Hans Thill: Zu Gerhard Falkners Gedicht „NA NED REHTEA, TSUNAMI“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gerhard Falkners Gedicht „NA NED REHTEA, TSUNAMI“ aus dem Band Gerhard Falkner: Hölderlin Reparatur. –

 

 

 

 

GERHARD FALKNER

NA NED REHTEA, TSUNAMI

Der Aether!
Was für eine Kategorie!
Ist er doch Ausbreitung des Lichts im Vakuum nur.
Hülle für das Blau des Himmels, weiter nichts. Ein Wagnis
das ich mit Freuden herunter lache.
Dein Durchbruch in seine Gefilde 1796
meiner 1976 – –
und immer noch die gleichen Wolken.
(Ganz ohne die Weitschweifigkeit
die Schiller an den Hymnen tadelt / trotz seines Umfangs)
Keine sinnlosen Falschschreibungen
keine Hölderlintreppen
nur ein himmlischer Ansporn
die Freude, die ihn durchglüht
in Tränen zu ersticken.

Damals,
als wir wie im Spiele
ihn zu uns herunter lachten
besaßen wir noch diese fröhlichen /
aaaaaaaaaaschlagkräftigen Verben
aaaaaaaaaaaaaaafür den flexiblen response
für den Fall
das starke, kontrollierte Blau drohte
die heiligen Gefäße der Wolken zu zerschlagen
Oberstes Gebot war:
die Beobachtung des Beobachters
so wie absolute Aufmerksamkeit
für kleinste Abweichungen
in den Anfangsbedingungen –
dass nicht ein Wimpernschlag
von dir
an einem fernen Ufer meiner Welt
dieses Blau
zu einer / alles vernichtenden
Welle
türme

 

Die Treppe im Tsunami

– Anmerkungen zu Gerhard Falkners Gedicht „NA NED REHTEA, TSUNAMI“. –

Hölderlin Reparatur: Der Titel des Bandes war seit Erscheinen bei vielen Liebhabern der Tradition auf Ablehnung gestoßen. Wie – den großen Hölderlin reparieren? War denn der „pauvre holterling“ eine Maschine? Wie kann es sein, dass die prägnanteste Stimme des deutschen Idealismus, ein Dichter, der sein Leben für die Poesie setzte, dass an diesem Schatz der deutschen Kultur einige Handgriffe notwendig waren, um ihn wieder „instand zu setzen“? Denn das ist, laut Duden, Reparatur: der Eingriff in einen Mechanismus, um diesen „instand zu setzen“. Es ist noch nicht lange her, dass sein zurückgezogenes Leben im Turm zu Tübingen, zuerst als Wahn gedeutet, später zum heiligen Wahn erklärt und schließlich (durch Pierre Berraux’ Buch im Jahr 1978) als poetische Rettung vor der Welt verklärt worden war.
Dabei gibt es genug Hölderlin-Parodien. Peter Rühmkorfs bereits 1961 entstandene „Variation auf den Gesang des Deutschen“ sei hier als das bekannteste Beispiel erwähnt. Rühmkorf ergänzt, erweitert, ersetzt. Er nimmt triviale Elemente aus der Welt der Wirtschaft („Kursgewinn“, „Hanomag“) in die das Erhabene feiernde rhythmische Struktur des Gedichts hinein. Er polemisiert gegen das zeitgenössische Deutschland der Fresswelle („wieder den Wanst in die Waage hievte“). Aber was ist schon eine Variation? Das Original erfährt die (vielleicht despektierliche) Ergänzung eines Kollegen. Mehr nicht.
Eine Reparatur dagegen wird im schlechteren Fall von einem Bastler, im günstigeren von einem Handwerker vorgenommen. Und was hatte Hölderlin zu seinen Landsleuten, den Deutschen, zu sagen? „Handwerker siehst du, aber keine Menschen“ (Hyperion, Bd. 2, 2. Buch). Reparatur setzt eine Profanierung voraus. Der Reparierende zeigt sich im blauen-Anton, eine schwere Werkzeugkiste in der Hand. Gerhard Falkner, wenn er seinen Hölderlin reparieren will, spricht zuerst einmal als Techniker. Ein Techniker, der, erneute Drehung der Spirale, um die Mechanik des Erhabenen weiß, wie Heiner Müller um die des Dramatischen, als er im Jahr 1977 seine Hamletmaschine veröffentlichte.
So sind wir schon bei Betrachtung des Titels in den 1970er Jahren angelangt. Aber wie kann man Falkners Handgriffe der Instandsetzung am mitunter hochdrehenden Hölderlinmotor beschreiben? Die „Reparaturtexte“ als erste Abteilung des Bandes führen Falkners Vorgehensweise vor. Um nur einige zu nennen: Entmythologisierung durch Trivialisierung („An die Eicheln“, „Die Blüthe der Braut“), Kreuzung mit Texten aus der Moderne (Chlebnikow: „Einlachung von Neuffer“), kritische Überprüfung („Frühsommer“).
Eine besondere Form der kritischen Überprüfung stellt das Gedicht „NA NED REHTEA, TSUNAMI“ dar. Am Anfang des Textes mit dem rätselhaften Titel steht erfrischend klar ein befremdeter Ausruf: „Der Aether – was für eine Kathegorie!“
Sicher hat Falkner damit den heutigen Leser auf seiner Seite. Es gibt kaum eine Personifikation aus dem Rollenfach der Antike, die uns so fremd wäre wie der Äther. All die Flussgötter, Helden, Allegorien nehmen wir als anzusingende Instanzen in Kauf. Nicht den Äther. Dabei ist der Äther durchaus in unserem Alltag präsent. Als semipoetische Bezeichnung für den Rundfunk: eine Nachricht kam aus dem Äther. Als betäubende Chemikalie. Schließlich als geheimnisvolle Substanz der traditionellen Physik. Der Äther als kosmischer Lichtträger spielt in der theoretischen Physik eine große Rolle, noch Einstein arbeitete an einer Äther-Theorie.
Hat man die seltsame Titelzeile als Umkehrung des Hölderlintitels „An den Aether“ dechiffriert, ist er bereits semantisch produktiv geworden. „Na ned“ könnte dialektal gelesen werden als „nein nicht“, damit wäre die ablehnende Geste bereits im Titel vorgegeben. Der Tsunami, hintangesetzt, wäre dann als Alternative zum umgekehrten Aether zu lesen.
Der Tsunami (japanisch: Welle im Hafen) wird durch eine Anhebung des Meeresbodens hervorgerufen. Das Wort ist noch nicht lange bei uns bekannt: Ein Tsunami im Dezember 2004 im Indischen Ozean hat Tausende von Menschen mit einer Riesenwelle überrollt und ins Meer zurückgeschwemmt. In den Begriffen der griechischen Antike wäre der Tsunami eine Reaktion von Poseidon und Gaia, beides sehr irdische Mächte, während der Äther als Gott des oberen Himmels die Gewalt der anderen Seite darstellt.
Hölderlins Gedicht „An den Aether“ richtet sich an eine freundlich-väterliche Gottheit, die das Ich zuallererst nährte („noch ehe […] Brüste mich tränkten“) und weiterhin nährt. Hölderlin führt in der Ode aus, wie sich die gesamte Natur dem Äther entgegenstreckt, er beneidet die Vögel, beklagt das Umherirren auf der Erde, um sich schließlich, vom Äther besänftigt, mit dem irdischen Leben („lebe nun gerne […] mit den Blumen der Erde“) abzufinden.
Dagegen spricht Falkners Gedicht in locker fallenden Zeilen vom „himmlischen Ansporn“, von „Damals“ und macht uns mit der schönen Endung der „Hölderlin-Treppe“ bewusst, dass ein Gedicht eigentlich immer einen Abstieg bedeutet. Falkner stört die vertikale Ordnung, das Höchste bleibt nicht oben. Während in der Titelzeile das Pathos der Ode umgekehrt wird wie ein Handschuh zur dialektal-breiten Distanzierungsgeste, werden im Fortgang des Gedichts zwei der vielen Ätherbedeutungen gegenübergestellt: der mythologische Äther und der physikalische: Licht im Vakuum und Hülle für das Blau. Eine Transformation der poetischen Setzung in die physikalische Gegenwelt findet statt. Dazu das Spiel mit der Jahreszahl 1796: „Dein Durchbruch“, „meiner 1976“, ein spontihaftes „herunterlachen“ des Himmelsblaus. All das komponiert die wilden 1970er Jahre mit ihrer popgefärbten Gegenkultur und die Rebellion zu einem Durchbruch ins Blaue des Himmels. Rolf Dieter Brinkmann: „Ich gehe in ein anderes Blau“ und „Break on thru to the other side“ (The Doors). Aber auch erste Erfahrung mit Kritik (vielleicht des damals 25-jährigen Jungdichters Falkner?) wird angedeutet via Schillers Vorwurf gegenüber Hölderlin, er sei zu weitschweifig. Die „Hölderlin-Treppe“, bestehend aus „sinnlosen Falschschreibungen“, wird den eigenen Versuchen entgegengesetzt. Die Fröhlichkeit, antike Tanzfreude, verbunden mit „flexible response“, einer militärischen Doktrin der „angemessenen“ Reaktion auf einen Angriff von Truppen des Warschauer Pakts, all das passt sich in die Zeilen zu einer luftigen Theorie, die das Politische andeutet, es als Blau „herunterlacht“.
„Flexible response“, das war ein Stichwort zum „Nato-Doppelbeschluss“ aus dem Jahr 1979. Hatte der „Deutsche Herbst“ des Jahres 1977 für die in ihrer Militanz erstarrte deutsche Linke noch die Erfahrung von Verfolgung bedeutet, eröffnete sich mit dem zunehmend breiter werdenden Engagement gegen die Nachrüstung mit „Pershing 2“-Raketen eine neue Politik. Eine Scharnierzeit, auch von den damaligen Akteuren so empfunden, in der die Isolation aufgebrochen wurde und sich plötzlich ein unerwartetes politisches Feld auftat: Die Grünen. Der Übergang in der Linken wird begleitet von einem neuen Interesse an der Literatur, die in den militanten Zeiten eben noch verpönt war. Plötzlich erschien eine historisch-kritische Hölderlin-Ausgabe im damals noch linksradikalen Verlag Roter Stern. Dieser Verlag, dessen Begründer K.D. Wolff und Michael Leiner aus der radikalen Szene Frankfurts kamen, hatte zuvor vor allem politische Texte aus der Anti-Vietnam-Bewegung veröffentlicht, vorzugsweise von Autorenkollektiven herausgegebene „Dokumente“, etwa die der Black Panthers. Und nun Hölderlin. Band 3 der Frankfurter Ausgabe, in dem die „Ode an den Aether“ zu finden war (wie auch die Hölderlin-Treppen und die seltsame Orthografie Hölderlins, wiedergegeben ohne falsche Scham durch den eigensinnigen und kreativen Philologen Dieter E. Sattler, der für diese Ausgabe eine eigene Form der Textdarstellung erfunden hatte: „Falschschreibungen“), erschien im Jahr 1977. Allein die Tatsache einer „historisch-kritischen Ausgabe“ machte für viele Linke, die sonst kaum Leser philologisch aufbereiteter Klassikerausgaben waren, den Autor Hölderlin zu einem der Ihren. Eine Vereinnahmung des Dichters, die dem Theaterstück von Peter Weiss im Jahr 1971 folgte, das Hölderlins Werk und Schicksal politisch deutete.
Das Gedicht „NA NED REHTEA, TSUNAMI“ findet mit der Konfrontation der bildlichen Gegensätze „das starke kontrollierte Blau“ und „die heiligen Gefäße der Wolken zu zerschlagen“ aus der historisch-politischen auf die physikalisch-mythische Ebene zurück. In der Formel „die Beobachtung des Beobachters“ liegen sich noch einmal die feindlichen Lager des Kalten Krieges gegenüber, es kündigt sich aber auch postmoderne Selbstreferenzialität an, die mit dem „Wimpernschlag“ der Chaostheorie in die Gefilde der Wetterforschung und mit dem „Blau“ als einer „alles vernichtenden Welle“ zum Tsunami der Titelzeile zurückfindet. In der Dramatisierung des Wettergeschehens nehmen die Begriffe der Kontrolle, Beobachtung überhand. Das Wetter hat gleichsam seine Unschuld verloren. Wessen Wimpernschlag kann das alles auslösen? Wer ist das Du in dieser letzten Sequenz des Gedichts? Doch wohl nicht Hölderlin, der in den Anfangszeilen angesprochen wird? Der Leser? Der Äther?
Wenn man die zahlreichen Hinweise auf die 1970er Jahre und ihre intellektuelle Atmosphäre im Gedicht ernst nimmt, dann kann man in der Umkehrung der Anfangszeile ein Bild dessen entdecken, was damals politisch vor sich ging. Die 68er-Generation war ja nicht müde geworden, das Motiv der Umkehrung als ein aktives Eingreifen in die philosophischen Denkgebäude zu preisen. Das Diktum von Friedrich Engels, Marx habe die Dialektik Hegels „vom Kopf wieder auf die Füße gestellt“, wurde als materialistische Pointe gern dargereicht, sobald es um den „Deutschen Idealismus“ ging. Wäre nicht die Wiederentdeckung Hölderlins, dessen Poetik die hegelsche Philosophie vorwegnimmt und in poetischen Konstruktionen vorbildet, ein erneutes Auf-den-Kopf-Stellen der materialistischen Dialektik? Ist Falkners Gedicht selbst eine Schleife, ein ,loop‘, bei dem oben und unten nicht mehr mit Sicherheit auszumachen ist? Oder ein Wirbelsturm? Oder ein Tsunami, der die Küste erreicht?
Falkners Argumentation wäre so zu resümieren: Hölderlin kann man vielleicht reparieren, wie es alle Editoren getan haben und ihre jeweiligen Nachfolger, die immer mit den Verfälschungen der vorausgehenden Edition argumentierten, um ihre als die authentischere anzupreisen. Reparaturen sind auch die geschilderten Deutungen von Hölderlins Leben. Anders als diese „Hölderlinmaschine“ ist aber die kosmische Maschine des Äthers nicht nur nicht zu reparieren, sondern ein Wimpernschlag kann einen zerstörerischen Mechanismus in Gang setzen: den Tsunami. Umgekehrt kann man nicht mehr von einer uns väterlich-geneigten Natur ausgehen, einem Himmel, der uns mit seinem Blau tröstend darüber hinweghilft, dass wir zum Bodenpersonal gehören.
Das Gedicht, das ein dramatisches Geschehen auf privater wie auf kosmischer Ebene in den Zeilenlauf eines unangestrengten Sprechens komponiert (Ausbreitung – Durchbruch – ersticken – schlagkräftige Verben – zerschlagen – vernichtende Welle – türme), erfüllt die Aufgabe, die sich der Band im Klappentext gestellt hat: zu erproben, welche Möglichkeiten des „sublimen Sprechens“ es heute noch gibt. Die Poesie zum Hauptsächlichen voranzutreiben, dem „autonomen Gedicht“, oder als „poetische Masse“ weiterzuverarbeiten und in „unendliche Verknüpfbarkeit“ zu bringen. Programm erfüllt, Reparatur gelungen.

Hans Thill, aus Text+Kritik. Heft 198. Gerhard Falkner, edition text + kritik, April 2013

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