Helmut Koopmann: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Aria I“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Aria I“ aus Ingeborg Bachmann: Werkausgabe in vier Bänden. Band I. Gedichte. –

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Aria I

Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen,
ist die Nacht von Dornen erhellt, und der Donner
des Laubs, das so leise war in den Büschen,
folgt uns jetzt auf dem Fuß.

Wo immer gelöscht wird, was die Rosen entzünden,
schwemmt Regen uns in den Fluß. O fernere Nacht!
Doch ein Blatt, das uns traf, treibt auf den Wellen
bis zur Mündung uns nach.

 

Im Geheimnis der Worte

Es gab Zeiten, da erwartete man von einem Gedicht Belehrung und Aufklärung, Wissen, Erkenntnis. Von diesem Gedicht der Ingeborg Bachmann darf man nicht einmal Verständlichkeit verlangen. Das Gedicht überfällt den Leser mit einer Unbegreiflichkeit, denn hier ist miteinander verbunden, was nichts miteinander zu tun hat. Gewitter der Rosen? Eine von Dornen erhellte Nacht? Erst wer das Gedicht weiterliest, gefangengenommen von der unerhörten Kühnheit der Bilder, gerät in eine Zone halbwegs einleuchtender Impressionen. Denn „Donner des Laubs“ – das mag maßlos übertrieben sein, ist aber nicht jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Daß das Laub schließlich „leise war in den Büschen“ – das ist begreiflich, liegt innerhalb unserer eigenen Erfahrungen und ist alles andere als aufregend: eine Allerweltsbeobachtung.
Wir ahnen, daß das Gedicht hier vielleicht seinen Ausgang nahm: im Geräusch bewegten Laubs in den Büschen. Alles andere ist poetische Imagination. Ein Nachtbild eigener Art tut sich auf: die Dunkelheit nicht von Blitzen sondern von Dornen erhellt; der Donner als raschelndes Laub zu Füßen. Hängen die Rosenbüsche wie eine dunkle Wolke über uns? Oder erinnern die dunklen Wolken mit ihren grellen Blitzen an nächtliche Rosenbüsche mit roten Blüten? Doch die Fragen sind falsch gestellt, denn hier wird nichts miteinander verglichen.
Läsen wir das Gedicht verkürzt, ohne das Rosenbild, es wäre ebenso verständlich wie banal. Denn es hieße dann: Wohin wir uns wenden im Gewitter, ist die Nacht erhellt, und der Donner folgt uns jetzt auf dem Fuß. Aber hier ist etwas beschrieben, was es realiter nicht gibt: ein Rosengewitter. Kein vergleichsweises Blumendekor, kein Als-ob – statt dessen ein neues, unendlich kühnes Bild. Es steht uns frei, an dunkle Rosen zu denken oder an ein tatsächliches Gewitter – das Gedicht beschreibt anderes. Sinneseindrücke einer Gewitternacht sind mit einer Impression aus dem Rosengarten verschmolzen, und ein gewaltiges neues Bild ist entstanden: Gewitter der Rosen.
Die zweite Strophe hat Ingeborg Bachmann später hinzugefügt. Der Rosenblitz hat eingeschlagen, Regen löscht das Feuer. Aber wieso schwemmt uns der Regen in den Fluß? Spätestens hier wird klar, daß das Rosengewitter imaginärer Natur war. Es hat sich, so anschaulich es sich darbot, am Ende doch nur in der Seele entladen. Schwemmt uns der Regen in den Fluß des Lebens? Das Gedicht gibt keine Antwort auf derartige Fragen. Ein Bild beschließt es: das nachtreibende Blatt, Erinnerung an das Rosengewitter, von dem wir nicht wissen, wie tatsächlich es war.
T.S. Eliot hat einmal vom objective correlative in der Lyrik gesprochen, der Bildentsprechung, die zu verdeutlichen vermag, was sonst unbezeichenbar wäre. Hier, im Gedicht vom Rosengewitter, scheint sich ein innerer Vorgang abzuspiegeln, der sich in Bildern naturalisiert hat. So könnte man das Gedicht lesen. Aber niemand zwingt dazu, am wenigsten das Gedicht selbst. Läßt man alles Fragen nach Sinn und Botschaft, nach Anlaß und Ursache weg, bleiben großartige Bilder: ein Sprachwerk, nichts weiter als ein Gespinst aus Worten, aber von großer Kühnheit und einzigartiger Eindringlichkeit. Man wird es kaum vergessen können – vielleicht gerade, weil der Sinn dunkel ist und nur von Rosen erhellt wird.

Helmut Koopmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

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