Helmut Heißenbüttel: Den Blick öffnen auf das, was offen bleibt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Helmut Heißenbüttel: Den Blick öffnen auf das, was offen bleibt

Heißenbüttel-Den Blick öffnen auf das, was offen bleibt

BRUCHSTÜCK I

Gedenk ich der Tage
da zu wissen mich alles dünkte
schleicht sich spöttisch Gelächter
durchs Ohr mir.
Aber seltsam traurig verwandeltes
wie aus Sehnsucht spöttisch.

Aufplatzend gleich der hingefallenen Frucht
und bitter duftend in die Süße seiner Reife
war das Herz.

Die Blüten des Fleisches
blühn weiß und kühl.
Wohin ach soll ich
vor dem Wahnsinn fliehn.

Zwischen den Bäumen schlägt der Pfau
sein Rad
und schreit.

 

 

 

Was man wörtlich nimmt oder

Die Grenzen der Willkür

Die vorliegende Auswahl präsentiert sich als Lesebuch, ohne indessen nur eine Zusammenstellung bereits kanonisierter Texte sein zu wollen. Der Schwerpunkt liegt auf Texten, die bislang wenig oder gar nicht beachtet wurden, die es also noch zu entdecken gilt – und damit sind nicht nur solche gemeint, die aus vergriffenen oder ein wenig abgelegenen Publikationen stammen wie „Bruchstück I“ und „Hinterm Zaun“. Wenn daneben auch Texte vertreten sind, die bereits Eingang in Anthologien und Schullesebücher gefunden haben oder zum Gegenstand literaturwissenschaftlich-sprachanalytischer Untersuchungen gemacht wurden wie „das Sagbare sagen“ oder „Politische Grammatik“, so geschah das weniger zum Zweck des ,Wiedererkennens‘ – was im Umgang mit Literatur fast immer fatal ist –, als in der Absicht, das Bekannte als neu zu Entdeckendes zu empfehlen. Die vorliegende Auswahl versteht sich also als Lesebuch, das zugleich Anregungen für eine neue Lesart geben möchte. In dieser Perspektive hat der aus einer jüngeren Rezension Heißenbüttels stammende Titel „den Blick öffnen auf das, was offen bleibt“1 programmatischen Charakter.
Diesem Ziel ist nicht nur die Auswahl, sondern auch die Anordnung der einzelnen Texte untergeordnet. Ungeeignet im Hinblick auf eine neue Lesart erschien eine Gruppierung nach Methoden der Textherstellung. Das war sinnvoll zu einem Zeitpunkt, als sich die Einsicht, daß Literatur es nicht unmittelbar mit ,Inhalten‘ zu tun hat, erst allmählich durchsetzte. Experimentelle Literatur begann sich zu diesem Zeitpunkt als eine Form von Literatur herauszukristallisieren, die, wie Harald Hartung es formulierte, „die Sprache als Material und zugleich als Thema methodischer Untersuchung“2 begriff. Abgesehen davon, daß sich diese Definition inzwischen als unzureichend erwiesen hat, hatte eine Gruppierung nach Methoden zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich die Funktion einer Art Übersicht, die von den konkreten Texten eher weg-, statt zu ihnen hinführt und damit jenem Teil der Rezeption Vorschub leisten würde, der in der Beschreibung der Methode schon den ganzen Text zu haben glaubt.
Die Anordnung der Texte in diesem Band folgt der Chronologie, ohne sich dabei jene Teleologie zu eigen zu machen, die die bisherige Heißenbüttel-Rezeption weitgehend bestimmt hat. Kombinationen und Topographien wurden immer wieder als ,Vorstufen‘ gewertet, die, so Otto Lorenz, „das Grundthema der Registration und Montage des Vorgefundenen“ schon „im Titel präludieren“.3 In dieser Perspektive hätte es sich angeboten, einen jener Texte auszuwählen, die – wie „Bruckstück 3“ oder „Einst“ – solche Elemente in einer bereits identifizierbaren Form enthalten. Ein derartiges Verfahren erscheint indessen zu kurz gegriffen, weil es einerseits eine Homogenität suggeriert, die es so nicht gibt, und andererseits auf einer inzwischen obsolet gewordenen Vorstellung beruht, die – sich auf Rimbauds Definition des Dichters als eines „multiplicateur de progrès“4 berufend – ,Avantgarde‘ oder ,experimentelle Literatur‘ an den Begriff des Fortschritts koppelt, in diesem Fall also die frühen Texte nur mit dem ,Blick nach vorn‘ – auf die Textbücher – wahrzunehmen in der Lage ist. Das zeigt sich etwa bei Reinhard Döhl, demzufolge die „Bruchstücke“ einen „ersten, noch rückwärts gewandten Schritt vom traditionellen Gedicht weg“5 darstellen, „das Vorläufige, das noch nicht Vollständige [!] betonen“,6 während in den Titelgedichten der Kombinationen bereits die ,methodischen Konsequenzen‘ gezogen seien, mithin der ,Schritt nach vorne‘7 erfolge. Döhl hebt hervor, „wie schwer“ Heißenbüttel die „,Abkehr‘“8 von der Tradition falle, übersieht dabei jedoch, daß die „Bruchstücke“ nicht Relikte, sondern konstitutive Bestandteile der Kombinationen sind und Rückschlüsse auf Heißenbüttels Umgang mit der Tradition erlauben. Harald Hartung hat demgegenüber auf die „doppelte Perspektive im Werk Heißenbüttels“ hingewiesen: „die des ins Offene, nach vorne gerichteten Experimentierens und die des nach rückwärts, auf einen bestimmten Fundus an Erfahrungen gerichteten Rekapitulierens“.9 Die Konsequenz besteht für Hartung allerdings lediglich darin, Abstriche an Heißenbüttels ,Avantgardismus‘ zu machen, indem er ihn als „konservative[n] und konservierende[n] Experimentator“10 bezeichnet. Hinzu kommt, daß er den erwähnten ,Fundus‘ als „dem (veröffentlichten) Werk Heißenbüttels voraus [liegend]“11 ansieht. Ein Text wie „Bruchstück 1“ zeigt aber, daß dieser ,Fundus‘ Teil des veröffentlichten Werks ist. Das dem Band vorangestellte Kafka-Motto – „Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen“ – wertet die Kombinationen als Ort des Traditionsbruchs. Üblicherweise erscheint dabei Tradition immer als ,die der anderen‘. Heißenbüttel erkennt sich demgegenüber als Teil der Tradition und bezieht folgerichtig die eigene poetische Praxis in den zu leistenden Traditionsbruch ein. Die „rigorose [] Konsequenz“, die er dem Carl Einstein der „Fabrikation der Fiktionen“ bescheinigt, für den „keine Rücksichtnahme“ mehr gelte, „auch die nicht auf sich selbst“,12 findet sich bei ihm selber, allerdings mit dem Unterschied, daß diese Rücksichtslosigkeit bei Einstein am Ende seiner offen fiktionalen Produktion13 steht, bei Heißenbüttel dagegen an deren Beginn. Von hier aus erscheint er als Vertreter eines Avantgardemodells, das neben die bereits vorhandenen Modelle tritt: Während etwa Rimbaud der Literatur den Rücken kehrt, auf den Wunsch, ,das Leben zu ändern‘ verzichtet und Kaufmann wird, Einstein anscheinend die Literatur zugunsten eben dieser Veränderung des Lebens durch politische Praxis aufgibt, Dieter Roth in wahlloser Summierung nur noch sein „täglich stattfindendes Gelebe zeigen“14 will oder Sollers sich als offensiv auftretender Verfechter traditioneller Schreibweisen zu gerieren versucht, scheint Heißenbüttels Experimentieren und Dekonstituieren der Tradition von Anfang an konstruktiv zu sein. Dieser Konstruktivismus bestünde darin, daß er literarisch-sprachliche Verfahrensweisen so systematisch wie möglich erprobt, und zwar nicht als ,Selbstzweck‘, sondern im Hinblick auf Möglichkeiten ihrer Anwendung, was sich besonders deutlich im Bereich der Syntax zeigen ließe.
Die Kombinationen als Ort des Traditionsbruchs zu bestimmen, bedeutet indessen nicht, daß Gedichte wie „Bruchstück 1“ – von Döhl als „ungeschickte[r] Versuch einer Neuzusammensetzung“15 vorgängiger Texte apostrophiert – eindeutig jenseits, andere Texte aber eindeutig diesseits des ,zu erreichenden Punktes‘ zu situieren wären. Die Auffassung, daß die „Bruchstücke“ nicht Bruchstücke sind, sondern aus Bruchstücken bestehen, dürfte eine aus dem Titel des Bandes abgeleitete Verallgemeinerung darstellen. Seine Einheit erhält „Bruchstück 1“ durch die Reihung existentieller Themen als poetischer Themen – Erkenntnis, Liebe, Sexualität, Wahnsinn (mit spürbarer Wendung zu Hölderlin) – und gipfelt im Bild des Pfaus als eines – mit Jandl gesprochen – ,heruntergekommenen‘ Symbols. Indem der Pfau gleichzeitig als Symbol und als Symbol der Entwertung von Symbolen im historischen Prozeß erscheint – das Symbol der Schönheit und Unsterblichkeit verflacht zum Symbol der Eitelkeit –, bleibt die Schreibweise buchstäblich ,im Bild‘, das auf diese Weise von innen heraus dekonstituiert wird.
Wer hier nur die Relikte einer überkommenen Schreibweise sieht, die es im Rahmen ständiger Progression auszumerzen gilt, muß etwa in den drei Bänden von Projekt Nr. 3 – Eichendorffs Untergang und andere Märchen, Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte. Historische Novellen und wahre Begebenheiten, Das Ende der Alternative. Einfache Geschichten. – notwendigerweise, und gerade auch im Schatten der sog. Postmoderne, das Ende der ,alternativen‘, experimentellen Schreibweise als besiegelt ansehen. Konsequenzen dieser Art zeigen sich ganz deutlich, wenn etwa Ernst Nef das Projekt Nr. 3 verschämt formulierend als „wichtigsten Neuansatz“16 wertet; wenn Franz Josef Czernin mit wehmütigem Blick auf die Textbücher „eher ,Rollenprosa‘ im traditionellen Sinn“ und insgesamt „etwas wie ein Zurücknehmen des unbedingten Anspruchs“.17 konstatiert; oder wenn Jörg Drews feststellt, daß der Autor anscheinend einen ,Sprung‘ gemacht habe, sich nicht mehr „,vorwärts‘“ bewege, und anläßlich von Heißenbüttels Überlegungen zum Stichwort ,Offene Literatur‘ argumentiert, daß das „vom Standpunkt experimenteller Schreibweisen doch auch Züge der Repression [sic] trage und des Reflexionsverlusts“.18 Auch solche Einschätzungen resp. Verunsicherungen resultieren geradezu zwangsläufig aus dem an die Vorstellung von Fortschritt gekoppelten Avantgardebegriff. Dabei wird jedoch der Geltungsbereich des Experimentellen in spezifischer Weise eingeengt; eine historische Erscheinungsform des Experimentellen wird festgeschrieben, während andere Möglichkeiten des Experimentierens – z.B. ,mit Inhalten‘19 oder mit traditionellen Erzählformen bzw. Erzählhaltungen, wie sie für Projekt Nr. 3 charakteristisch sind – von vornherein ausgeschlossen bleiben. Wer daraufhin etwa „Eichendorffs Untergang“ oder „Hornvogelgeschichte“ – bei „Max und Peter auf der Freudenjagd“ wäre das u.U. schon schwieriger – als bloße ,représentation‘, d.h. als Darstellung von Handlung liest und die dazwischen geschobenen erzähltheoretischen Passagen lediglich als Lektüreanweisungen, muß natürlich folgern, daß hier mit dem Prinzip des aktiven Lesers gebrochen wird. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, diese Erzählungen nach Art jener Träume zu lesen, in denen die Deutung gleich mitgeträumt wird, – eine Deutung, die durchaus nicht falsch ist, gleichzeitig aber eine Verschiebung durch die Traumzensur darstellt und damit selber zum manifesten Traum gehört. Bei einer solchen Lesart wären die metapoetischen ,Auslassungen‘ konstitutive Elemente der Erzählung selber – und hier läge dann die Herausforderung an den aktiven Leser.
Die Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen von experimentell im Blick auf eine nicht nur veränderte, sondern unter bestimmten historischen Bedingungen veränderte literarische Praxis daraufhin zu überprüfen, ob sie in der gegebenen Form weiterhin verwendbar sind, scheint – das dürfte der Ausflug in die Rezeptionsgeschichte von Projekt Nr. 3 deutlich gemacht haben – nicht eben groß zu sein. Statt das eigene Instrumentarium kritisch zu überprüfen, verfährt die Kritik normativ wie in jenen finsteren Zeiten der Gattungspoetik, als alle Abweichungen von der Norm negativ sanktioniert wurden, Abweichungen, die seit der ersten Literaturrevolution – der des Sturm und Drang – doch gerade zu einem der Hauptqualitätsmerkmale von Literatur wurden und sich ja auch an der Basis des ,traditionellen‘ Avantgardebegriffs finden. Die Kritik aber verhält sich zu großen Teilen wie die Justiz, die alle Beweislast dem Angeklagten zuschiebt. Angemessener dürfte es sein, nicht eine historische Phase absolut zu setzen und als experimentell zu kanonisieren, sondern – im Fall Heißenbüttels, aber das gilt auch für andere experimentelle Autoren – das bisherige Gesamtwerk als experimentellen Raum zu betrachten. Im Fall Heißenbüttels würde damit zugleich der oft vermerkten Tatsache Rechnung getragen, daß bei ihm ,alles mit allem‘ zusammenhängt. Gerade vor diesem Hintergrund zeigt die chronologische Anordnung der Texte – und sie zeigt es genauer in der Chronologie der Entstehungs-, als in der Chronologie der Publikationsdaten –, daß „Das Ende der Alternative“ durchaus nicht das Ende der (sprach-) experimentellen Alternative besiegelt; sie zeigt vielmehr, daß es für Heißenbüttel überhaupt keine Alternative in diesem Sinn gibt. Methoden werden entwickelt, machen anderen Platz, werden wieder aufgegriffen – wie derzeit die Textbuch-Idee. In diesem Zusammenhang allerdings ist es bezeichnend, daß von der Kritik etwa bei Projekt Nr. 3 mangelnde Übereinstimmung mit dem eigenen Avantgardebegriff beanstandet wurde, angesichts der neuen Textbücher jedoch geargwöhnt wird, Heißenbüttel laufe Gefahr, sein eigener Epigone zu werden.20 Korrekter müßte der Vorwurf lauten: Epigone einer Methode zu werden, was wiederum auf eine Konzeption zurückverweist, die – an bestimmten Originalitätsvorstellungen festhaltend – das Innovatorische nur noch im Formalen sieht und Methoden folglich als Selbstzweck betrachtet. Die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung solcher methodischen Rückgriffe in einem veränderten historischen Kontext bleibt damit ebenso ausgeblendet wie die Frage nach der Funktion von Methoden im Hinblick auf deren ,Ergebnis‘ – im Hinblick auf die textuelle Arbeit als Sinnkonstitution. Hier zeigt sich eine Verwandschaft mit den positivistischen Tendenzen in der Heißenbüttel-Rezeption, wie sie seit der Publikation der Textbücher 1–6 zutage treten.
Damit sind solche Untersuchungen gemeint, die sich auf die – häufig äußerst akribische – Beschreibung der formalen Organisation der Texte bzw. deren Zusammenschluß zu größeren Funktionseinheiten beschränken, damit aber auch auf jene Aspekte, über die sich relativ gesicherte, ,eindeutige‘ Aussagen machen lassen, was sich etwa bei Döhl in der häufigen Verwendung von ,fraglos‘ spiegelt. Im Hinblick auf eine Interpretation handelt es sich hier streng genommen jedoch lediglich um Vorarbeiten, weil die Analyse des Formalen nicht als Grundlage für die im konkreten Text erfolgende Sinnkonstitution betrachtet wird. Anders gesagt, wenn in diesem Rahmen Interpretationen stattfinden, finden sie lediglich statt als Interpretationen des Textbegriffs. So arbeitet Döhl z.B. die verschiedenen Bedeutungs- und Bezugsmöglichkeiten des Begriffs Textbuch heraus und konstatiert dessen – wie wir heute sagen würden – Polyvalenz.21 Signifikant erscheint dabei die Bemerkung, ,Text‘ werde in den Textbüchern als „Wortlaut, gegensätzlich zur Melodie verstanden. Er ist vorläufig, und es muß noch etwas zu ihm hinzukommen, um das Vollständige zu erreichen, das man im Auge hat. Daß das […] fraglos nicht die Musik ist, daß hier nicht davon die Rede ist, daß die Textbücher schließlich gesungen werden sollen, liegt auf der Hand. Was aber dieses Etwas ist, bleibt offen“.22 – und damit hat es sein Bewenden. Natürlich fällt es heute leichter, dieses ,Etwas‘ zu bestimmen, wenn man nämlich z.B. mit Iser davon ausgeht, daß der Text zu seiner ,Vollendung‘ „der vom Leser zu vollziehenden Sinnkonstitution“ bedarf.23 Was in der positivistischen Rezeption demgegenüber allenfalls in den Blick kam, war das „thematische Gefüge“, wobei gleich hinzugefügt wurde, daß das im Vergleich zu den formalen Elementen „[n]icht ganz so leicht […] zu erkennen“24 sei. Das „thematische Gefüge“ wird zur „thematische[n] Klammer“, die letztlich nur als Beweis jenen gegenüber geltend gemacht wird, die Heißenbüttel vorwarfen, „seine Gedichte seien in ihren Teilen beliebig auswechselbar, die Gedichte selbst fielen auseinander“.25 Dabei wird übersehen, daß der Begriff der Klammer gerade nichts über den internen Zusammenhang der Teile aussagt. Bense hat immerhin die Notwendigkeit gesehen, die Funktion der formalen Elemente zu bestimmen. Dazu empfiehlt er jedoch eine ,inhaltliche‘ Analyse, „durch die der Kode entschlüsselt und der Kontext gelichtet wird“ und fügt in ironischer Distanzierung hinzu: „Die klassische Literaturwissenschaft nennt das gern Interpretation“.26 Demgegenüber ist nachdrücklich zu betonen, daß der ,Sinn‘ eines Textes weder in seinem Thema noch in seinem Inhalt besteht. Und wenn Bense schließlich andeutet, „daß, inhaltlich gesehen, die Texte mindestens stückweise eine Selbstdarstellung zum Ausdruck bringen, einen Mann kargen Worts, aber kompakter Intelligenz, einen ständig reduzierenden Rhapsoden“ und dann auf das ,dahinterstehende‘ „transzendentale Ego Helmut Heißenbüttel“ verweist,27 zeigt sich, daß Benses informationstheoretischer Ansatz lediglich einem traditionellen, letztlich autorzentrierten Verständnis von Interpretation aufgesetzt ist.
Vor diesem Hintergrund erscheint es bezeichnend, daß Heißenbüttels allgemein theoretische Äußerungen wie auch seine „Pro-domo“-Kommentare offenbar nur selektiv zur Kenntnis genommen wurden. Dabei hat er immer wieder darauf hingewiesen, daß Sprache nicht nur Material, sondern gleichzeitig auch „ein Mittel ist, etwas, welches das, was zum Vorschein und zum Bewußtsein kommen will, vermittelt“. Im Gegensatz zu den Mitteln der anderen Künste umfaßt Sprache „einen weiten und vielfach differenzierten Bedeutungsbereich“.28 In dieser Perspektive ist etwa „das Sagbare sagen“ nicht nur die gewissermaßen positive Entsprechung zu der metapoetischen Äußerung, die Suche nach Methoden sei der „Versuch, ein erstesmal einzudringen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache zu entziehen scheint. Und die Grenze, die erreicht wird, ist nicht eine zum Nichts, zum Sprachlosen, zum Chaos […], es ist die Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist.“29
Formal operiert „das Sagbare sagen“ mit verschiedenen Arten der Wiederholung. Im ersten Zeilenblock wird die Infinitivkonstruktion wiederholt; dabei variieren Substantiv und Verb von Zeile zu Zeile, während innerhalb der einzelnen Zeile das Verb seinerseits das Substantiv wiederholt, – eine Stilfigur, die in der literarischen Rhetorik als etymologische Figur bezeichnet wird. Der zweite Zeilenblock wiederholt die Substantive des ersten Blocks, und zwar in der dort vorgegebenen Reihenfolge. Darüber hinaus hat der zweite Block ein eigenes Konstruktionsprinzip, das in der Negation dieser Substantive besteht. Die letzte Zeile des Gedichts bildet gewissermaßen einen eigenen Block, der sich aus den Elementen der jeweils letzten Zeile der vorangegangenen Blöcke zusammensetzt und dessen Konstruktionsprinzip eine Kombination der beiden zuvor verwandten Konstruktionsprinzipien darstellt, also Infinitivkonstruktion plus – in diesem Fall doppelte – Negation, wobei die doppelte Negation in ihrem ,Aussagekern‘ dem des ersten Zeilenblocks entspricht. Nach der Auflistung dessen, was ,möglich‘ ist, wird im zweiten Zeilenblock gewissermaßen der Blick auf das geöffnet, was dort offen blieb. Dem korrespondiert die Tatsache, daß der im ersten Block verwandte Infinitiv einerseits zwar in der ihm inhärenten appellativen Funktion aktiviert wird, als Grundform des Verbs gleichzeitig aber auch ,offen‘ ist. Auf das Verb – und sei es in der Grundform –, das innerhalb des Satzes die Funktion des Prädikats übernimmt, wird im zweiten Block konsequent verzichtet, weil das, was ,nicht sagbar‘, ,erfahrbar‘ etc. ist, allenfalls als solches benennbar, nicht aber im eigentlichen Sinn prädikabel ist. Darauf scheint die Wiederholung der Negation zu verweisen. Nun dient aber die Wiederholung allgemein wie auch die besondere Form der etymologischen Figur mit der für sie charakteristischen Stammwiederholung der „Intensivierung der semantischen Kraft“.30 Da der Text in so auffälliger Weise mit Wiederholungen und Variationen bzw. mit der Variation des Prinzips der Wiederholung arbeitet, wäre bei einer metapoetischen Lesart dieses Textes zu schließen, daß das Verfahren als Signans fungiert und das Semantische be-deutet, dessen Prozeßcharakter und damit potentielle Unabschließbarkeit akzentuiert werden. In der Perspektive dieses Lesebuchs wäre damit jeder Text wie jeder Versuch einer Sinnkonstitution notwendigerweise ein ,Bruchstück‘, – anders gesagt, jeder Text und jede seiner Lesearten lediglich der „Versuch einer Rekonstruktion“.
In bezug auf den ersten und letzten Text dieses Bandes ist zugleich ein weiteres Auswahlprinzip angedeutet: Der Chronologie ihrer Entstehung folgend, wurden die einzelnen Texte so ausgewählt, daß die fortlaufend gelesenen Titel eine Art synthetischen Text ergeben, der als Titelcollage diesem Band vorangestellt ist. Dadurch sollte eines der wichtigsten Verfahren Heißenbüttels – die Montage von Vorgefundenem, Vorformuliertem – und gleichzeitig dessen Funktion anschaulich gemacht werden, d.h. es sollte „demonstriert“31 werden, wie durch Zusammenstellungen disparater sprachlicher Materialien Zusammenhänge entstehen, Sinn plötzlich aufleuchtet, sich aber auch wieder entzieht. Die Sinnkonstitution würde damit als Prozeß einsehbar, der gebunden ist an die Materialität der Signantien. Lacans Feststellung entsprechend, „que c’est dans la chaîne du signifiant que le sens insiste, mais qu’aucun des éléments de la chaine ne consiste dans la signification clont il est capable au moment même“,32 würde es also gar nichts nützen, die Elemente in ihrem ursprünglichen Kontext aufzusuchen, um den ,Sinn‘ dieser Collage zu erschließen.
Daraus wären z.B. auch Konsequenzen zu ziehen im Hinblick auf eine neue Lesart und damit möglicherweise auch eine Neubewertung von D’Alemberts Ende, Heißenbüttels Projekt Nr. 1. Ähnlich wie Kombinationen und Topographien in der ersten Rezeptionsphase hauptsächlich als Reservoir benutzt wurden, um „im Vergleich mit den Entwicklungen der modernen Malerei die Kriterien für die ,Abstraktionen‘ einer ,konstruktiven Lyrik‘“33 zu bestimmen, und die Textbücher Auslöser für allgemeine texttheoretische Überlegungen waren, diente D’Alemberts Ende häufig nur als Anlaß, um die Möglichkeit von „Literaturcollagen als experimentelle[n] Großformen“34 zu diskutieren, eine Diskussion, die im wesentlichen zu einem negativen Ergebnis führte. In dieser Konzentration auf das Konstruktionsprinzip als solches deutet sich bereits an, was Jeziorkowski in bezug auf Projekt Nr. 3/2 als „schnell durchschaute[n] und sich durchschauende[n] Trick“ bewertete, „vielleicht für ein paar Tage lang neu und avantgardistisch, bis die Mode durchschaut ist“.35 Das bedeutet indessen nur die Weigerung des Rezensenten, sich auf den Text einzulassen. Hartung z.B. hat sich auf den Text eingelassen, kommt jedoch zu dem Ergebnis:

Indem Heißenbüttel [durch die Montage] das Zitat seinem Kontext entzieht, verabsolutiert er dessen Gehalt.36

Dabei übersieht oder leugnet er, daß die ihrem ursprünglichen Kontext entzogenen Zitate ihrerseits einen neuen Kontext ausbilden, was offenbar mit Hartungs Kontextbegriff zusammenhängt. So schreibt er:

Während Thomas Mann von einer ,phantastischen Mechanik‘ spricht, die bewirke, daß wie in Panoramen „das handgreiflich Reale ins perspektivisch Gemalte und Illusionäre schwer unterscheidbar übergeht“, ist solche Vermittlung keineswegs Heißenbüttels Absicht.37

Hier wird deutlich, daß Kontext für Hartung offenbar nur im Zusammenhang mit einer Literatur der ,représentation‘ vorstellbar ist. Darin besteht ja gerade eine der Merkwürdigkeiten des Doktor Faustus, daß zu Beginn der Konzeption eine „gänzliche[] Fraglichkeit von Form, Handlung, Vortragsart, ja Zeit und Ort“38 bestand, der Roman dann aber gerade zu einem Musterbeispiel der ,représentation‘ wurde, deren Ziel Thomas Mann selber folgendermaßen beschreibt:

so, daß es wirklich schien […], daß man daran glaubte (und nicht weniger als das verlangte ich von mir).39

Ein solches Ziel dürfte in der Tat nicht in Heißenbüttels Absicht gelegen haben. Er siedelt sein Projekt vielmehr jenseits der ,représentation‘ an, genau genommen müßte man sagen, daß er es dort hinführt. Ähnlich wie bei dem Traditionsbruch der frühen Gedichte bleibt die Tradition als Folie erhalten, als Hintergrund, vor dem sich der Bruch vollzieht. Dies geschieht zunächst durch die Personen, die nur anskizziert werden, und durch die Handlung, die lediglich als Rudiment erscheint, d.h. weitgehend durch Dialoge ersetzt wird, die ihrerseits weitgehend aus Zitaten bestehen. Dadurch, daß vor allem im Mittelteil dieselben Zitate verschiedenen Personen ,in den Mund‘ gelegt werden, haben die Personen im Unterschied zum traditionellen Roman gewissermaßen keine ,eigene Stimme‘. Die Zitate sind vielmehr selber Stimmen in jenem polyphonen Dialog, als den Julia Kristeva den intertextuellen Raum bezeichnet hat:

pluralité des langues, confrontation des discours et des idéologies, sans conclusion et sans synthèse – sans ,monologisme‘, sans point axial.40

Das Heraustreten aus dem Bereich der ,représentation‘ läßt sich besonders gut am ersten Kapitel studieren, das beginnt wie Goethes Wahlverwandtschaften, wobei jedoch signifikante Verschiebungen erfolgen. Während sich etwa Goethes Personen noch unmittelbar in der Landschaft bewegen, die von ihnen verändert wird und zugleich ihren Lebensraum darstellt, wird die Landschaft bei Heißenbüttel nur noch durchfahren, statt verändert, betrachtet oder ,rekapituliert‘. Darin liegt ein Verlust an bzw. ein Verzicht auf Unmittelbarkeit, es erfolgt eine Distanzierung, die sich auf die Darstellung insgesamt auswirkt. Sehr bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Verschiebung auf der ,personalen‘ Ebene, die zu einer Verschiebung von der Ebene der Personen auf die des Erzählens wird. Heißenbüttels Ottilie spricht einen ,fremden Text‘ (was zugleich als metapoetischer Hinweis aufzufassen ist), die Worte, die ihr in den Mund gelegt werden, spricht bei Goethe nicht Ottilie, sondern Charlotte (was wiederum als Hinweis darauf gewertet werden kann, daß der Eigenname durch keinerlei personale Identität mehr gedeckt wird, also die Subjektproblematik anschneidet). Außerdem wird Goethes Ottilie ,tout court‘ bei Heißenbüttel zu Ottilie Wildermuth, d.h. es erfolgt eine Verschiebung von Romanfigur zu historischer Person, ähnlich übrigens, wie an die Stelle von Goethes symbolischer Parklandschaft genaue topographische Beschreibungen treten. Unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität tritt damit der Goethe-Text in Beziehung zu den Erzählungen der Wildermuth.41 Damit wird eine Art Erzählraum42 des 19. Jahrhunderts eröffnet (der sich dann ins 18. und 20. Jahrhundert erweitert), wo Goethe neben Ottilie Wildermuth steht, wie im 20. Jahrhundert Anna Blume neben Eugenie Marlitt.43 Durch das Aneinanderschneiden unterschiedlichen Sprachmaterials löst Heißenbüttel gewissermaßen ein, was der Naturalist Emile Zola wollte. Im Zusammenhang mit dem Begriff experimentelle Literatur wird ja immer wieder darauf verwiesen,44 daß Zola der erste war, der in Le Roman expérimental die Beziehung zwischen Literatur und (naturwissenschaftlichem) Experiment hergestellt hat. Gewöhnlich zeigt sich jedoch, daß über die äußere Begriffsgleichheit hinaus kein Weg von Zola zu den modernen experimentellen Autoren führt. Zola wollte seine Romanfiguren qua Beobachtung aus dem „wirklichen Leben“ beziehen, sie dann im Rahmen eines – zu erfindenden – Settings einer bestimmten Situation aussetzen und abschließend wieder beobachten: wie sie sich in dieser Situation verhalten würden. Der Irrtum Zolas bestand darin, daß er sozusagen seinen Kopf mit einem Reagenzglas verwechselte. Was er wollte, konnte nicht gelingen, weil er sein Experiment auf der Ebene der Figuren ansetzte, weil er im Rahmen der ,représentation‘ blieb. Wenn Heißenbüttel demgegenüber Zitate montiert, wobei sich die Intentionalität auf die Auswahl beschränkt, das konkrete Zusammentreffen aber dem Zufall überlassen wird, läßt sich in der Tat etwas beobachten, was vor dem Experiment lediglich eine Hypothese war: daß Sprachelemente wie chemische Elemente reagieren, sich gegenseitig abstoßen oder – Wahlverwandtschaften eingehen. Dem Leser könnte es dabei allerdings ergehen wie einem Fremden, der erst hinzutritt, wenn das Ergebnis im Reagenzglas bereits vorliegt. Mit anderen Worten, wenn es weitgehend vom Zufall abhängt, welche Zitate man identifizieren kann und welche nicht, kann man immerhin den Fingerzeigen nachgehen, die vom Autor gegeben werden. Das Thomas-Mann-Zitat, das D’Alemberts Ende als Motto vorangestellt ist, enthält einen so deutlichen Hinweis, daß er offenbar deswegen so gründlich übersehen wurde.45 Thomas Mann stellt seinerseits dem „Roman eines Romans“ ein Motto aus Dichtung und Wahrheit voran, über seine Intentionen zum Faustus schreibt er, es sei ein Werk, „das, Bekenntnis und Lebensopfer durch und durch, keine Rücksichten kennt und, indem es als gebundenste Kunst sich darstellt, zugleich aus der Kunst tritt und Wirklichkeit ist. Und doch ist diese Wirklichkeit wiederum auf die Konzeption bezogen, in gewissen Fällen mehr dieser als der Wahrheit verantwortlich, überlegen und scheinhaft.“46 Heißenbüttel seinerseits bezieht sich jedoch nicht auf Dichtung und Wahrheit, sondern auf Die Wahlverwandtschaften, also jenen Roman, dessen Bedeutung erst im 20. Jahrhundert erkannt wurde und der „beispielhaft für eine moderne Kunst“ ist, „die sich in wachsendem Maße von der subjektiven Erlebnisaussprache entfernt“.47 Im Schnittfeld zwischen Wahlverwandtschaften und Faustus wie auch im Bezug zu d’Alembert, dessen Autobiographie in dem Kapitel „D’Alemberts Selbstportrait“ verarbeitet wurde, könnte man D’Alemberts Ende als ,quasiautobiographisch‘ bezeichnen. Der Quasiautobiographie im Gegensatz zur Autobiographie entspräche die Verwendung der Montage. Die Montage wird vordergründig ja gern als Konsequenz aus der Tatsache angesehen, daß ,alles bereits gesagt‘ ist, erweist sich hier jedoch als Konsequenz aus der Tatsache, daß – mit Freud – das Ich nicht mehr Herr ist im eigenen Haus, daß – mit Lacan – alle Sprache die der anderen ist, daß sich – mit Heißenbüttel – das Subjekt auf ein „Bündel Redeweisen“48 reduziert. Die Montage verbindet Textbuch 6 mit D’Alemberts Ende, ,quasiautobiographisch‘ mit Wahlverwandtschaften zwischen D’Alemberts Ende und Die Goldene Kuppel des Comes Arbogast bestehen direkte intertextuelle Bezüge in Form von Eigenzitaten und deren Weiterbearbeitung. Wer allerdings dem bürgerlichen Helden oder dem „transzendentalen Ego Helmut Heißenbüttel“ hinterherjagt, wird – siehe Blooms ,Doomsday‘ – am Ende möglicherweise einem ,Staatsbegräbnis‘ beiwohnen oder sich auf die Feststellung beschränken müssen: ,Generalmusikdirektorjedenfalls‘. Zu einem Zeitpunkt, wo die Bände von Projekt Nr. 3 und Die Goldene Kuppel sehr unumwunden als autobiographisch diagnostiziert und sogar die Textbücher 1–6 in „einem genauen Sinne […] autobiographisch“49 genannt werden, wäre anzumerken, daß Heißenbüttel bereits in den frühen 6oer Jahren, als das Autobiographische im Gegensatz zu heute literarisch noch vollkommen verpönt war, festgestellt hat, daß die „Verweigerung symbolischer Ausdrucksweise“ im modernen Gedicht „durch eine sprachliche Reproduktion der Welt“ ersetzt wird. Die Welt werde „als Sprachwelt inventarisiert“, wobei die Gliederung topographisch-chronologisch erfolge: „Topographisch, das bedeutet die Bindung an Örtlichkeiten, die quasi [!] real im Gedicht erscheinen, deren Realität sich in eine unmittelbar vokabuläre überträgt“. „Chronologisch, das bedeutet einmal Rekapitulation historischer Faktizität“, „bedeutet aber auch eine gleichsam [!] tagebuchartige Bindung an das Leben des Autors“.50 Damit hätten die autobiographischen Elemente eine ganz ähnliche Funktion wie die ,Zitate‘ von Eigen- und Ortsnamen, Musikstücken und Bildtiteln oder eben die Zitate aus voraufgegangener Literatur: die Funktion von Material, das in seiner textuellen Verarbeitung – „in den Text gestorben“51 – einen neuen Kontext ausbildet. Das heißt, es kommt – wie Heißenbüttel in einer Marx-Reminiszenz gern zu formulieren pflegt –, nicht darauf an, Texte zu durchschauen, sei es nun im Hinblick auf das Verfahren oder im Hinblick auf autobiographische Elemente, „weil ich, von dem ich schreibe, geschrieben nicht ich ist“.52
Bense hat Heißenbüttels Texte nach zwei Gruppen klassifiziert und die eine dem Vokabular –, die andere dem Frequenzstil53 zugeordnet. Der Leser wird wahrscheinlich auch zwei Gruppen wahrnehmen, sie aber nach dem jeweiligen Lektürewiderstand unterscheiden. Wie bei anderen experimentellen Autoren auch54 gibt es bei Heißenbüttel Texte mit einem extrem hohen Lektürewiderstand, z.B. „Einsätze“, und Texte, die anscheinend gar keinen Widerstand aufweisen wie „der Mann der lesbisch wurde“ oder „Bremen wodu“. „Bremen wodu“ wirkt geradezu wie eine mimetische Darstellung von Alltagssprache, von Alltagskommunikation. Zwei unterhalten sich. Der eine will etwas wissen, das sich der andere peu à peu aus der Nase ziehen läßt. Das Gespräch progrediert in Fragmenten, die immer weiter ergänzt werden, ohne daß jedoch die Sache, um die es geht, ausgesprochen würde, und endet in einer offenen Pointe. An dieser Stelle springt der Text zurück zum Titel, der in „wodu“ ein phonetisches Homonym enthält. Wer den Titel nur hört – aber auch beim Lesen dürfte die Zusammenschreibung eher auffallen als die Kleinschreibung –, wird vermutlich „Wodu“ verstehen und, je nachdem, amüsiert oder verwundert auf die etwas absonderliche Verknüpfung reagieren, die hier zwischen dem in Haiti verbreiteten synkretistischen Geheimkult mit seinen erotisch-ekstatischen Identifikationsriten und dem ganz geläufigen Namen der norddeutsch-kühlen Hansestadt hergestellt wird. „Wodu“ zu verstehen, impliziert eine Lektürehypothese, die vermutlich nach den ersten Zeilen wieder aufgegeben wird, sobald sich nämlich herausstellt, daß der Text eine Sequenz alltagssprachlicher Kommunikation darstellt und dabei in der graphischen Form das für die gesprochene Sprache insgesamt charakteristische Sprechen in Wortblöcken abbildet. Spätestens ab Zeile 17 wird allerdings die inzwischen verworfene Hypothese wieder auftauchen. Damit tritt neben das im Text dargestellte Frage-und-Antwortspiel ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Lesers: eine Erwartung wird aufgebaut, zerstört und dort, wo mit der Erfüllung nicht mehr zu rechnen war, bestätigt, – die Schlußpointe verweist auf eine Orgie in hanseatischem Maßstab. In paradoxer Formulierung könnte man sagen, daß der Text durch das generiert wird, was in ihm nicht vorkommt. Der Verhörer oder Verleser „Wodu“ setzt die Hypothesenbildung in Gang und enthält gleichzeitig das Konstruktionsprinzip: Im Begriff des Wodu ist der des Synkretismus impliziert („synkretistischer Geheimkult“, wobei sich das Geheime in die Geheimniskrämerei des zweiten Sprechers umsetzt). ,Synkretismus‘ ist nach Auskunft des Duden die Vermischung verschiedener Religionen, Weltanschauungen etc., ohne daß eine innere Einheit erreicht würde. Diese fehlende innere Einheit zeigt sich in den beiden heterogenen Elementen des Titels. Daß aber gleichwohl eine Vermischung stattfindet, setzt sich dann im Text durch die Vorstellung von Bremen als „Klein-Haiti“ um. Diese Vorstellung impliziert aber wiederum, daß der Begriff Wodu hier nicht mehr in seiner ursprünglichen Bedeutung als religiöser Kult, sondern nur noch im übertragenen Sinn als Orgie verstanden wird. Aufgegriffen wird die ursprüngliche Bedeutung dann in der Schlußpointe: Weihnachten erscheint zunächst in seiner säkularisierten Bedeutung als Familienfest, wobei jedoch durch die angedeutete moralische Entrüstung auf die Moral als Bindeglied zwischen Religion und Familie angespielt wird, denen ,Sex‘ als ,Gegenteil‘ gegenübersteht. – Was sich zunächst als witzige Abbildung von Alltagskommunikation mit leicht skabrösem Inhalt präsentiert und reflektierend auf deren sprachliche Besonderheiten ausgerichtet erscheint, erweist sich schließlich als ,vokabelgeneriert‘, ähnlich wie etwa Heines ,Karl I.‘ auf dem Wort ,Köhlerglaube‘ basiert.
Wie in „Bremen wodu“ wird auch in den ,Einsätzen‘ etwas ausgespart. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, daß sich hier das Ausgesparte einer Ergänzung und der Text sich damit dem Verstehen entzieht. Darin ähneln die ,Einsätze‘ überraschenderweise einem Text wie „der Mann der lesbisch wurde“, obwohl dieser im Prinzip aus grammatisch vollkommen korrekten Sätzen besteht. Daß sie sich gleichwohl dem verstehenden Nachvollzug verweigern, kommt durch die Schachtelung der Relativsätze zustande, deren Anzahl von Satz zu Satz erhöht wird. Zusätzlich erschwert wird das Verständnis dadurch, daß möglichst viele gleiche Satzteile unmittelbar aneinandergesetzt sind. Die Funktion von Relativsätzen besteht in der genaueren Bestimmung eines vorangegangenen Substantivs. Bei „der Mann der lesbisch wurde“ zeigt sich die Begrenztheit dieser Regel. Man könnte im Sinn Heißenbüttels geradezu von einer ,Demonstration‘ sprechen: die zunehmende Genauigkeit steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Verstehen. Soviel versteht man aber doch: daß der Mann nicht weiß, was er will. Am Ende von sieben (!) ,Denk-Operationen‘ ist immer noch kein neues Geschöpf entstanden, so daß man ihm geradezu empfehlen möchte, sich zu wünschen, er wäre Teiresias. In dieser Perspektive ist das Konstruktionsprinzip schnell durchschaut, der psychischen Verwirrung des Mannes entspricht das am Ende kaum mehr aufzudröselnde Gewirr der Relativsätze. Damit entsprächen sich ,Form‘ und ,Inhalt‘, und damit könnte es sein Bewenden haben. Vielleicht wird man noch anmerken, daß auch dieser Text sehr witzig ist und auf einem Einfall beruht, der in den frühen 6oer Jahren einigermaßen ungewöhnlich angemutet haben muß – bevor die Neue Frauenbewegung die trotzige Parole „ich bin glücklich, eine Frau zu sein“ herausgab, hat der Text möglicherweise gewirkt wie die Geschichte vom Schwan, der ein Entlein sein wollte. ,Mann‘ und ,Frau‘ implizieren aber nicht nur einen sozialen, sondern auch einen sexuellen Gegensatz. Hier erscheint es sinnvoll, den Punkt aufzusuchen, wo sich das Semantische mit dem Grammatischen im engeren Sinn verbindet. ,Gern etwas sein wollen‘ drückt semantisch einen Wunsch aus, der grammatisch den Konjunktiv, den Irrealis, erfordert. Dieses Irreale wird im Text dann durch die Konditionalsätze noch weiter verstärkt. Mann und Frau sind jedoch nicht nur sexuelle Gegensätze, sondern normalerweise auch Gegenstand des sexuellen Begehrens des jeweils anderen. Vor diesem Hintergrund würde das in ,ich wäre gern‘ implizierte allgemeine Wünschen spezifiziert als Begehren. Als Text über das Begehren ist „der Mann der lesbisch wurde“ aber zugleich auch ein Text über das Subjekt, das seine Autonomie im Sinn der idealistischen Philosophie verloren hat und ganz wörtlich ein subiectum ist, ein der Struktur seines Begehrens Unterworfenes. Diese Subjekterfahrung ist nach Heißenbüttel zusammen mit dem Verlust des ,Weltplans‘55 die eigentliche Ursache für die die Moderne bestimmende Erkenntnis, „daß das alte Grundmodell der Sprache von Subjekt – Objekt – Prädikat nicht mehr standhält“, weil dieses Modell darauf beruht, „daß es immer etwas gibt, auf das sich alles bezieht, und etwas anderes, das diesem Bezugspunkt gegenübersteht“.56 In dieser Perspektive läßt sich „der Mann der lesbisch wurde“ lesen als ein Text, in dem die Gegensätze und die festen Bezugspunkte aufgebrochen werden und am Ende ununterscheidbar ist, wer wer ist und was wohin gehört. Das bedeutet dann allerdings auch, daß das Antigrammatische57 nicht die zentrale Kategorie ist, mit der sich die Reaktionen auf das als untauglich erkannte Grundmodell beschreiben lassen. Ein Text wie „der Mann der lesbisch wurde“ zeigt vielmehr, daß die Zertrümmerung der traditionellen Syntax nur eine Möglichkeit ist, die andere aber darin besteht, das alte Modell durch Überdehnung, d.h. mit seinen eigenen Mitteln von innen her auszuhöhlen. – Die Vertracktheiten, die der Titel impliziert, können hier nur noch angedeutet werden. In Verbindung mit dem Text wird man ,lesbisch‘ wahrscheinlich als Synonym für ,Frau sein‘ und damit als im übertragenen Sinn gebraucht verstehen. ,Lesbisch‘ gehört nun aber zu jenen wenigen Vokabeln, die, wie etwa ,Schwangerschaft‘, in Übereinstimmung mit der Sache ausschließlich auf Frauen angewandt werden können (in dieser Hinsicht enthielte „der Mann der lesbisch wurde“ Überlegungen zur Frauensprache avant la lettre). Hier stellen sich dann Fragen ein, bei denen der Logik einige Bocksprünge abverlangt werden. Hätte nicht der Mann, der lesbisch wurde, um dies werden zu können, zunächst das werden müssen, wozu er sich im Text dann doch nicht entschließen kann? Wenn aber eine Lesbierin eine Frau ist, ,die Frauen liebt‘, wäre dann der Mann, der lesbisch wurde, im Grunde nicht geblieben, was er war, ein ,Mann, der die Frauen liebte‘? Oder wenn man, was der Sprachgebrauch vorerst noch verweigert, ,lesbisch‘ genauso verwenden würde wie ,homosexuell‘, also auf Frauen wie Männer anwendbar, wäre der Text dann nicht ein Traum, in dem der Wunsch von der Zensur auf sein Gegenteil verschoben worden wäre, d.h. der Traum eines Mannes, der sich seiner Homosexualität nicht bewußt ist?
Mit dem Wort ,Einsätze‘ verhält es sich ähnlich wie mit dem Begriff ,Textbuch‘, es ist mehrdeutig. Dabei scheint jedoch das Motto – „Ein Satz : Einsatz : Einsätze“ – darauf hinzuweisen, daß der Einsatz hier jeweils in einem Satz besteht, wobei dann alle Sätze etwa wie das Einsetzen verschiedener Instrumente oder Stimmen in einem Musikstück zu verstehen wären, was wiederum auf eine bestimmte kompositorische Absicht hindeuten würde. Heißenbüttel hat die ,Einsätze‘ verschiedentlich kommentiert und sie als einen Versuch bezeichnet, „aus Wortverschleifungen und kopulalosen Reihungen jeweils ein einziges Sarzgebilde“58 herzustellen. Die Frage ist dann allerdings, worin denn das Satzhafte besteht. Handelt es sich nicht vielmehr um Reihungen von Satzbruchstücken, die verschiedenen Kontexten zu entstammen scheinen? Wird hier nicht nur einfach etwas zum Satz erklärt wie das Pissior von Marcel Duchamp zum Kunstwerk? Wenn man den Satz im Vergleich zu den Wörtern als höhere sprachliche Einheit definiert, die innerhalb einer wiederum höheren – textuellen – Einheit intuitiv als in sich geschlossen wahrgenommen wird, dürfte es sich tatsächlich um Sätze handeln, nicht aber um Sätze im Sinn der generativen Grammatik, derzufolge Sätze sprachliche Einheiten sind, die durch die Regeln der Grammatik generiert werden. Und doch wird hier etwas generiert, allem Anschein nach sogar ,regelgeleitet‘. Die Elemente des Mottos z.B. folgen offenbar aufgrund phonetischer und semantischer Ähnlichkeit aus einander. Zu Beginn von „Einsatz I“ wird (grammatisch) Gleiches durch Gleiches generiert: ein Adverb erzeugt das nächste, das (semantisch) jedoch ein Verschiedenes bzw. Komplementäres ist: ,überall‘, dem Adverb des Ortes, folgt ,immer‘, also eines der Zeit, zusätzlich wird das erste Element wiederholt. Bei ,je und je‘ handelt es sich ebenfalls um Adverbien. Hier liegt das Verschiedene jedoch nicht mehr im Wortkörper, sondern ausschließlich in der Bedeutung: ,je‘ kann sowohl ,jeweils‘, als auch ,jemals‘ heißen. Dadurch wird der in ,immer‘ vorgegebene Zeitaspekt aufgegriffen, aber auch ,punktualisiert‘ und in Gegensätzliches gefaßt: ,jemals‘ bedeutet ,irgendwann‘ und damit einen allgemeinen, unbestimmten Zeitpunkt, ,jeweils‘ aber ,jedesmal‘, in einem bestimmten Zusammenhang auch ,immer‘, wäre damit also eine Verstärkung des allerersten Adverbs. Als feststehender Ausdruck heißt ,je und je‘ soviel wie ,dann und wann‘, würde seinerseits also ,je‘ als ,jemals‘ aufgreifen, den unbestimmten Zeitpunkt gleichzeitig aber als wiederholbar bezeichnen. Die vierte Minisequenz „morgens mittags und abends sogar im Büro“ setzt die Reihe der Zeitadverbien fort, wobei nach der allgemeinen Zeit (,immer‘) und dem unbestimmten, aber wiederholbaren Zeitpunkt (,jemals‘, ,je und je‘) relativ genaue (nämlich Tages-)Zeiteinheiten folgen. Durch den Kontext hat „sogar im Büro“ zeitlichen Charakter, obwohl es seiner Herkunft nach eine Ortsangabe ist und damit am Ende der Adverbienreihe auf ihren Beginn (,überall‘) zurückverweist. Deutlich ist insgesamt eine Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen, das seinerseits jedoch kein konkretes, sondern ein so allgemein wie möglich gehaltenes Besonderes ist. Ähnlich in der folgenden Sequenz, in der der unbestimmte Artikel von einem Demonstrativpronomen gefolgt wird. Nachdem in übergeordnet-,philosophischer‘ Perspektive die Koordinaten von Raum und Zeit abgesteckt sind und sich in „sogar im Büro“ ein alltäglicher Lebenszusammenhang andeutet, scheint der Text auf etwas Konkretes zuzusteuern – oder ist es nur die an traditionelle Texte gewöhnte Erwartung des Lesers? Wenn Heißenbüttel feststellt, daß die Teile der einzelnen Satzgebilde „so beschaffen sind, daß sie unmittelbar vor der metaphorischen Verdoppelung haltmachen“,59 wird hier anscheinend sogar noch vor der Benennung als solcher haltgemacht. Statt ein von der Grammatik her erwartbares Substantiv nach sich zu ziehen, scheint das Demonstrativpronomen für einen Moment selber zum Substantiv (,ein Dies‘) zu avancieren, also zum potentiellen Satzsubjekt. Durch ,dies ist ein‘ wird dann gewissermaßen vorgemacht, daß – Literatur „es mit nichts anderem als mit Sprache zu tun hat“,60 daß sich aus zwei Wörtern (fast) ein Satz bilden läßt. Das hinweisende ,dies‘ impliziert eine Situation, in der auf eine Sache gezeigt wird, was wiederum impliziert, daß die Sache da ist. Genau diese Situation wird beschworen, die ,Sache‘ jedoch verweigert, was darauf hinweist, daß es hier nicht um eine bestimmte Sache, sondern um die Zeigesituation selber geht. Insgesamt wirkt der erste ,Einsatz‘, als vergewissere sich hier jemand der Sprache, indem er durchprobiert, was sie an Möglichkeiten bereit hält, was sich mit Wörtern machen läßt. Zwei Wörter lassen sich zu einer übergeordneten Einheit zusammenschließen, umgekehrt lassen sich aus einem Wort aber auch zwei machen, ,einzel‘ wird zu ,ein Zel‘ – vielleicht ist ,Zel‘ aber auch aus ,Zelle‘ entstanden, so wie Jean-Pierre Verheggen dem Himmel (,ciel‘) eine Himmelin (,cielle‘) zur Seite gestellt hat –, ,Metaphern‘ werden zu ,meta fern‘. Das ist nicht nur formale Spielerei, denn durch die Veränderung des Sprachmaterials entsteht neuer Sinn, entsteht zugleich aber auch das, was vermieden werden sollte. Der Metaplasmus, d.h. die von der Norm abweichende Schreibung, weist darauf hin, daß hier mit der überkommenen Vorstellung von Literatur gebrochen wird, derzufolge die Metapher eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste poetische Mittel überhaupt ist. Damit aber wird das wörtlich verstandene ,meta fern‘ – selber zur Metapher. Dieses Risiko wird allerdings eingehen, wer sich ernsthaft auf die Sprache einläßt. Anders gesagt, die – vermutlich – unfreiwillige Metapher macht die Erfahrung des modernen Subjekts als eines nicht freien, nicht autonomen unmittelbar anschaulich. „Die Herrschaft der Sprache über die Geister ist offenbar“, heißt es im 209., A.W. Schlegel zugeschriebenen Athenäums-Fragment, wobei aber hinzugefügt wird, daß daraus keineswegs „ihre heilige Unverletzlichkeit“61 folge. Wichtig für die Interpretation ist, daß man die Wörter nicht von vornherein als ,Stellvertreter‘ behandelt. Gerade auch im Hinblick auf seine eigenen Arbeiten schreibt Heißenbüttel, „daß schon das meiste gewonnen ist, wenn man wörtlich liest, ohne Erwartung dessen, was gewohnt ist. Was man wörtlich nimmt, gibt oft seinen Sinn her, ehe man ihn sagen kann. […] Man muß sich nur erst einmal mit solchen Gebilden eingelassen haben“.62
Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich also nicht, die Texte im Sinn Benses als ,abstrakte Texte‘ zu behandeln:

Alles Abstrakte ist inhaltlich unabgeschlossen, das heißt man kann etwas einsetzen, um den Text inhaltlich, bedeutungsmäßig, intentional zu saturieren […]. Wenn Heißenbüttel z.B. im „Traktat“ schreibt: „Wenn die Art von Ding wo ich drin bin aufgehört hätte und ich könnte reden und erzählen und sagen so und so und dies Ding in dem ich drin gewesen bin das ist das und das und fängt da an und hört da auf… usw.“, so kann man z.B. für ,Ding‘ den Ausdruck ,Welt‘ und für ,so und so‘ oder für ,das ist das und das‘ beliebige [!] Aussagen einsetzen.63

Das dürfte mißverstandener Valéry sein, das berühmte Diktum „Mes vers ont le sens qu’on leur prête“64 ohne seinen Kontext. Aus dem Kontext geht nämlich unmißverständlich hervor, daß es sich hier nicht um einen Freibrief für absolute Beliebigkeit handelt; Valéry betont vielmehr, daß es nicht nur eine – damit aber auch keine ,richtige‘ – Lesart gibt, die des Autors als einzig richtige schon gar nicht. Daß es keine richtige Interpretation im Sinn von nur einer möglichen gibt, heißt indessen nicht, daß jede einzelne Interpretation nicht ,in sich‘ ,richtig‘ sein müßte. Werden für die Wörter des Textes nämlich beliebig andere eingesetzt, wird die Interpretation zur freien Assoziation. Der Fehler liegt in der damit implizierten Gleichsetzung von Leser und Analysand. In der psychoanalytischen Sitzung wird der Analysand zu freier Assoziation aufgefordert, um so gewissermaßen seinen Text zu produzieren, der damit deutbar wird. Wenn der Leser frei assoziiert, produziert er ebenfalls seinen Text, verfehlt damit aber den Gegenstand seiner Lektüre. Der Psychoanalytiker – um im Bild zu bleiben – fängt ja nicht seinerseits an, frei zu assoziieren, sondern deutet. Der Sinn ist dabei nicht beliebig, sondern gebunden an die Matrix des Textes.65 Das heißt: lese ich z.B. in „Einsatz V“ zu Beginn ,Ton‘, komme ich in meiner Texterkenntnis keinen Schritt weiter, wenn ich dabei etwa „Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr“ – ein Kindererlebnis – assoziiere. Vielmehr muß ich die Bedeutung von ,Ton‘ im Text selbst aufsuchen. Dabei greife ich, um mich gegen meine Assoziation zu schützen, vielleicht zum Lexikon und stelle fest, daß ,Ton‘ a) etwas „(beim Antrocknen) Dichtwerdendes“ bezeichnet, ein „besonders zur Herstellung von Töpferwaren verwendetes lockeres, feinkörniges Sediment“, sowie b) eine „vom Gehör wahrgenommene gleichmäßige Schwingung der Luft“. Mit dieser Doppelhypothese ausgestattet, werde ich zunächst probieren, ob die beiden Bedeutungen auch zwei verschiedene, jeweils in sich konsistente Lesarten der Gesamtsequenz ermöglichen. Methodisches Vorbild wäre hier etwas Rastiers Mallarmé-Interpreration,66 die, bedingt durch die homonyme Textstruktur, gleich drei parallele Lesarten vorstellt. Der literaturwissenschaftliche Narzißmus wie auch das naturwissenschaftlich basierte Wissenschaftsverständnis dürften durch solche Analysen, die ,aufgehen‘, beträchtlich gestärkt werden – und durch einen Text wie „Einsätze“ empfindlich verletzt. Bei „Einsatz V“ zeigt sich nämlich, daß die Sequenz insgesamt ,tonhaft‘ im Sinn eines ,Dichtwerdens‘ ist, das sich einer säuberlichen Trennung der in ,Ton‘ implizierten Bedeutungen verschließt. Der Unterschied zwischen z.B. einem Mallarmé-Gedicht und einem postsymbolistischen Text wie „Einsätze“ dürfte vor allem darin bestehen, daß sich keine festen und verbindlichen Zuordnungen mehr treffen lassen, was wiederum auf die Subjektproblematik verweist. An die Stelle des klar voneinander Abgrenzbaren tritt vielmehr ein Gleiten von einer Bedeutung zur anderen. ,Ton‘ zu Beginn von „Einsatz I“ scheint die Bedeutung ,Tonerde‘ zu aktivieren, Ton als ein Material, das mit den Händen bearbeitet, von den Fingern geformt wird. Der Text erzeugt hier offenbar über phonetische Assoziationen (von ,Ton‘ zu ,Town‘) semantische Reihen – Material und ,Werkzeug‘, aber auch Material und ,Produkt‘, denn aus Tonerde werden z.B. Ziegel hergestellt, die ihrerseits zum Bau von Häusern und Städten dienen. Die Textbewegung verläuft dabei vom Einfachen zum Komplexen, vom ,Kleinen‘ zum ,Großen‘: ,town‘ – ,land‘, ,Finger‘ – ,Hände‘. Der Übergang von ,Händeland‘ zu ,handlang‘ scheint ähnlich wie der Übergang von ,Ton‘ zu ,town‘ phonetisch motiviert zu sein, obwohl in ,handlang‘ beide Elemente weitergeführt werden: ,Hände‘ wird in ,hand‘ unmittelbar aufgegriffen, während ,lang‘ und ,Land‘ lediglich ein gemeinsames Sein, das der Erstreckung, besitzen. Mit ,Kadenzen‘ erfolgt dann der Übergang von einer Bedeutung zur anderen. ,Kadenz‘ ist zum einen ein literaturwissenschaftlicher Terminus, der die Form des Versausgangs bezeichnet. In dieser Bedeutung schließt ,Kadenzen‘ die erste Untersequenz ab, und zwar – strikt vom Wort her gesehen – ,klingend‘, im Übergang also zur musikalischen Bedeutung. Über ,erinnern an‘, ,Anerinnern Handerinnern‘ – hier zunächst wiederum phonetisch motiviert – kehrt der Text zu seinem Ausgangspunkt zurück, ohne sich mit diesem Ausgangspunkt jedoch völlig zu decken. Damit erscheint der Text selber als ,kreisend‘, kreist herum ,um bestimmte Kadenzen‘, die als ,bestimmte‘ bezeichnet werden, sich aber – ähnlich „Einsatz I“ – einer eindeutigen Bestimmung entziehen, so daß ein ,Rest‘ bleibt. ,Rest‘ bedeutet allerdings keine „,Verschlüsselung‘ irgendwelcher Art“.67 Wenn Heißenbüttel kürzlich für Texte plädiert hat, die „den Blick öffnen auf das, was offen bleibt“, so entspricht das dem, was er schon in den 6oer Jahren – allerdings ohne gehört zu werden – als den „nicht-rationalisierbare[n] Rest der Sprachkombinatorik68 bezeichnet hat:

Die Unauflösbarkeit des Offenbleibenden ist so unendlich wie seine mögliche Auflösbarkeit.69

Renate Kühn, Nachwort

 

Das Buch

Günter Kunert sagte einmal über Helmut Heißenbüttel, er sei kein intellektueller Pop-Artist, Sprachlaborant, experimenteller Lyriker, Avantgardist, wie immer behauptet werde, sondern ein Realist, der sich kritisch und in Notwehr mit einer aggressiv-regressiven gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetze. Jörg Drews entdeckte „ein neues Niveau des Nachdenkens über Literatur“ in Heißenbüttels Werk, das Zeugnis ablege von der Möglichkeit, ja Notwendigkeit, ganz neue Sprachansätze zu finden. An Heißenbüttel erweist sich, wie trefflich sprachliches Experiment, stilistische Anmut und literarischer Neuansatz mit einer kritisch-ironischen Wirklichkeitsbeobachtung zusammengehen können. Die Zeit mit ihren Zitaten erfassen – das ist eines seiner Hauptanliegen. In diesem Lesebuch sind Texte aus dem literarischen Werk Helmut Heißenbüttels zusammengestellt, die Gelegenheit geben, sich ein Bild von diesem viel diskutierten Protagonisten der literarischen Avantgarde in der Bundesrepublik zu machen.

Klett-Cotta, Klappentext, 1986

 

Rückkehr in die offene Landschaft

– Kleine Helmut-Heißenbüttel-Skizze störabwärts. –

„Nach vierundzwanzig Jahren als Rundfunkredakteur in Stuttgart hatte ich nach meiner Pensionierung Lust, in das ganz flache Marschland zurückzukehren“ – so einfach begründete Helmut Heißenbüttel seinen Entschluss, im Herbst 1981 aus der Donizettistraße in Stuttgart-Botnang in die Dorfstraße nach Borsfleth zu ziehen. An dem alten Fachwerkhaus, die Klöntür heute nur wenige Schritte von seinem Grab, erinnert inzwischen eine nüchtern klare Gedenktafel an ihn, als sei da direkt auf die weiße Wand geschrieben:

Er gehörte mit seinem literarischen und essayistischen Werk zu den wichtigsten Autoren der neuen deutschen Literatur.

Nach mehreren Schlaganfällen seit 1987 ist Helmut Heißenbüttel am 19. September 1996 im Glückstädter Krankenhaus gestorben.
Geboren wurde er am 21. Juni 1921 in Rüstringen, das heute zu Wilhelmshaven gehört; manchmal hat er darüber berichtet, wie sein Vater, ein Gerichtsvollzieher, der gelegentlich Feuilletons für eine Zeitung geschrieben hatte, seine obsessive Leselust geweckt hat. Aufgewachsen und zur Schule gegangen ist Heißenbüttel in Papenburg, im flachen Land an der Ems. 1941 musste er vom Gymnasium direkt in den Krieg; nach einigen Monaten kam er schwer verwundet aus Rußland von der Front zurück und begann in Dresden Architektur zu studieren, in den letzten Kriegsjahren dann in Leipzig Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie. Nach Kriegsende kehrte er zur Fortsetzung des Studiums nach Norddeutschland zurück, nach Hamburg, das wohl zeitlebens sein wichtigster Bezugspunkt geblieben ist.
Auf einer Tagung der Gruppe 47 wurde er 1955 von Hans-Georg-Brenner als Lektor (und Werbeleiter) in den Hamburger Claassen-Verlag engagiert. 1957 holte ihn Alfred Andersch zum Süddeutschen Rundfunk nach Stuttgart; zunächst löste er Hans Magnus Enzensberger als redaktioneller Mitarbeiter ab, am 1. Januar 1959 dann wurde er Nachfolger von Andersch als Leiter der Redaktion des heute legendären Abendprogramms Radio-Essay, in der Heißenbüttel bis zu seiner Pensionierung wohl an die zweitausend Sendungen initiierte und betreute, von der Buchkritik bis zum Studio für neue Literatur, vom Rundfunkessay bis zum Hörspiel, vom Feature bis zur Autoren-Musik.
Im Laufe der Zeit hat er eine Reihe von heute bekannten Autoren entdeckt, großzügig gefördert, an Verlage vermittelt. „Mit Heißenbüttels Pensionierung im Sommer 1981 ging nicht nur in Stuttgart eine Ära zu Ende“, heißt es in einer Dokumentation des Süddeutschen Rundfunks, denn in der kommerzorientierten Rundfunklandschaft von heute wurde dieses wohl avancierteste, lebendigste und neugierigste Forum zur Diskussion und Präsentation von Literatur nach Heißenbüttels Weggang zwangsläufig vom Sender eingestellt.

Heißenbüttel kehrte abermals – und jetzt endgültig – nach Norddeutschland zurück, nach Holstein an die Stör, „weil die Marsch die Landschaft meiner Kindheit war und die Schönheit einer Landschaft für mich immer damit zusammenhing daß die Landschaft flach war“.

LOB WEST-SCHLESWIG-HOLSTEINS

immer wenn ich morgens mit dem Bus nach Glückstadt fahre
immer wenn ich auf der Bahnfahrt zwischen Pinneberg und Glückstadt nach links aus dem Fenster blicke
immer wenn ich das flache Land sehe
den Horizont aus Büschen Bäumen einzelnen Dächern manchmal Kuhrücken
den Himmel der bunter ist als anderswo und mehr Wolken hat als anderswo
den Rundblick der mir alles darbietet
der die Verhältnisse offen erscheinen läßt
nicht von sogenannten Schönheiten verstellt
der nichts verbirgt und das Wirkliche wirklich erscheinen läßt
Haseldorfer Marsch Kremper Marsch Wilster Marsch bis hinauf zur Eiderstedter Marsch und Niebüll
öffnet sich
öffnet sich
öffnet sich
mein Gefühl meine Empfindung mein Herz
segle ich davon im Wind des Gefühls der Empfindung
im Wind des Herzens
und ich erinnere mich an die Heimreisen während des Krieges
wenn sich nach Hannover wo es flach wurde der Gedanke bildete
jetzt wird es schön

Dieses kleine Gedicht war nach einer großen Rede des Ministerpräsidenten Björn Engholm und einer eindringlichen Laudatio von Günter Kunert die lapidare Dankesrede Heißenbüttels, als er 1990 im Kieler Schloss den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein erhielt. Seine erste Auszeichnung war – wie könnte es anders sein – das Stipendium der Stadt Hamburg zum Lessing-Preis 1956 gewesen, seine letzte war 37 Jahre nach diesem frühen „Trostpreis“, wie Heißenbüttel sagte, dann folgerichtig der große Literaturpreis Hamburgs, der Alexander-Zinn-Preis. Den wichtigsten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, erhielt Heißenbüttel 1969 und danach noch eine Reihe bedeutender Auszeichnungen wie etwa den Hörspielpreis der Kriegsblinden (1970), das Bundesverdienstkreuz (1979), den Literaturpreis der Stadt Köln (1984) oder den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur (1990). Er war Mitglied der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, leitete zeitweilig die Literaturabteilung der Berliner Akademie der Künste, gehörte der Akademie der Wissenschaften und Literatur zu Mainz an sowie den Freien Akademien der Künste in Mannheim und natürlich in Hamburg; er war Mitbegründer des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie.

Schon wenn ich nur diese wenigen ausgewählten Daten so trocken aufzähle, kann ich mich schwer damit abfinden, dass dem außerordentlichen Ansehen Heißenbüttels quer durch die Reihen der rivalisierenden literarischen Strömungen und Gruppierungen der Nachkriegszeit hindurch kein auch nur andeutungsweise vergleichbarer Verkaufserfolg auf dem Buchmarkt gegenübersteht. Er hat rund fünf Dutzend Bücher in den größten wie auch den kleinsten Verlagen veröffentlicht, vom bibliophilen Druck bis zum Taschenbuch. Er nannte seine literarischen Texte Texte, Gedichte, Gedichtgedichte, Gelegenheitsgedichte, Klappentexte, Hörtexte, Hörspiele, Radiocollagen, Dialoge, Projekte, Quasiroman, mehr oder weniger Geschichten, Erzählungen, Novellen, Märchen, Legenden, Phantasien, Totengespräche, Totentage, Landschaften und sogar Herbste.
Er schrieb für Tages- und Wochenzeitungen, für Zeitschriften, Kataloge, Programmhefte, für Jahrbücher, Sammelwerke, Anthologien. Er schrieb Vor- und Nachworte. Er schrieb hunderte von Rezensionen. Er schrieb Essays und Aufsätze zur Literatur von der Bibel bis Bert Papenfuß, von Homer bis Magdalen Nabb. Er schrieb über Literaturtheorie, Poetik, Sprachphilosophie, Sprachwissenschaft. Er schrieb über Bildende Kunst, Fotografie, Film. Er verheimlichte, dass er selber Bilder machte, bis er sie zu seinem 75. Geburtstag widerstrebend nach Hamburg in eine große Ausstellung gab. Er schrieb über Musik und Schallplatten von Georg Friedrich Händel bis zu Cecil Taylor oder Pink Floyd. Er war selber ein exzessiver Schallplattensammler. Er schrieb über Wissenschaft, Philosophie, Soziologie, Psychologie. Er schrieb natürlich über den Rundfunk und die Massenmedien.
Er schrieb:

Wenn man versucht, soetwas wie eine Person durch Gerede, durch Sprachfloskeln, Sprachphrasen herzustellen, zu summieren, zu konstruieren, so gibt es Grade der Deutlichkeit beziehungsweise der Undeutlichkeit. Was gezeigt werden kann, ist die Anonymität, in der dennoch die Person bleibt, die man so, mit mehr oder weniger zufälligen Sätzen, umkreist. Was gezeigt werden kann, ist die Einsicht, daß man, wie viel man auch immer sagt, nicht weiß, ob man überhaupt etwas Bezeichnendes gesagt hat.

Obwohl er von denjenigen Autoren und Kritikern, die sich den Konventionen des Main-Streams auf dem Buchmarkt schon bald angepasst hatten, bisweilen natürlich heftig attackiert wurde, steht Heißenbüttel mit seinem literarischen Werk und seiner programmatisch offenen Theorie – wie kaum ein anderer Autor der Gegenwart – für den Anschluss der deutschen Nachkriegsliteratur an die avancierte Weltliteratur, an die Traditionen und Verfahren der europäischen und amerikanischen Moderne – über die Grenzen zwischen Literatur, Musik und Bildenden Künsten hinaus.
„Kaum ein anderer Autor von Literatur oder Essays hat uns mehr mitgeteilt und mehr beigebracht über die Kunst mit Sprache“, so beschrieb Christina Weiss, Hamburgs Kultursenatorin, zu Heißenbüttels 75. Geburtstag auch meine Erfahrung mit seinem Werk (seit er mich um 1957 im Deutschunterricht bei Dr. Kurt Strasse an der Kaiser-Karl-Schule in Itzehoe zu faszinieren begann), „Heißenbüttel hat uns die frühen Texte der Moderne, die hierzulande durch das Kulturverdikt der Nazis verborgen bleiben sollten, lesen gelehrt. Helmut Heißenbüttels Aufsätze und Funkessays waren seit den sechziger Jahren fesselnde Plädoyers für ein neues, kritisches und lustvolles Verstehen von Sprache und Literatur. Er hat uns, die wir in den sechziger und frühen siebziger Jahren neugierig waren auf die Literatur, die uns eine neue Lesart der Welt vermitteln könnte, die Namen genannt, an denen wir uns entlang lesen konnten. Er hat uns beigebracht, daß es Gertrude Stein gab, daß die Texte von Carl Einstein, Paul van Ostaijen und vielen anderen uns Wegweiser in ein befreites Denken sein konnten. Er hat uns klargemacht, daß die Sprache, die wir verwenden, das Koordinatensystem unseres Denkens ist, daß wir, wenn wir unser Denken verändern wollen, mit der Sprache an unserer Sprache arbeiten müssen.“

Wie sollten wir uns also einem Dichter anders nähern als über die Sprache: die Sprache als „Koordinatensystem unseres Denkens“, darüber hinaus aber die verlockende ungehemmte Lust an der Sprache und zugleich die nahezu zwanghafte Abhängigkeit von ihr, denn alles, was wir wahrnehmen, empfinden, erfahren, müssen wir ja immer erst sprachlich formulieren, damit es uns überhaupt zu Bewusstsein kommt.
So mischt sich die Sprache mit ihren grammatikalischen Ordnungen und Vorschriften ebenso wie mit den über Generationen hinweg in den Wörtern gespeicherten Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten unablässig in unsere ureigene Weltwahrnehmung hinein und bestimmt unbewusst selbst das allerpersönlichste Erleben mit.
Deshalb hat Heißenbüttel immer wieder daran erinnert, dass Literatur oder Poesie nicht aus Vorstellungen, Meinungen, Aussagen oder Thesen besteht, sondern aus Sprache; dass Literatur nicht vorbestimmte Inhalte oder Botschaften zu vermitteln hat, sondern es mit nichts anderem als mit der Sprache zu tun hat.
Deshalb setzte er im Schreiben wie im Lesen von Literatur darauf, der Sprache immer von neuem auf die Spur zu kommen, der Sprache ohne vorgefasste Meinung bis ins Unbekannte nachzugehen, bis die Sprache plötzlich keinerlei Halt mehr gibt. Daher klingen die Titel seiner ersten beiden Gedichtbände, Kombinationen (1954) und Topographien (1956), ganz anders als die der berühmten Gedichtbände der fünfziger Jahre wie etwa Botschaften des Regens (von Günter Eich) oder Anrufung des großen Bären (von Ingeborg Bachmann).

Die Kombinationen und Topographien führen einerseits nahezu musterhaft die Metaphorik der lyrischen Moderne vor, andererseits demonstrieren Texte und Titel wie „Bruchstücke 1–4“, „Abendufer-Variationen“, „Einfache Sätze“ oder „Vokabeln,“ wie sich an Bruchstücken von Sätzen, an simplen Vokabelreihen plötzlich unkontrollierbare Bildreize entzünden können, wie der klappernden Mechanik des grammatischen Regelwerks ein Reichtum an Poesie abzugewinnen ist:

Alles, was sagbar ist, kann literarisch verstanden werden.

Noch weiträumiger als die ersten Bände angelegt, methodisch viel weiter ausdifferenziert, nicht weniger sinnlich und durchsetzt von einem lakonischen Sinn für Witz und Komik ist dann die Serie der Textbücher 1–6, die zwischen 1960 und 1967 in sechs großformatigen, typographisch sorgfältig eingerichteten Einzeldrucken erschienen.
Mit ihnen konnte Heißenbüttel in den sechziger Jahren noch eine literarisch neugierige Öffentlichkeit erreichen, wie es sie heute nicht mehr gibt:

jene sechziger Jahre, die vielleicht einmal mit einigem Recht die goldenen genannt werden können, weil in ihnen die Freizügigkeit am größten war, weil in ihnen die Chance gegeben schien, daß die literarisch-künstlerische Alternative in eine politische umgewandelt werden könnte. Was ein Irrtum war.

Die Texte der Textbücher – der Titel sollte auch die traditionelle Unterscheidung von Prosa und Poesie verwischen und jeder Form von ,textuellem‘ Sprachgebrauch poetische Qualitäten zuschreiben – spielen so kompromisslos wie lax mit den Prinzipien der Entstehung von literarischen und – ja – poetischen Texten direkt aus der Grammatik und aus der Syntax. In der Kombination und Repetition, der Reihung, Koppelung und Montage von einzelnen Wörtern, Redewendungen, Zitaten, Selbstzitaten, sprachlichen Versatzstücken entstehen provozierende neue Sinnzusammenhänge und Bedeutungsüberlagerungen, die den Texten eine ganz eigene, lebhaft reflektierende Ausstrahlung geben. Zwar scheint Heißenbüttel mit seinem strikt methodischen Vorgehen der Sprache selbst bis auf den Grund zu gehen, doch wird das Methodische ganz selten zum leeren Schema.
An die Stelle von ,Inhalt‘ und ,Aussage‘ tritt – grob gesagt – der eigene aktive Umgang mit dem Text und das Nachvollziehen der Sprachbewegung: „das Sagbare sagen / das Erfahrbare erfahren…“; an die Stelle der dichterischen Eingebung tritt der methodische Einfall (oder gar Zufall), wobei die semantische Qualität der Sprache nicht gekappt wird, sondern jetzt nur noch eine Funktion unter vielen ist. Es sei gleich hinzugefügt – auch um die seit damals in unterschiedlicher Heftigkeit ausgetragenen Debatten über das ,Dichterische‘ solcher Sprachverfahren zu entschärfen –, dass es hier keineswegs um eine ,Sinnentleerung‘ oder gar ,Zerstörung‘ unserer schönen Sprache geht, im Gegenteil: es geht um die Betonung von zusätzlichen Eigenschaften: grammatikalischen, syntaktischen, klanglichen, visuellen etc., und das nicht an Stelle der Wortbedeutungen, sondern zusätzlich zu ihnen.
Diese Programmatik teilt Heißenbüttel natürlich mit den konsequentesten Vertretern aller avancierten Literatur und Kunst, etwa mit der ,Konkreten Poesie‘, die in den fünfziger und sechziger Jahren die wichtigsten Impulse für eine Erneuerung des poetischen Sprechens gab. Dennoch wehre ich mich entschieden dagegen, Heißenbüttel immer noch vornehmlich aus diesem Blickwinkel zu betrachten oder ihn gar als einen ihrer Hauptvertreter ganz und gar in die Konkrete Poesie abzudrängen, wie es häufig geschieht. Zum einen wäre nur ein sehr geringer Teil seiner Texte überhaupt der Konkreten Poesie zuzuschlagen, zum anderen wirken selbst diese Beiträge noch heute viel dynamischer und zugleich querköpfiger als die inzwischen historisch ruhiggestellte Konkrete Poesie insgemein.
Ihn interessierte das, was dahinter liegt, das offene, ungesicherte, überwältigend fremde Gelände dort, wo nach dem schmalen Durchgang durch eine strenge Methodik die herkömmlichen literarischen Gattungen und Schreibweisen keine feste Orientierung mehr bieten:

ich bewege mich zögernd ins Unbekannte.

Geprägt war eine solche Sprach- und Literaturauffassung durch die Erfahrung des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs, durch die Erkenntnis, wie sehr die Sprache in der Nazizeit missbraucht, verbraucht, demoliert worden war. Daher rührt das tiefe Misstrauen gegenüber jener Kunst und Literatur, welche zum Predigen von Botschaften und Werten in Dienst genommen wird, selbst wenn es um noch so berechtigte Forderungen geht; daher rührt die Furcht vor jeder Indoktrination durch Sprache und gerade durch Literatur; daher rührt die Scheu vor den ,Inhalten‘, die allzu leicht in die Nähe von Aussagen oder Botschaften geraten.
Hinzu kam die Einsicht, dass das Vergangene nicht verschwindet, wenn die Parolen und Aussagen der Vergangenheit gemieden werden, sondern dass sich das Vergangene im Sprachgebrauch selbst ablagert, weil Sprache eben immer auch historisch geprägt ist. Das systematische Herausarbeiten der in der Sprache selbst sitzenden Aussagen und Vorurteile, die Reduktion auf den Materialcharakter von Sprache bekommt so nicht nur poetische, sondern auch undogmatische politische Qualitäten: in den sechs frühen Textbüchern finden sich von der „Politischen Grammatik“ über die „Kalkulation über was alle gewußt haben“ bis zu der großrahmigen Zitatmontage „Deutschland 1944“ eindrucksvolle Beispiele dafür.

Ich wiederhole noch einmal den Satz, daß Sprache ihrem Wesen nach konventionell und konservativ ist. Wir können nicht mehr annehmen, daß das Bewußtsein von der Welt sich in freier Auseinandersetzung bilden kann. Wir fühlen uns gebunden, an alle Vorformulierungen der Sprache.

Wir befinden uns in einem Zustand, in dem unser Bewußtsein entscheidend mitbestimmt wird von der Einsicht, daß wir nicht sagen können, was wir meinen, sondern etwas, das die Sprache uns vorschreibt.

Die Möglichkeiten, die es natürlich nach wie vor in der Auseinandersetzung mit den Sachen, mit der Welt gibt, müssen neu ausprobiert, neu entdeckt werden. Hier würde ich die Frage nach der Literatur ansetzen.

„Widerstand und Risiko sind die allgemeinen Maßstäbe, die ich ansetzen kann.“ – Seine literarischen Vorstellungen hat Heißenbüttel nie absolut gesetzt, er hat sie in Bezug auf die historische, die gesellschaftliche, die kulturelle Situation immer wieder in Frage gestellt; seine Literatur steht unter dem Risiko des Widerrufs, seine Theorie entwarf keine Normen; er probierte vielmehr vorurteilslos Schlüsse zu ziehen aus dem, was er las und sah, und daraus wieder offene Fragen zu stellen; es konnte für ihn keine verbindliche Poetik mehr geben, weil es kein allgemeingültiges Vorverständnis von Welt mehr gibt, kein Leitbild für eine geregelte Gesellschaft, kein geschlossenes Bild vom Individuum.

Zu dieser Situation gehört die konkrete historische Einsicht, daß offenbar die Zeit der repräsentativen Stile und Programme, die Zeit der linearen Entwicklung, in der eine Richtung sich aus der anderen herauslöst, vorbei ist.

Obwohl er sein Schreiben ständig und ganz grundsätzlich reflektiert hat, hat Heißenbüttel konsequenterweise immer auch quasi unabhängig davon produziert. Schreibend war er auf der Jagd nach der Befriedigung seiner eigenen Lust am Lesen, intelligent, sinnlich, unorthodox. „Es gibt keine Regel, keine Vorschrift, keinen Kanon. Es gibt, schockierenderweise, keine Ästhetik.“
Er war zum Beispiel begierig nach Krimis. Er las sich zum Beispiel genießerisch durch die entlegensten Trivialromane des 19. Jahrhunderts. Er schrieb zum Beispiel einen Essay „Über den Begriff der Verarschung als literarisches Kriterium“.

Qualität wurde einst dem zugesprochen, das den ästhetischen und moralischen Anspruch erfüllte. Qualität ist heute eher in dem zu finden, das sich solchem Anspruch verweigert.

Heißenbüttels literarisches und essayistisches Werk wird immer wieder angetrieben durch die Fragestellungen und Aporien eines Autors, der sich vorbehaltlos der Gegenwart stellt, der sich ohne Rücksichten darauf einlässt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Literatur zu machen, die auf ihre eigene Weise auf der Höhe der wissenschaftlichen und technologischen Forschung ist, die nicht vor deren Erkenntnisstand zurückfällt, dem gegenwärtigen Zustand von Individuum und Gesellschaft entspricht und die Spaß hat an ihrem Erkenntnisvermögen.
Zugleich steht er immer neu vor der Herausforderung, auch die prinzipielle Unsicherheit einer solchen Literatur, deren Risiko, deren Widersprüche erst einmal ins Bewusstsein zu heben – eine Literatur, die schon im Ansatz viel zu empfindlich ist, um in der diffusen gegenwärtigen Situation auf die vertrauten, Übereinkunft stiftenden Erzählverfahren zurückzugreifen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert auf dem Buchmarkt und bei der herrschenden Literaturkritik erfolgreich sind:

Literatur ist nur da aktuell, wo sie sich in Kontakt weiß mit dem zeitgenössischen historischen Anspruch. Dieser ist seinem Wesen nach unformuliert, und die Literatur hat ihre Aufgabe darin, ihn zu formulieren. Das aber geschieht in der Auseinandersetzung mit dem bisher noch Unbenennbaren und Unsagbaren.

Alles ist möglich. Alles ist erlaubt.

Als Heißenbüttel 1970 sein erstes umfangreiches Buch schrieb, D’Alemberts Ende, hat er sich hartnäckig geweigert, dieses Projekt Nr. 1 als Roman zu bezeichnen; für mich dagegen ist das der Hamburg-Roman schlechthin. Heißenbüttel hat dafür in Hamburg einen Juli-Tag des Jahres 1968 bis in die geringsten Kleinigkeiten – die Zahl der haltenden Autos vor einer roten Ampel etwa oder die Kritzeleien an einer Pissoirwand – mit rätselhafter Korrektheit protokolliert, diesen detailgenau registrierten Tagesablauf dann durchschossen mit einem Wirbel wörtlicher Zitate aus den unterschiedlichsten Gebieten von der Tagespolitik bis hin zu Goethes Wahlverwandtschaften und das alles in freier Kombinatorik auf neun Figuren ständig wechselnd verteilt: „synthetische Personen“, „synthetische Authentizität“. „Ein Schlagwort? Nun: Satire auf den Überbau. Durchgeführt am Beispiel Bundesrepublik 1968.“
Aus dem Reservoir der Themen, Methoden und Figuren dieses noch immer unterschätzten Romanprojekts hat Heißenbüttel dann seine ersten beiden Hörspiele entwickelt. Mit insgesamt neun Hörspielen zwischen 1970 und 1975 sowie mi einigen grundlegenden Essays zum Hörspiel hat er einen entscheidenden Einfluss genommen auf die Entwicklung dieser Gattung hin zum Neuen Hörspiel:

Auseinandersetzung, Kritik, Tabuverletzung, Schock und so weiter als purer Inhalt auf der einen, Laut- und Geräuschpoesie auf der anderen Seite wären die Grenzen, innerhalb derer sich ein umfassenderes und völlig frei disponierbares Hörspiel denken läßt.

Die Texte seiner Hörspiele wiederum machte Heißenbüttel zur Grundlage des Projekts Nr. 2: Das Durchhauen des Kohlhaupts, also kehre auch ich – bevor ich mich in einer ausführlichen Darstellung seiner rund fünfhundert weiteren Arbeiten für den Rundfunk verfange – wieder zu den Büchern zurück.
„Er befindet sich jetzt in der, wie es der befreundete Feuilletonchef nennt, Altersphase. Er ist der berühmte Erfinder der offenen Literatur“, heißt es beinahe zynisch über eine literarische Figur aus der Sechsten Legende von Rübezahl. Der Dichter und sein Freak aus Heißenbüttels Projekt 3. Das Schlagwort von der ,Offenen Literatur‘ hat Heißenbüttel, zur Kennzeichnung seiner eigenen Situation Ende der siebziger Jahre, selbst geliefert:

Offen sein in der Form der Literatur heißt dann, nach innen, in bezug auf die Selbsteinsicht, Selbstentdeckung ohne Vorbehalt wie nach außen, in der sozialen und politischen Situation uneingeschränkt formulieren. Heißt aber auch, dies tun nicht in Anklammerung an vorgegebene Muster, sondern ausprobierend, was der heutige Stand der Redeweisen und Kommunikation hergibt.

Die drei Bände des Projekts 3 waren nach einer längeren Pause in kurzer Folge erschienen: Eichendorffs Untergang und andere Märchen 1978, Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte. Historische Novellen und wahre Begebenheiten 1979 und Das Ende der Alternative. Einfache Geschichten 1980. Geschichten, Novellen, Märchen – da schien sich nun Heißenbüttels Schreiben zumindest äußerlich verändert zu haben. Was sich allerdings allenfalls geändert haben könnte, wäre der Zugriff auf das sprachliche Material: experimentiert wird hier kaum noch mit grammatikalischen und syntaktischen Strukturen, sondern experimentiert wird hier mit den Bedeutungsmustern: mit Ansichten, Erinnerungen, Träumen, Erfahrungen, mit psychischen Verfassungen oder mit Verhaltensweisen.
Statt der Texte werden jetzt die Figuren zusammengesetzt, aus Eigenschaften, Meinungen, Funktionen, Phantasien, Begierden; obwohl sie – und das erhöht noch das Lesevergnügen – unverhohlen auf reale Vorbilder anzuspielen scheinen, sind die Personen ganz offene Konstrukte ohne vorgetäuschte Realistik, daher Namen wie Euphemia Rautenstrauch und Dr. Adolf Wuckerzasser, Kollege Queeny Hundekacke oder Genoveva, die Witwe von Botnang:

Das Authentische des Zitats und der Quatsch des Ausgedachten ganz und gar ineinander. Das überlegt Kalkulierte und das leichtfertig Hingeschriebene ganz und gar durcheinander.

Die Lust an Reflexion und an Emotion wird befriedigt durch das raffiniert-genüssliche Herumschieben von Figuren- und Handlungskonstellationen; unterhalb der beschönigenden gattungspoetischen Konventionen von Geschichten, Novellen, Märchen werden aber auch bedrängende Themen wie sexuelle Obsession oder schockhafte Todesangst sichtbar, vorangetrieben bis in die Nähe der Selbstentblößung:

weiter gehn, als es normal geht.

Diese vorbehaltlosen Traumbildphantasien und auch die libidinöse Drastik verbinden die Erzählungen mit der zweiten Serie der Textbücher, die 1985, achtzehn Jahre nach dem letzten Textbuch mit Textbuch 8 beginnt, fortgeführt bis Textbuch 11 in gereinigter Sprache (1987), unterbrochen durch die Schlaganfälle Heißenbüttels, abgebrochen durch den Tod – die letzten Textbücher 12 und 13 seien fertig, sagte er, als er kaum noch sprach, seien fertig in seinem Kopf. Diese späten Textbücher geben nun am Ende einen Blickpunkt frei, von dem aus die Vielfalt und die Faszination aller Texte Helmut Heißenbüttels plötzlich aus ganz verschiedenen Perspektiven gleichzeitig wahrnehmbar werden.

„Alles das, was uns an Heißenbüttel vertraut ist“: so empfand das die von Heißenbüttel hoch geschätzte Autorin Brigitte Kronauer nach seinem Tod, „Zitatcollagen und -überlagerungen, Bruchstücke anderer Texte in neuen, ein neues Klima erzeugenden Kontexten, Listen, Register, Inventare und Abstraktablöcke. Kombinationen disparater Wortkategorien und wissenschaftliche Auszüge, Koppeln und Montieren unterschiedlicher Sprachfundstücke, all das ist periodisch abgelöst von Bildern, angehaltenen optischen Figurationen. Einfach gesagt: von Inseln höchster Anschaulichkeit, von Flußufern, Erlenwäldern, Himmeln, Hohlwegen, Kindheitssommern, viel stärker noch als von weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen.“
Wie schon in den letzten Gedichten des Bandes Ödipuskomplex made in Germany. Gedichte Totentage Landschaften (1980) kehrt in den späten Textbüchern also auch das Motiv der Topographien zurück als ständige Variation der intensiven Beschreibung von Landschaften, die zugleich Textlandschaften, Erinnerungslandschaften, Traumlandschaften sind hinter dem Vordergrund bezwingend anschaulich beschriebener Landschaftsbilder, bodenlos und eingefärbt von Themen wie Selbstentfremdung und Tod.
Hier bleibe ich stehen auf meinem kurzen Weg störabwärts durch das Werk Helmut Heißenbüttels. Es ist, als sei nicht nur der Gang durch einen Text wie der Gang durch eine Landschaft, sondern als sei auch der Gang durch ein Leben wie der Gang durch eine Landschaft, in die man immer wieder zurückkehrt und die man am Ende wieder neu zu entziffern und zu lesen beginnt wie die weite, klare und offene Landschaft Helmut Heißenbüttels, in die er zurückgekehrt ist.

Wenn er auf dem Deich geht, morgens, und der Fluß fängt an zu rauchen, kann es sein, daß sich ein Blick freigibt auf das, was nie zu sehen war.

Klaus Ramm, 1999, die horen, Heft 241, 1. Quartal 2011

 

Thomas Combrink: Keine Elite, keine Auserwählten, keine Bescheidwisser. Über Helmut Heißenbüttel, Merkur, Heft 697, Mai 2007

 

GEDACHTE GEGENSTÄNDE
Für Helmut Heißenbüttel II

Aus Wörtern eine Welt. Gedachte Gegenstände
befeuern das Gehirn des Autobiographen,
wo, morphologisch, sie das Denken Lügen strafen.
Doch er als ganzer Mensch braucht nicht einmal zwei Hände.

Mit seinen Titeln stößt er durch verbaute Wände
und holt den Hintersinn aus dunklen Epitaphen.
Das Kohlhaupt, ists durchhaun? Ist Max nun eingeschlafen?
Ist Eichendorff erschöpft? Ist D’Alembert am Ende?

So mancher, den sein Wort im tiefsten Innern schreckte,
kriegt eine Gänsehaut vom Thema der Projekte.
Er selber laboriert an eigner Redeweise.

Dort, wo ein andrer flott mit spitzen Silben hexte,
da webt er unverwandt am Tuche seiner Texte.
Wenn das der Anfang ist, dann bin ichs, sagt er leise.

Ludwig Harig

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeberin + Kalliope

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jörg Drews: Weil der Versuch die einzige Gewähr ist
Merkur, Heft 397, Juni 1981

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ulf Stolterfoht: Wie ich Helmut Heißenbüttel einmal fast begegnet wäre
Stuttgarter Zeitung, 18.6.2021

Peter Mohr: Poet im Sprachlabor
literaturkritik.de, Juni 2021

Willi Winkler: Erschreckend modern
Süddeutsche Zeitung, 20.6.2021

Paul Jandl: Die deutsche Sprache kam ihm immer spanisch vor
Neue Zürcher Zeitung, 21.6.2021

Beate Tröger: Ein Radikaler
der Freitag,  2.7.2021

 

 

 

„Sage ich Du zu mir oder Sie?“ Happy Birthday Helmut Heißenbüttel! am 26.6.2021 im Literaturhaus Stuttgart

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLGIMDbFacebook +
DAS&D + Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Archiv 12 +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
 Brigitte Friedrich Autorenfotos

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Heißenbüttelose“.

 

Fernsehdokumentation von Urs Widmer aus dem Jahre 1967 über den experimentellen Schriftsteller Helmut Heißenbüttel (1921–1996). Der Titel: Zweifel an der Sprache. Helmut Heißenbüttel, ein Portrait.

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