Heinz Politzer: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Gebirgsrand“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Gebirgsrand“ aus dem Band Ilse Aichinger: verschenkter Rat. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Gebirgsrand

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

 

 

Die Sachlichkeit der Träume

Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeit waltet. Die sechsunddreißig Silben sind deutsch, aber die Ökonomie und Intensität der fünf Zeilen sind fernöstlich. Kein Buchstabe, der zuviel wäre! (Im Deutschen gibt es sie kaum anderswo als in „Wanderers Nachtlied“, Mörikes „September-Morgen“ und gelegentlich in ein paar Zeilen der Droste.) Aber selbst von diesen Gedichten unterscheiden sich die Verse der Aichinger durch die Abwesenheit jeden Glanzes. Alles ist hier Gesicht. Die Strophe besitzt die Sachlichkeit der Träume, von der sie handelt. Und wie auf chinesischen Zeichnungen nicht nur die Linie spricht, sondern auch der leere Raum, der sie umgibt und den sie zum Leben erweckt, so sind es weniger die Wörter, die dieses Gedicht ausmachen, sondern es ist das Schweigen, das diese Wörter zugleich brechen und bewahren.
Zunächst scheint alles ins Ungewisse zu schwanken. Was uns zu Beginn anspricht, ist ein Bedingungssatz, ein Irrealis („Was täte ich, wenn nicht…“), Spricht er uns an? Gewiß, aber… mit äußerster Dezenz. Die offenen Lautträger in den Worten „täte“, „Jäger“ und „wäre“ ergeben eine positive Korrespondenz, nehmen diese jedoch sogleich wieder zurück, da sie allesamt Träumen gelten, deren Stammsilbe den einzigen Diphthong des Gedichtes umschließt. Diphtonge sind bunt; der Zweilaut setzt die lauteste Wortfarbe in die verhaltene Abgeschiedenheit des Ganzen. Die Träume sind Jäger; keine Metapher wird angewandt; es herrscht Identität. So weit reicht der östliche Archetypus, daß man sich die Schützen eher mit Pfeil und Bogen vorstellt als mit den in der deutschen Gegenwart üblicheren Gewehren. Noch wird nicht gesagt, ob diese Jäger, die Träume, die Träumende bedrohen oder beschützen. Wir erfahren lediglich, daß die Jäger vor den Träumen Vorrang besitzen, da die Sprache sie zuerst nennt, und daß das träumende Ich auf die Jäger angewiesen ist („Denn was täte ich, wenn die Jäger nicht wären…“).
Das erste Wort, das „denn“, öffnet das Gedicht, noch ehe es begonnen hat, ins Unendliche. Vieles ist ihm vorangegangen, Gespräche, Gedanken, Erwägungen, Zweifel. All das zu wissen bleibt uns benommen. (Solche Gedichtanfänge aus dem Unendlichen sind seit Romantik und Neuromantik nicht überraschend. Vergleichen wir aber das hochmütig-einschränkende „freilich“ in Hofmannsthals Anfangszeile „Manche freilich müssen drunten sterben“ mit diesem „denn“ der Aichinger, dann ersieht es sich leicht, wieweit hier die Dichtung vom Bewußtsein der Klasse zu dem des Daseins selbst fortgeschritten ist.)
Bewußtsein des Daseins? Die drei letzten von den fünf Zeilen behaupten die Wirklichkeit, die un-scheinbare, der Träume. Das Verbum, um das sie sich drehen, steht im Indikativ. Die Träume steigen nieder, und dieses Niedersteigen ist wiederum das einzige Tätigkeitswort der Strophe, das ein Ereignis berichtet. Es steht nicht in der Möglichkeitsform, sondern in der ganzen Nacktheit der Realität. Daß es Träume sind, die im Niedersteigen das Wirkliche tun, bildet das Paradox, um das sich das Gedicht schließt wie um eine Pfeilspitze.
Das Spiel des Widerspruchs – es ist ein blutiges Spiel – wiederholt sich in dem Morgen, an dem die Jäger niedersteigen, und in dem Schatten, in den sie sich verlieren. Daß alles dieses an der „Rückseite des Gebirges“ geschieht, also jenseits des Gebirgsrandes, an dem die Träumende die Jäger träumt, spricht sowohl von Befreiung wie von Trennung. Die Spitzenkrone der Paradoxie aber besteht darin, daß sich der Morgen, dem die Schatten, die letzten beiden Wörter des Gedichts, widersprechend entgegengesetzt sind, vor diesen verschleierte. Das deutet auf die Wiederkehr der Nacht. Aber doch ist es Licht und wird Licht bleiben, bis sich die Träume, die Jäger, diesseits des Gebirges wieder zeigen.
Die Zärtlichkeit des Possessivpronomens „meine Träume“ darf nicht so verstanden werden, als wären die Schützen Beschützer. Vermutlich sind ihre Pfeilspitzen auf die Stirne der Träumenden gerichtet. Aber das bloße Vorhandensein dieser zweiundzwanzig Wörter bezeugt, daß die Jäger, wenn auch aus Angst geboren, der Träumenden geneigt gewesen sind.
Wie das Gedicht vom Gebirgsrand mit einem „denn“ aus der Unendlichkeit geschöpft worden war, verliert es sich auch wieder in eine Erinnerung, die unerschöpflich ist. Aus der Unerschöpflichkeit dieser Schatten kehren die Jäger, die Träume wieder. Dürfen wir am Ende das Wort wagen, sie erstünden auf?

Heinz Politzer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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