Harald Hartung: Zu Friederike Roths Gedicht „Auf und nirgends an“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friederike Roths Gedicht „Auf und nirgends an“ aus dem Band Friederike Roth: Tollkirschenhochzeit. –

 

 

 

 

FRIEDERIKE ROTH

Auf und nirgends an

Mir durch Wort und Gemurmel
in zügelloser Phantasie
einen tiefblassen Mann erschaffen
Federlin, Hölderlein, Allerleiwollust.

Und ein unbekanntes dunkles Weib
einsam, einfältig trauernd, bedrängt
will sie den Mond
vom Himmel herab reißen.

Im vertrauten Verhältnis
mit jungen, hübschen Verderbten
hinterläßt er sein Mal
an Bauch, Hüften, Schenkeln
am Leib der Schönen.

So über Nacht
verwandelt sich manches zu Dung, dürrem Laub.

Ihr aber durch Wort und Gemurmel
zerplatzt der Rachen der Natter
auch die Eich’, aus dem Boden gerüttelt,
aaarafft sie hinweg
und reißt den Mond vom Himmel herab
fahrig, wunderbar kalt.

 

Mondzauber und Hexentradition

„Auf und nirgends an“ – das scheint keine verlockende Überschrift für ein Gedicht, kein heiteres „up, up and away“, das uns entführt. Und doch ist Verführung im Spiel, Zauberei; schwermütig, schwerblütig, und sie zieht uns ein Stück weit ins Vertrauen.
Jemand beginnt, wie aus tiefem Selbstgespräch, mit einem Vorsatz – und gleich mit dem kühnsten, der sich denken läßt: Menschen zu erschaffen. Aber die Zeit der Götter und Halbgötter ist vorbei und auch die des Genies, das stellvertretend sagen kann:

Hier sitz’ ich und forme Menschen nach meinem Bilde.

Eine vorsichtigere, weichere Stimme spricht wie zu sich selbst:

Mir durch Wort und Gemurmel.

Und in diesem Schwanken zwischen Artikulation und Beschwörung soll etwas zustande kommen, soll der Vorsatz Gestalt werden: ein Mensch, ein Mann.
Und da die Phantasie sich schon einmal verstiegen hat, was die Sprechende als „zügellos“ leise zu rügen scheint, kann sie auch gleich aufs Ganze gehen: der „tiefblasse“ Mann – tiefblaß, weil noch vom Schöpfungsakt gezeichnet – muß selber ein Mann der Schöpfung, der Feder, der Poesie sein, im Silbentausch dem höchsten, holdesten Namen verwandt und doch – im zärtlichen Diminutiv „Federlin, Hölderleins – dem Gefühl erreichbar.
Denn auch die Fühlende ist schon zur Stelle, als Liebende und Geliebte, auf jeden Fall unbekannt und dunkel, dazu im voraus verlassen – denn nur so kann ihre Kapazität ungeheuer sein; im Leiden, aber auch im Handeln, das alles Leiden kompensiert. Denn sie leidet ja nur – so läßt sich vermuten –, damit sie nach dem Höchsten greifen kann. Warum aber nicht prometheisch nach der Sonne, sondern nach dem Mond, dem Widerschein wirklichen Feuers? Vielleicht, weil längst etwas vorgefallen ist, das Einsamkeit, Trauer und Bedrängnis erzeugte: die alte Geschichte von Untreue, Schuld und Verletzung. Sie muß nicht ausführlich erzählt werden – auf das Mal, das sie hinterläßt, kommt es an. Und so lautet sibyllinisch und zugleich sehr nüchtern das Resümee:

So über Nacht
verwandelt sich manches zu Dung, dürrem Laub.

Manches, aber nicht alles. Denn jetzt beginnt die eigentliche Aufwärtsbewegung, wird der Zauber gültig, wird die weibliche Figur zur Zauberin, die ihren Vorsatz wahr macht durch „Wort und Gemurmel“. Wie überzeugend, daß ihr die Routine noch fernliegt. „Ihr aber zerplatzt“ – so könnte ein Mißgeschick beginnen; aber es ist ihr erster Triumph. Fragen wir nicht der Natter nach, woher sie kommt und wen sie verschlingen will; und bei der „Eich“ nicht, ob sie etwa ein Relikt aus Goethes Prometheus ist. Das wird offenkundig alles hinweggerafft, um freie Bahn zu haben für den entscheidenden Griff, der noch Ungeduld und Nervosität zeigt, „fahrig“ ist. „Wunderbar kalt“, so darf man annehmen, ist schließlich beides: die Gebärde und das Errungene, der vom Abglanz leuchtende Mond – das poetische Objekt, die Poesie selbst. Alle Bewegung mündet in diesem „nirgends“, dem Nicht-Ort, der U-topie des Gedichts.
Tollkirschenhochzeit ist der Titel des ersten Gedichtbands von Friederike Roth; dort steht auch dieses Gedicht. „Schöne Braut“, heißt es im Titelpoem, „sie soll sich auf mancherlei Künste verstehn.“ Nicht daß Friederike Roth einmal Linguistik studierte, macht diese Kunst aus, sondern daß sie in die Gegenwartslyrik Zauberei, Goldmacherei, ja Hexerei brachte. Auf der „Bettelmannswies’“ der geräderten und verdorbenen Sprache soll noch einmal die „Wunderblume“ erwachsen. Nur ist sie nicht mehr blau wie die der Romantik, sondern eine „milchweiße Blume mit schwarzer Wurzel“ – eine Blume auf dem Papier, das Schwarze der Buchstaben auf dem Weiß des Papiers, eine Blume aus Sprache.
Von Mallarmé über George zu Paul Celan führt die Reihe der Sprachmagier, die solche – wenn man so sagen darf – „linguistische“ Poesie schufen. Friederike Roth ist Enkelin von Enkeln, wie sollte es anders sein. Auch Hexen haben Tradition.

Harald Hartung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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