Heinrich Detering: Vom Zählen der Silben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinrich Detering: Vom Zählen der Silben

Detering-Vom Zählen der Silben

VEREHRTE DAMEN UND HERREN, 

erwarten Sie bitte von den folgenden Überlegungen keine neuen Thesen, nichts Programmatisches und eigentlich überhaupt nichts Neues. Was ich Ihnen mitteilen möchte, sind nur ein paar Erfahrungen mit Gedichten.
In einem sehr schönen Buch, das auch deshalb so schön ist, weil man seinen Schlussfolgerungen auf jeder Seite widersprechen möchte, hat Heinz Schlaffer unter der Überschrift „Poesie und Wissen“ gut hegelianisch die formalen Spiele der Poesie als nicht mehr geglaubte Residuen eines verlorenen mythischen Wissens diagnostiziert – Restbestände magischer Praktiken, die ihre Zauberkraft verloren haben und durch ästhetischen Zauber kompensiert werden. Wer allerdings jemals versuchte, mit Versen ein Kind zu trösten, das sich beim Spielen verletzt hat, könnte diese reinliche Scheidung bezweifeln. Eines der hier zweckmäßigsten Gedichte jedenfalls vermag erfahrungsgemäß sehr wohl zu zaubern. Es lautet:

Heile, heile Gänschen,
Es ist bald wieder gut,
Das Kätzchen hat ein Schwänzchen,
Es ist bald wieder gut.
Heile, heile Mausespeck,
In hundert Jahren ist alles weg.

Wer hier dem Zauber auf den Grund gehen will, tut gut daran, sich das Metrum einzuprägen. Denn dass es bald wieder gut sei: das kann der Tröster lange dreihebig behaupten, ohne dass das verletzte Kind wirklich erleichtert wäre; es verharrt einstweilen nur in einer neugierig-zuversichtlichen Erwartung.Vollzogen wird die Heilung erst im abschließenden Reimpaar, nämlich durch die vierte Hebung, durch die sich die Schlussverse von den dreihebigen Vorgängern unterscheiden, und durch die geballte Wucht zweier betonter Kadenzen. Sie geben diesem Schluss den finalen Nachdruck und den Heilungsbemühungen den erwünschten Erfolg. „Heile, heile Mausespeck, / In hundert Jahren ist alles weg“: da ist der Schmerz weggezaubert, es ist alles wieder gut, basta. Kinder brauchen Metrik.
Und nicht die Kinder nur speist man mit Metrik ab. Sondern beispielsweise auch die Pferde, und zwar gleich am Beginn dessen, was man später die deutsche Poesie nannte. Auch in den Merseburger Zaubersprüchen steckt die eigentliche Magie im Metrum; ohne Stabreim kein Heilungserfolg. So beschwört Wotan das kranke Götterpferd: 

sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki:
ben zi bena,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden
sóse gelimida sin. 

Und wieder steckt der Vollzug des Heilungszaubers in der ominösen zusätzlichen Hebung: Weil der letzte Vers um dieses entscheidende Stückchen länger ist als die vorhergehenden, nur deshalb kann er den gewünschten Basta-Effekt erzielen. Allein dank Hebungsdreiheit und betonter Kadenz gelingt die Heilung auch hier, und das Gebrochene heilt wieder, als sei es geleimt. Wer ein Pferd besitzt, möge die Wirkung erproben.
Meine Damen und Herren:Weil mich, als Liebhaber, Leser und Schreiber von Gedichten, der Übergang vom Zählen in den Zauber interessiert, deshalb möchte ich heute von nichts weiter sprechen als vom Zählen der Silben. Aus dem weiten Feld der metrischen Künste will ich also nur diesen kleinen Ausschnitt betrachten, will von einigen der einfachsten Bausteine aus ein paar sonst wohlbekannte Phänomene in den Blick nehmen; weiter nichts. Damit aber greife ich gleich auch einen Stier bei den Hörnern, der mich, als professoralen Leser und Schreiber von Gedichten, manchmal hart bedrängt hat. Und das ist der zählebige Argwohn gegenüber der Verbindung von Dichtung und akademischer Welt. Wenn es um Gedichte geht, dann sind ja Philologen, jedes Kind weiß es und Lieschen Müller weiß es auch, Fliegenbeinzähler, Silbenzähler; sie zerstören die Blüte, um ihre Schönheit zu beweisen. (Allerdings: „Zerpflücke eine Rose“, sagt Brecht, „und jedes Blatt ist schön.“) Und wenn sie auch noch selber Gedichte schreiben, dann begegnet man ihnen in Deutschland – sehr anders als in Frankreich oder in den angelsächsischen Ländern – noch immer mit dem Verdacht, sie wollten die zerlegten Blütenblätter bloß wieder pedantisch zusammenkleben. Von Poesie und Professoren erzählt, mit auch selbstironischer Komik, das dritte Kapitel in Heinz Schlaffers Buch: von der philologischen Verwaltung der Poesie als der letzten Schrumpfform des verlorenen Zaubers. Wo einst Beschwörung und Bann herrschten, da gelten nun Emendationsverfahren, Leithandschriften und Bibliotheksöffnungszeiten. Von der Lyrik sollte man solche Leute lieber fernhalten. Wenn nun aber doch einer davon sprechen will, wie er mit Gedichten lebt und warum er Gedichte liebt, dann bleibt ihm nur eins: Er packe den Stier bei den Hörnern, schlage die Sorgen in den Wind und rede entschlossen vom Zählen der Silben.

(…)

 

 

 

Der Literaturwissenschaftler und Lyriker Heinrich Detering

erläutert in seiner vielbeachteten Münchner Rede zur Poesie seine Erfahrungen mit Gedichten – und die möchte jeder gerne teilen, der sich mit der Magie des Metrums und dem ästhetischen Zauber des Gedichts in unserer Zeit befasst.
„Weil mich, als Liebhaber, Leser und Schreiber von Gedichten, der Übergang vom Zählen interessiert, deshalb möchte ich heute von nichts weiter sprechen als vom Zählen der Silben.“ Heinrich Detering macht in seinen Beispielen aus der Geschichte der Lyrik verstehbar und hörbar, wie in der „verborgenen Regel“ der Inbegriff allen Sprachmusik zu finden ist.
„Wer der gewohnten Pracht des Klangs misstraut, wer es lieber etwas prosaischer hätte und doch in gebundener und damit vom Alltag abweichender Rede; wer die Strenge der genauen Form und die Bescheidenheit des stilus humilis gern üben will, ohne sie vorzuzeigen oder selbst zum Thema zu machen, der kann hier ein neues Handwerk lernen.“

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2009

 

Beitrag zu diesem Buch:

Walter Fabian Schmid: Zu Heinrich Deterings Poesierede
poetenladen.de, 16.12.2009

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Georg Langenhorst: Germanist, Katholik, Poet – Heinrich Detering wird 60
feinschwarz.net, 17.10.2019

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