Hartmut Abendschein: Flarf Disco

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hartmut Abendschein: Flarf Disco

Abendschein-Flarf Disco

AM NEUANFANG DER WELT

ist liebe kälter als der tod
in diesen gefährlichen tagen
ist unsre liebe wie jede
andre sommersprosse
gegen sich selbst immun

die befehlskette ohne den hund
bricht zusammen im
zweifel um charlotte
schneid ich ein stück aus der zeit

ein plot der verschätzung
des grossen blonden volks
so bin ich
auf stelzen aus kristall

hätte ich ein herz
babylon
könnte ich dich höher nehmen
verlörst du die blume
und ich zahlte morgen

yeah

und die sonne
weiss wie diamanten
liebt das herzpapier
und den polkadot blues

 

 

 

Popgedichte anstelle meines Kopfes

– Ein Intro. –

Kürzlich, bei einer Zügelei, fand ich sie wieder, die etikettenlose Kassette, die ich im Jahr 2005 mit einigen Liedern füllte. 60 Minuten Tonband standen mir damals für dieses Vorhaben zur Verfügung; die 120 Gigabytes des iPod waren in den Zeiten des Internets aus der Standleitung noch in weiter Ferne, zum Glück. So steckte ich nach dem Fund die Kassette in den Fisher-Price-Kassettenrekorder meiner kleinen Tochter, drückte auf den grünen Play-Knopf und los gings mit dem Soundtrack aus der Vergangenheit, der immer noch eine gewisse Gültigkeit hat. Denn als die wiedergefundene Mischkassette entstand (eine von sehr vielen, die keinen Absender kannte) waren die jugendlichen Irrungen und Wirrungen mehrheitlich vorbei, und die Trennung von der ersten Liebschaft hatte eine glückliche Ausweitung meiner damaligen Musiksammlung (call CD-, not Plattensammlung) hin zum Guten zur Folge. Die Kassette erinnert auch an die Songs, die ich für diese Saison – frei nach Jonathan Lethem – anstelle meines Kopfes getragen habe. Der Anschaulichkeit liste ich sie hier kurz auf:

Seite A

Miss Ohio’s Nameless
I’ve Hardly Been
Seattle
A Fond Farewell
Go
Halloween on the Barbary Coast
Highway Songs
Winter A-Go-Go
Act Nice and Gentle
Good Old Owl

Seite B

Wild Packs of Family Dogs
Don’t Dance Her Down
We Gotta Have Peace
Waiting For A Superman
Opium Tea
Monkey in a Zoo
Candle Mambo
If
Pantone Cyan

Wenn man diese Titel so liest, dann könnten einige Geschichten erzählt werden. Da ist natürlich die Tonspur, die sich schon ein wenig besserwisserisch gibt (Captain Beetheart! Daniel Johnston!), aber im Grossen und Ganzen schlicht indiefizierte Popsongs (bevor „Indie“ zum grossindustriellen Schlagwort wurde) aneinander reiht. Ich könnte auch erzählen, welche Bedeutung die ausgewählten Songs für mich hatten – das wäre aber reichlich uninteressant. Und es gibt, nun, da ich die Trackliste niedergeschrieben habe, auch die Möglichkeit, eine Geschichte zu schmieden anhand der Liedtitel. Die ginge in etwa so, dass der Höhlenklaus, der seinen Opium-Tee schlürft, gemeinsam mit der guten alten Eule auf den Weltfrieden und den Supermann wartet, ehe er den netten und freundlichen Kerzenmambo tanzt. Aber ich stoppe hier mit diesem Versuch einer Erzählung, der nur stümperhaft illustrieren soll, wie man mehr oder weniger zufällig aneinandergereihte Songtitel in einen lustigen Flarf-Poetry-Wortsteinbruch verwandeln kann.

Flarf-Poetry: Das bedeutet „Googles Werk und Autors Beitrag“, wie einst die FAZ über die Suchmaschinenlyrik, die vorab in den USA ihre Anhängerschaft hat, titelte. Zwei mehr oder weniger disparate Begriffe werden bei dieser Text-Methode ergoogelt, und die Ergebnisse miteinander kombiniert und permutiert und adaptiert und mutiert, bis, ja, bis ein Gedichtet erdichtet ist.

Für den vorliegenden Band Flarf Disco arbeitet Hartmut Abendschein nun mit der Technik, nur dass der Autor nicht die mystischen Algorithmen der Suchmaschinen dieser Welt als Quelle für seinen Textkorpus aufgesucht hat – und auch nicht die gesammelten Liederlisten seiner Mischkassetten (ob er solche hergestellt hat, entzieht sich sowieso meinem Wissen). Vielmehr hat Abendschein in einer feinsäuberlichen und höchst gewissenhaften Archivierungsarbeit die Song- und Tracktitel von 120 CDs abgeschrieben und ins Deutsche übertragen. Es sind die CDs mit den Nummern 1 bis 120 aus der Spex, dem deutschen Popkulturmagazin, das einst in Köln, nun in Berlin zu Hause ist und mal monatlich, mal im Sechs-Wochen-Takt, mal zweimonatlich erscheint. Es gab Zeiten, da prägten die Spex-Autoren den deutschsprachigen Popdiskurs und es gibt Zeiten wie heute, in denen es doch weniger gewichtig zu und her geht und die Abgrenzung zu anderen, einst streng verachteten Fachpressemagazinen nicht immer leicht ablesbar ist. Immer aber ist der weite Pop-Kosmos in der Spex von low bis high umrissen, vom Zentrum bis an die Peripherie. Flarf-Poetry nach Hartmut Abendschein bedeutet: Die Spex-Beilagen-CDs und des Autors Beitrag.
Seit dem Jahr 2000 versammelt die Kompiliererschaft pro Heft einschlägige musikalische Neuerscheinungen. Die erste Heft-CD überhaupt enthielt beispielsweise dieses Wortmaterial:

Sonnendeck
Happy Hip Hop
Expo 2000 (Mambo)
Blauer Schein
Nude Paper
Foolin
Tomorrow Will Be Like Today
It Could Be Nice
Konfliktfickfähig
Flipper

Hier draus lässt sich scheinbar schwerlich ein Gedicht schmieden – aber immerhin einen schillernden Satz wie „flipper fickt konflikt sonne deckt papier“, der selbstverständlich auch der Logik des Flarfens entspricht und deshalb auch in diesem Band zu lesen ist. In einem mir nicht im Detail bekannten, mehrstufigen Verfahren übertrug und zerschnitt, kombinierte und permutierte Abendschein jeweils die Titel zweier Heft-CDs miteinander.
Entstanden sind Gedichte, die auch ohne Nerdenwissen schön funktionieren, zu denen man aber ganz wunderbar abnerden kann. „hast du gelernt von rocky eins bis drei“? Klar: Cornershops unsterblicher Song „Lessons Learned from Rocky I to Rocky III“. „diese jungs vom kaufzoo“? Natürlich die Pet Shop Boys. Die Zeile „entspann dich es ist nur ein geist“? Stammt aus Dirk von Lowtzows Projekt Phantom Ghost. So hangelt sich der Leser und die Leserin durch diese 60 Gedichte, die mit Punchlines und Zeilen der Trauer und der Ekstase und der Einkehr und des Nonsense und des kontrollierten Begehrens hantieren, man trifft auf einen Herrn Magnesium, auf Yoshimi, die die pinkfarbenen Roboter bekämpft und auf den Bruder des Bürgermeisters unten am Brückenwasser (googeln Sie den Titel!). Zuweilen verführt Abendschein auch an den Ort, wo Löwenwein ist. „Donde Lion Wine“? Ja, genau. Und aber auch die Klarstellung: „ein punksong ist nicht wer wir sind“, sondern Popgedichte, die ich noch für eine Weile anstelle meines Kopfes tragen werde.

Eben klingelts an der Tür, es ist der Postmann mit einem kleinen Päckchen. Ich öffne es, und drin ist eine Mischkassette, zusammengebastelt in der Gegenwart des Spätherbstes 2014. „feeling romantic feeling tropical feeling ill“ ist der Titel des Präsents, es könnte wenn nicht der Untertitel, so doch einer dieser zwirbelnden Verse aus der Flarf Disco sein.

Benedikt Sartorius, Vorwort

 

Flarf Disco

folgt einem konzeptuellen Ansatz. Aus der vollständigen Sammlung von 120 Musik-CD-Samplern einer Zeitschrift für Popkultur und -theorie (Spex, Jahrgänge 2000–2014) wurden die Musiktitel extrahiert und – wo nötig – ins Deutsche übertragen. Das so destillierte Wortmaterial wurde als (exemplarisches) Spracharchiv bzw. Korpus einer zeitgenössischen Popsprache verstanden und verwendet. Unter Anwendung diverser Montageverfahren und -techniken der Verdichtung und in mehreren Bearbeitungsstufen entstanden daraus Gedichte und Stimmungsbilder, die sich in Themenfeldern wie Jugend/Alter, Geschlecht/Gender, Musik, Identität, Urbanität etc. bewegen.

edition taberna kritika, Ankündigung

 

Dichter und Computer im radikalen Zwiegespräch

(…)
So hat der in Bern lebende Autor Hartmut Abendschein unter dem Titel Flarf Disco in seiner edition taberna kritika sechzig „Popgedichte“ veröffentlicht, lyrische Montagen auf der Basis zahlreicher Musiktitel, dem „Korpus einer zeitgenössischen Popsprache“. Abendscheins Verfahren unterscheidet sich von der herkömmlichen Flarf-Technik, bei der zwei disparate Suchbegriffe im Netz gefunden, arrangiert, permutiert und von vielen Usern in endlos-ewige poems in progress verwandelt werden können. Aber Flarf-Simulakren gehören wie Flarf-Originale zur Nonsensliteratur, die sich mit lautsprachlichen Versen wie „meine ich fa / weine ich / do re mi so la ti do“ zunächst an unser musikalisches Gefühl wendet und bestenfalls im zweiten Schritt einen tieferen Sinn erschließt.

Elke Heinemann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.2015

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Julian Gärtner: Der hohe Ton des Funkenkönigs
literaturkritik.de, August 2015

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

2 Antworten : Hartmut Abendschein: Flarf Disco”

  1. Korrektorat sagt:

    es sollte wohl ‚befehlskette‘ heißen.

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