Heinz Ludwig Arnold: Zu Thomas Braschs Gedicht „Halb Schlaf“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Braschs Gedicht „Halb Schlaf“ aus Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer. 

 

 

 

 

THOMAS BRASCH

Halb Schlaf

Und wie in dunkle Gänge
mich in mich selbst verrannt,
verhängt in eigne Stränge
mit meiner eignen Hand:

So lief ich durch das Finster
in meinem Schädelhaus:
Da weint er und da grinst er
und kann nicht mehr heraus.

Das sind die letzten Stufen,
das ist der letzte Schritt,
der Wächter hört mein Rufen
und ruft mein Rufen mit

aus meinem Augenfenster
in eine stille Nacht;
zwei rufende Gespenster:
eins zittert und eins lacht.

Dann schließt mit dunklen Decken
er meine Augen zu:
jetzt schlafen und verstecken
und endlich Ruh.

 

Spiegelung eines Unglücklichen

Thomas Brasch, der dieses Psychogramm Ende 1982 geschrieben hat, ist inzwischen ein leider unbekannter Autor. Der 1945 geborene Sohn jüdischer Emigranten, die 1947 aus dem englischen Exil in die DDR gingen, hatte dort ein kompliziertes Leben zwischen Eliteausbildung und Rebellion. Als er 1968 Flugblätter gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei verteilte, wurde der Student der Dramaturgie in Babelsberg relegiert und zu zweieinviertel Jahren Gefängnis verurteilt. 1969 begnadigt, arbeitete er als Fräser und schrieb. Ende 1976 verließ er die DDR, wie so viele damals, die Biermann nachzogen.
Brasch war ein entschiedener Einzelgänger, auf keinen Nenner zu bringen. So startete er eine literarische Westkarriere, deren dissidente Ausnutzung er sich versagte. Publizierte in einem Jahr (1977) den sprichwörtlich bekannt gewordenen Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne, mit Rotter das Stück einer klassischen deutschen Mitläuferbiographie und in Kargo eine spannende Mischung all dessen, was er konnte: Szenen, Erzählungen, Gedichte. Am 1. November 2001 ist Thomas Brasch gestorben.
Das Gedicht „Halb Schlaf“ hat Brasch Uwe Johnson gewidmet. Als der im Frühjahr 1984 tot gefunden wurde, fand man es, gerahmt im Druck aus der F.A.Z. vom 26. November 1982, in Johnsons Arbeitszimmer neben dem Schreibtisch an der Wand.
Brasch hatte Johnson am Rande der Buchmesse 1982 getroffen, und bei diesem Treffen war es zu einem Streit gekommen. Denn Brasch hatte Johnson damals empfohlen, auf die Ausformulierung des vierten Bandes seiner Jahrestage zu verzichten und statt dessen das recherchierte Material roh zu veröffentlichen. Brasch wollte Johnson helfen, seinen „writer’s block“ zu überwinden; doch der Grund für Johnsons Schreibhemmung war keine formale Frage, der lag tief und im Zentrum seiner Seele. Er hat sie am Ende seiner „Begleitumstände“ berichtet: eine für Außenstehende kaum zu durchschauende Mischung aus Wahn und Wirklichkeit. Johnson empfand sich von seiner Frau über Jahre hinweg betrogen mit einem tschechischen Geheimdienstoffizier und sah dadurch das gesamte Projekt seiner Jahrestage diskreditiert. In der „Skizze eines Verunglückten“ hat Johnson 1981 seine Imagination dieser Geschichte erzählt, um achtundzwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt als Geschichte des J. Hinterhand, der seine Frau tötete, weil sie ihn betrogen und sein Gefühl für Anstand und Recht verwundet hatte.
Johnson empfand 1982 die Empfehlung von Thomas Brasch zutreffend als pädagogische Maßnahme und fragte ihn wütend, ob er, Brasch, ihm den Abschluß der Jahrestage nicht zutraue. Ein Jahr später erschien deren vierter und letzter Band. Thomas Brasch hat kurz vor seinem Tode erzählt, daß er sein Gedicht nach diesem Treffen und unter dem Eindruck der Lektüre von Johnsons „Skizze eines Verunglückten“ geschrieben habe, in der er übrigens einen neuen radikalen Schreibansatz Johnsons erkannte, der ihm interessanter erschien als das Jahrestage-Projekt.
Anklänge des Gedichts an Johnsons „Skizze“ sind offensichtlich. Seine Grundstimmung: „Denn im Moment der Erkenntnis, daß man ihm ein richtiges Leben vorgespielt habe inmitten eines falschen, sei ein Bewußtsein angehalten worden, arrestiert, versiegelt, bloß noch ein Behältnis, in dem starr Vergangenheit verwaltet werde. Ganz in sich eingeschlossen, in sich selbst verrannt und verhängt, ,sperrt sich das Bewußtsein gegen neue Eingänge‘, also Erkenntnisse, bleibt ,süchtig, im Zustand einer Folter zu verharren‘“ („Skizze“) – was spiegeln Wörter wie die dunklen Gänge, das Finster, das Schädelhaus, das Grinsen, die Gespenster, das Zittern denn anderes als innerlichste Angst, das Psychogramm des Gequälten? Im Gedicht wird es, so wie der Wächter es wahrnahm, aufgenommen, das Zittern im Lachen, der Schrecken gebannt in der Poesie, eingeschlossen in Vers und bindenden Reim: und endgültig zur Ruhe gebracht.
Das Gedicht benennt genau und evoziert perfekt die Erkenntnis einer inneren Verknotung, die Johnsons unerbittlicher Natur entsprang und unter der er litt, die er aber, so sehr sich darein versteigend und sich selbst strangulierend, selbst nicht zu lösen vermochte.
Es ist aber wahrscheinlich, daß Thomas Brasch, der – wie Johnson – unerbittliche Freund und selbst für die Welt Verlorene, dieser heftig Liebende und unendlich Einsame, dieser „in die eigenen Stränge verhängte“ Mensch zitternd und lachend, weinend und grinsend dies alles auch zu sich selbst in seinem Schädelhaus hat rufen hören.

Heinz Ludwig Arnoldaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

 

P.S. Eine weitere Gedicht-Geschichte erzählt Sandra Biegger.

 

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