Harald Hartung: Zu Christoph Meckels Gedicht „Es war der Atem im Schnee“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christoph Meckels Gedicht „Es war der Atem im Schnee“ aus Christoph Meckel: Souterrain. –

 

 

 

 

CHRISTOPH MECKEL

Es war der Atem im Schnee

Es war der Atem im Schnee und der Wein am Morgen
aaadie Autopanne im Flußbett, der Fuchs im Gebirge
es war die Maus, die durchs Gras einen Scheitel zog
aaaund es war das von Regenschauern triefende Haar.
Jetzt ist es das Reden über den Schnee und den Atem
aaaden Fluß, den Wein, das Haar. Der Rest ist Gerede.
Und die Maus, das Gras, die Maus – was war mit der Maus.

 

Die Frage nach der Maus

Ein Titel, sagt Lessing, müsse kein Küchenzettel sein. Aber er stimuliert den Appetit. Souterrain – Titel des Lyrikbandes, in dem dieses Gedicht steht –, das läßt Untergründiges, vielleicht auch Abgründiges vermuten. Doch auch Ironie scheint im Spiel. Dichten selbst ist schon Verrat. Womöglich verzichten darum die Gedichte des Buches auf Überschriften. Zudem hängen sie alle miteinander zusammen: kurze Gedichte, aber lange Zeilen; einfache Strukturen, doch komplizierte Beziehungen. Apropos Beziehungen: Auch die älteste Thematik ist im Spiel, Liebe und ihre Vergänglichkeit. Namen kommen und gehen, Julia und ein gewisser Mr. Hopkins, Babylon und die Naumannstraße, auch sie sind Schall und Rauch. Und so kommt unser Gedicht ganz ohne sie aus.
Es beginnt mit Vergangenheit, Vergangensein, beginnt mit seiner einfachsten Formel: Es war. Und damit kein Märchen daraus wird, zählt es lauter Vergangenes auf und kommt so doch zu etwas wie einem Bestand, dessen man sich vergewissern kann. Was also war alles? Oder was alles gab es? Es beginnt sehr poetisch, und das könnte verführen. Atem, Schnee, Wein – aber das Leuchten der Bilder ist ohne Wärme. Sie wirken wie Zitate, poetische Versatzstücke. Wessen Atem war da im Schnee? Wer trank am Morgen den Wein – wenn er überhaupt getrunken wurde? Und selbst vom Abenteuer einer Flußdurchquerung – wie bereitwillig stellt man sich ein südliches, ausgedörrtes Flußbett vor? – blieb nur die Panne, ein Versagen. Auch der Fuchs im Gebirge ist bloß Erinnerungsreflex.
Aber was ist mit der Maus? Auch sie war, auch sie hatte es gegeben. Doch wohl auf eine andere Weise: „es war die Maus, die durchs Gras einen Scheitel zog“. Wir stocken, müssen den Satz umdenken, möchten ihn ergänzen. So wie wir, mit Shakespeares Julia, ergänzen:

Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche.

Auch Meckel ergänzt so merken wir, indem wir weiter lesen –, aber nicht durch Verneinung, sondern durch Setzung, Hinzufügung:

und es war das von Regenschauern triefende Haar.

Plötzlich schießen die beiden Vorstellungen – das Doppelbild von Gras und Haar – zu einer Epiphanie zusammen.
„Die Seele des gewöhnlichsten Objekts“, erläutert James Joyce seinen Begriff von Epiphanie, „scheint uns zu strahlen“. Das Doppelbild leuchtet uns ein, ohne daß wir recht zu sagen wüßten, warum. Die Präzision und leise Komik der durchs Gras zirkelnden Maus paßt auf merkwürdige Weise zum Bild des von Regenschauern triefenden Haars:

Pedanterie zur Auflösung.

Das „Jetzt“ schneidet scharf und desillusionierend ein. Was ist vom erinnerten Bestand geblieben? Nichts als das Reden darüber. Und in diesem Reden reduziert er sich noch mehr, verschwindet der Fuchs, bleibt von der Autopanne nur der Fluß oder bloß das Wort „Fluß“. Aber was meint diese wegwerfende Wendung vom Gerede? Ist ihr Mut nicht gekauft, eine Abwehr aufkommenden Gefühls? Hinter ihr erscheint eine Beunruhigung, die der Redende zu verdrängen sucht. Aber schon ist das Verdrängte da, unruhig zwischen Maus und Gras und Maus hüpfend – die unabweisbare Frage:

was war mit der Maus.

In der Tat, was war mit ihr? Aber der fragende setzt kein Fragezeichen: Weiß er die Antwort oder verzweifelt er an jeglicher Antwort? Die Maus hat etwas ausgelöst; es war die Maus, die in ihm aufrief, was ihn unruhig macht. Und das Gras kommt noch einmal in den Blick, nicht „das von Regenschauern triefende Haar“. An das Gesicht darunter mag er nicht rühren, Erinnerung würde schmerzen. Das treibt ihn um, das läßt ihn fragen. Aber er weiß eigentlich längst, wo Antwort zu holen wäre.

Harald Hartungaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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