Harald Hartung: Zu Dieter Leisegangs Gedicht „Einsam und allein“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Dieter Leisegangs Gedicht „Einsam und allein“ aus Dieter Leisegang: Lauter letzte Worte. 

 

 

 

 

DIETER LEISEGANG

Einsam und allein

Einsam ist ja noch zu leben
Hier ein Ich und dort die andern
Kann durch die Alleen wandern
Und auf Aussichtstürmen schweben

Einsam ist noch nicht allein
Hat noch Augen, Ohren, Hände
Und das Spiel der Gegenstände:
Und die Trauer, da zu sein

Doch allein ist alles ein
Ist nicht da, nicht dort, nicht eben
Kann nicht nehmen oder geben
Leergelebt und allgemein

Oktober 1972

 

Das leergelebte Leben

Der zweiundzwanzigjährige Dieter Leisegang schrieb in einem Gedicht:

Wladimir hat recht
Nur keine Erinnerungen
Schießt sich den ganzen Klimbim
Aus dem Hirn

Schnoddrige Todeskoketterie, so schien es; unpräzise dazu, denn Majakowski, der solcherart Angesprochene, schoß sich ins Herz, nicht in den Kopf. Aber dann, am 21. März 1973, vier Monate nach seinem dreißigsten Geburtstag, wählte Leisegang eben jene Weise des Suizids, die er Majakowski zugeschrieben hatte.
Sein Freitod war keine Nachricht, die die literarische Öffentlichkeit bewegte. Leisegangs Gedichtbände, schmal und in kleinen Verlagen erschienen, hatten kaum Resonanz gefunden; ihr Autor lag quer zur herrschenden Tendenz, die das Persönliche verpönte. Was man später Neue Subjektivität nannte, war bei Leisegang schon vorhanden – zugleich mit der Erkenntnis ihrer Problematik. Ich-Befangenheit wurde ihm zur Ich-Kritik, die sich in diesem Leben nicht mehr zu helfen wußte. Eine aphoristische Notiz aus seiner Feder lautet:

Meine Gedichte bestehen aus lauter letzten Worten. Schon von daher geht ein Zwang aus, mich in Kürze aufzulösen.

Warum datierte er so viele seiner Gedichte? Um die tödliche Konsequenz zu fixieren oder um sich im Schreiben seiner eigenen Existenz zu versichern?

„Einsam und allein“ ist auf den Oktober 1972 datiert. Der Titel nimmt eine Gedankenlosigkeit auf – wie oft sagt man so, wenn man mitleidheischend Verlassensein oder Sichverlassenfühlen benennen will. Was wir mit dem Bindewort „und“ aneinander pappen, reißt Leisegang auseinander in seine Differenz, markiert es als Grenze von Leben und Tod. Hier noch, wenn auch eingeschränkt, die Möglichkeit des Lebens-dort die absolute Negativität, das leere Allgemeine.
Der Einsame kann ja immer noch „durch die Alleen wandern“, wie Leisegang Rilke verkürzt. Er ist bloß einsam, nicht wirklich allein. Sein „Schweben“ auf Aussichtstürmen ist zwar ein bißchen prekär, aber nicht aussichtslos. Noch gibt es Möglichkeiten für den melancholischen Narziß, dessen Name Einsam heißt: das Spiel der Sinne und der Gegenstände (die ihren Wider-Stand verloren), schließlich die Trauer der Existenz, immerhin noch ein Gefühl.
Darauf will der Sprechende schon nicht mehr hinaus. Ein schneidendes „Doch“ kappt das „Noch“ der voraufgegangenen Strophen. Der Gedanke tritt in die Finalität. Formal klingt das wie Synthese, denn Reimklänge aus Strophe eins und zwei kehren wieder. Doch der Gleichklang höhnt, er meint die Monotonie der leergelebten Existenz. Der trochäische Vers kommt fallbeilartig, der umarmende Reim stranguliert. Die Sprache gerät in tödliche Verlegenheiten, ihre Negationen weisen über „da“ und „dort“ auf ein vages „eben“. Meint das Räumliches oder Zeitliches oder schafft es nur „eben“ den Reim zum kurzen Prozeß? Die Mechanik der Sprache ist eben nur intakt, mehr nicht. Aber der Kunstfehler ist erlaubt, wo es auf Kunst nicht mehr ankommt. Nur die präzis gefaßte Negativität gilt: nicht mehr nehmen oder geben, das hebt den Menschen auf. Will das Gedicht auf diesen tödlichen Schluß hinaus?
Dann hätten wir einen Wink überlesen, den uns das Wort-Spiel gibt:

Denn allein ist alles ein.

Das ist nicht bloß negatives Summieren, das klingt wie Rätselspruch. Ist Leisegangs „allein“ womöglich die Kontraktion eines uralten „All-Einen“, das die frühgriechische Philosophie gedacht hat? Kontraktion der Fülle zum Nichts? Wird nicht, wo allein auf alles-ein verweist, an eine Totalität erinnert, die doch einst positiv war? Und kehrt erst das leergelebte Leben in dies Allgemeine, All-Eine zurück? Mir scheint, zu dem Philosophen Leisegang, der bei Adorno und Julius Schaaf studierte, hätte solche negative Dialektik sehr wohl gepaßt.

Harald Hartungaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985

1 Antwort : Harald Hartung: Zu Dieter Leisegangs Gedicht „Einsam und allein“”

  1. Johannes Kandler sagt:

    Ich bin nicht in der Position, letztgültig über Hartung oder Leisegang zu urteilen. Aber eins scheint mir doch wichtig zu sein: Die spröde und knappe Sprache Leisegang hat in den pointierten Hinweisen Hartungs sein Spiegelbild gefunden. Lesenswert, Leisegang und Hartung!

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