Antikriegscharakter seine Grundaussagen konstituiert.
Neruda beschreibt die Folgen und die Opfer der Bombardements:

Und durch die Straßen das Blut der Kinder
floß einfach, wie…

Hier, so finde ich, macht der Dichter eine Pause, er stockt, sucht nach einem Vergleich. Aber der will sich nicht einstellen. So unerhört, so unvergleichbar ist das schreckliche Geschehen, daß sich keine vergleichbare Untat findet, und so wiederholt er denn einfach – und diese Wiederholung ist Vergleich mit sich selbst, weil mit anderem nicht vergleichbar:

wie das Blut von Kindern.

Diese Hilflosigkeit beim Ausdrücken des Unausdrückbaren, beim Fassen des Unfaßlichen ist so rührend, daß sie damals wie heute ergreift. Dies ist der entscheidende Wendepunkt, das existentielle Grunderlebnis Nerudas, das sein Leben und seine Dichtung grundlegend wandelte, dies war der Punkt, auf den es Neruda ankam, der die Niederschrift des Gedichts motivierte. Wir finden dies in der Schlußstrophe bestätigt, in der Neruda auf die Eingangsfrage antwortet, indem er das Bild vom Kinderblut wieder aufnimmt:

Kommt, seht das Blut in den Straßen

Dieser Satz wird noch zweimal im Zeilenfall abgewandelt. Die Menschen, die nichts sehen wollen vom Unheil, fordert der Dichter auf, nicht die Augen zu verschließen vor dem Ungeheuerlichen:

kommt, seht

Danach betont er das Blut, das gen Himmel schreit und Sühne fordert:

kommt, seht doch das Blut.

Es ist ein Ruf zum Kampf gegen Faschismus und Krieg. Und hierfür ist notwendig, die Faschisten und Kriegstreiber zu kennen und zu benennen, ist Erkenntnisvermittlung über die Urheber dieser Untaten und damit die Gegner im Kampf für den Frieden und die Verhinderung neuer Untat unerläßlich. Und dafür ist Parteinahme nötig: wie Neruda kein Vergleichsobjekt für das Vergießen von Kinderblut, für die Handlungen der Faschisten und Kriegstreiber finden kann, so auch nicht für diese selbst: für ihre Verworfenheit findet er nur sie selbst als angemessene Metapher: Schakale, die dem Schakal widerwärtig sind, Steine, auf die die Distel speit, Vipern, die von Vipern verachtet werden.
Dieses Betroffensein des Dichters bis ins Innerste wohl teilt sich dem Leser mit, produziert seinerseits in ihm Betroffensein, Emotionalität, Nachdenken, Impulse zum Handeln. Wer denkt nicht an Nikaragua, Guatemala, El Salvador, Libanon, Angola? Wer denkt nicht daran, daß Banditen heute fähig sind, statt Bomben über Spanien Raketen über Europa abzuwerfen? So gewinnt dies Gedicht sogar noch an Aktualität und politischer Tiefenwirkung, im Vergleich zum Zeitpunkt seiner Entstehung.
Insofern steht das Gedicht für sich, bedarf keines wissenschaftlichen Kommentars zu seinem Verständnis. Aber andererseits ist es Durchgangspunkt vieler Motive, die sein Gesamtwerk durchziehen, die sich aufeinander beziehen, sich dadurch gegenseitig mit poetischer Bedeutung aufladen. So wie das Verständnis dieses Gedichts zum Verständnis des Gesamtwerks entscheidend beiträgt, so steuert die Kenntnis der Biographie und des Werkes Nerudas wiederum zur Vertiefung des Lektüreerlebnisses und zur Erhöhung des Lesegenusses bei, die durch „Erklärung einiger Dinge“ vermittelt werden.
Nehmen wir die Beschreibung des Marktes von Argüelles: „Herzschlagendes Brot“ verweist auf den Herzschlag und damit auf das Leben: die vielen Lebensmittel, die hier feilgeboten werden, sind lebensnotwendig. In der Fügung „das Öl erreichte die Löffel“ erhalten Naturprodukt und Ding ihren nützlichen Bezug zum Menschen: Lebensmittel wird hier Lebens-Mittel, Mittel zum Leben, wird zum Leben selbst, sinnlicher Gegensatz zu Tod, Vernichtung, Krieg. Insofern ist die Beschreibung des Viktualienmarktes ein symbolträchtiges Detail im Bild vom bedrohten Frieden. Aber verselbständigt sich nicht diese schöne Beschreibung von Lebensmitteln, Brot, Früchten, Gewürzen (wer bemerkte schon jemals das „wahnsinnige zarte Elfenbein“ der Kartoffeln?) zu einem farbenfrohen, sinnenfreudigen Gemälde? Man spürt, daß hier etwas mitschwingt, das in ganz besonderer Weise mit der Persönlichkeit des Dichters zu tun hat, das sich auch in anderen Gedichten zeigt und daher erst im Kontext mit diesen – wie manch andere Motive unseres Gedichts – voll gewertet werden kann.
Neruda war ein kauf- und schaulustiger Marktgänger: „Habt acht auf den Markt, der mein Leben ist,“ heißt es im Memorial von Isla Negra (1964). Als Kind armer Leute war der mittellose Student Neruda stets hungrig, Fotografien zeigen eine ausgemergelte, verwegene Gestalt. Dies erklärt sein immerwährendes kulinarisches Interesse, das er auch in „Erklärung einiger Dinge“ eingebracht hat. Seine Zuneigung zu anderen Menschen hing, außer von deren Weltanschauung, politischer Überzeugung und künstlerischen Ansichten, von ihrer kulinarischen Genußfähigkeit ab. Von Ilja Ehrenburg schreibt er:

Dieser große Krieger der Literatur, ein ebenso gefährlicher Feind für den Nazismus wie eine Division von vierzigtausend Mann, war auch ein raffinierter Epikuräer. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, ob er mehr von Stendhal oder von Gänseleberpastete verstand.

Sein französischer Freund Marcenac berichtet:

Neruda trifft zehn Uhr abends bei Ihnen ein, gefolgt von zehn Personen, die mit Flaschen, Obst, Austern, Fleisch beladen sind, und schnell muß man den Tisch decken.

Mahl ist hier auch Gemeinsamkeit und Geselligkeit, die er in der Trostlosigkeit und Kommunikationslosigkeit bürgerlicher Familien vermißte. Im ersten Aufenthalt auf Erden schrieb er vom „Eßzimmer, übriggelassen wie eine Gräte… / ein schrecklich verödetes Eßzimmer, / mit zersprungenen Ölkrügen, / und der Essig rinnt unter den Stühlen hin“. An „Erklärung einiger Dinge“, wo Öl und Essig sichtlich eine andere Funktion haben, erinnert ein 1937/38 entstandenes Gedicht: hier will der Dichter für „Reiche hier und dort, / Gesandte, Minister, gräßliche Tischgenossen, / Damen komfortabler Tees und Sessel“ ein Gericht servieren aus „Detonationen, irren Gewässern, Ruinen und Furcht / ein Gericht aus zerbrochenen Achsen und zertrampelten Köpfen / ein schwarzes Gericht, eine Schüssel Blut aus Almería…“ Der Bezug zu Faschismus, Spanienkrieg, Blut, Zerstörung und Bombenterror sowie zu ihren Urhebern, den Faschisten, ist deutlich.
Der mit den Spaniendichtungen einsetzenden Politisierung des Essen-Motivs folgt, im Zusammenhang mit seinem Kennenlernen der Lebensprobleme der chilenischen Arbeiter und seinen Aktivitäten für die Kommunisten, dessen soziale Vertiefung, was auch seine Ergänzung durch das Hunger-Motiv zur Folge hat. Im „Großen Gesang“ befragt Neruda die Inka-Burg Macchu Picchu:

Hütetest auch du, versunkenes Amerika, im Allertiefsten
im bitteren Eingeweid wie ein Adler den Hunger?

Und „der uralte Hunger Europas“ trieb Entdecker und Konquistadoren nach Amerika. „Wir litten Hunger, Herr Hauptmann“, berichtet der bolivianische Bergmann Achacalla. Und aus dem Kontinent chronischer Unterernährung, einem Gebiet, in dem jährlich Zehntausende Hungers sterben, wo „die Fischer zum schmalen Meer der Suppenschüssel“ eilen, schleppt der nordamerikanische United-Fruit-Konzern „den Kaffee fort und die Früchte / auf ihren Schiffen, die wie / Prunkschalen dahingleiten“.
Aus dieser sozialen Sicht heraus interessieren Neruda in den Elementaren Oden einfache Speisen und Früchte des Volkes. Daher sein Loblied auf die Seeaalsuppe oder auf die Zwiebel, „leuchtende Phiole, / unvergängliches Himmelszeichen / rundliche Rose von Wasser / auf dem Tisch / der armen Leute“. Deshalb votiert er im Extravaganzenbrevier für eine Ordnung, die alle satt macht:

Setzen wir uns schnell zu essen
mit allen, die nicht gegessen haben,
legen wir die großen Tischtücher auf,
das Salz in den Seen der Welt,
Tische voll Erdbeeren in Sahne, und ein Teller wie ein Mond
von dem wir alle speisen werden.

Er träumte von „planetarischen Bäckereien / Weizenpflanzungen / zu Lande und auf den Planeten / das Brot für jeden Mund“.
In diesem Sinne wirkte der Politiker Neruda aktiv für die Unidad popular. Der tägliche halbe Liter Milch für alle Kinder, den die Allende-Regierung verfügte, entsprach voll dem poetisch-sozialen Programm Nerudas. Als Allende in einer Rede die chilenische Revolution als „so chilenisch wie unseren Wein und so wohlschmeckend wie unsere Weihnachtspasteten“ pries, Revolution also als etwas Eßbares, Trinkbares, Sinnliches, Köstliches, Wohlschmeckendes beschrieb da entsprach dies echt Nerudascher Diktion. Andererseits wandte sich der Dichter angewidert gegen die Kochlöffeldemonstrationen bourgeoiser Hausfrauen, die nie gearbeitet und nie Hunger gelitten hatten, aber dem Volk notwendige Lebensmittel durch Hamsterkäufe und Horten entzogen, „die Sardinen und Zwiebeln, / Öl, Mehl, Zigaretten, Töpfe. / Um ohne Brot, ohne Licht, ohne alles zu lassen / das Volk und das gemeuchelte Vaterland“. Diese letzten, kurz vor dem Pinochet-Putsch publizierten, vor der Konterrevolution warnenden Verse führen, immer an Hand des Lebensmittel-Motivs, mit geheimer Logik zurück in die Zeit des franquistischen Putsches in Spanien, zum Marktplatz von Argüelles, zum Haus Nerudas mit den Geranien. „Banditen mit Flugzeugen… kamen vom Himmel“, zerbombten die Moneda und die chilenische Volksfront, die Unidad popular, ermordeten den Präsidenten, und Neruda starb in seinem verwüsteten Haus. Während in Spanien der Faschismus gestürzt wurde, herrscht er in Chile. Also nur bloße Umkehrung der Situation von 1936/37? War Nerudas Wirken umsonst?
Sicherlich nicht. Er faßte seine eigene Dichtung als eßbare Substanz auf. Er liebte „eßbare, Sonette, / Gedichte aus Honig und Mehl“. Er erklärte, seine Dichtung „ist wie das Brot, das an alle verteilt werden muß“. Er hatte die Vorstellung von „einer Poesie, die das geistige Brot aller Menschen, auch der Armen und Ungebildeten, sein sollte, der Poesie als eines Fermentes universeller Brüderschaft“ (Hans-Magnus Enzensberger). Als geistige Nahrung aufgenommen, gelesen, rezitiert, gesungen, bleibt sie lebendig in den machtvollen Kämpfen der Chilenen gegen das in Agonie befindliche Pinochetregime. Seine Dichtung gegen Faschismus und Krieg und für den Frieden lebt weiter in der Friedensbewegung, der er als Mitglied des Weltfriedensrates verbunden war. Seine Dichtung wird uns immer betroffen machen, weil sie uns immer betrifft.

Hans-Otto Dill, Neue Deutsche Literatur, Heft 7, Juli 1984

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