Inge Müller: Poesiealbum 105

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Inge Müller: Poesiealbum 105

Müller/Gebhardt-Poesiealbum 105

BILANZ

Mein Sehn und Tun und Nachgedacht
Was hats eingebracht:
Fürs Tun gabs wenig
Fürs Nachdenken keinen Pfennig
Mein Bett hab ich im Freien gemacht
Und in der Nacht gelacht
Geweint auch und die Stimme klang
Tausendstimmig wild ein Schlachtgesang
Gegen Stein und Bein
Mein und Dein
Alles und allein sein.
Morgens sah ich die Sonne stehn
Und ging Fuß vor Fuß wie alle gehn
Wieder die Straße entlang.

 

 

 

Inge Müller

Gedichte, die ohne Aufwand geschrieben sind und mit Worten fast geizen; sie erzählen auf karge, überraschend ruhige Weise von dem, was war, das der Krieg zu Ende ging, und von dem, was sich danach unter unglaublichen Schwierigkeiten zu entwickeln begann, sie erzählen von Nachkrieg und Unfrieden. Inge Müller hat Gedichte hinterlassen, die sich wie ein Tagebuch lesen, aufrichtig, spannend und von kaum zu übertreffender Gefühlskraft. Bombastische Klagereden waren ihre Sache nicht; der klare, die Tatsachen durchleuchtende Blick dieser Dichterin erkannte, was wir den Unauffälligen der ersten Stunde schuldig sind: „Sie machen sich nichts vor. Wenn kein Wort mehr hilft, finden sie ein neues.“

Verlag Neues Leben, Ankündigung

Inge Müller

gehört zu den großen Talenten, deren ureigene Ich-Aussage mit den historischen Ereignissen so zusammefällt, daß Gedichte entstehen, die uns zutiefst betroffen machen. Der Leser begegnet hier einer Lyrik von erstaunlicher Authentizität, Leidenschaft und Kompromißlosigkeit, in der sich die bitteren Erfahrungen und die Selbstfindung jener Generation widerspiegeln, deren Kindheit und Jugend durch den Faschismus des zweiten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit geprägt wurde. In einfacher, dichter Sprache berichtet sie mit starker menschlicher Ausstrahlungskraft vom Kampf der „Unauffäligen“ gegen den Tod. Sie nimmt den Dialog mit uns auf.

Dorothea von Törne, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1976

 

Die Wahrheit leise und unerträglich

Links eine Akazie, rechts eine Kirsche, Wildwuchs: Die zwei Bäume, die über Inge Müllers Grab wuchsen, sind so alt, wie Inge Müller tot ist. Dieses Grab aus dem Jahre 1966 kennt längst keine Besucher mehr. Die Erdoberfläche der Reihe I des Gräberfelds 21/2 auf dem Berliner Friedhof Pankow ist frisch abgetragen, die Liegezeit der Toten abgelaufen. Mit Hilfe eines alten Photos finde ich die Stelle, an der sie ihre letzte Ruhe fand. Eine Lyrikerin in der Tragik und vom Format Else Lasker-Schülers, noch immer so unbekannt, wie es auch die Dichterin des Blauen Klaviers war. Und dieses Grab soll verschwinden? Es ist verschwunden.
Damals, im März 1995, als ich sie fand, wäre sie siebzig Jahre alt geworden. Heiner Müller, mit dem sie in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens verheiratet war, mit dem sie die Anfangsstücke Der Lohndrücker und Korrektur schrieb und für die gemeinsame Arbeit 1959 den Heinrich-Mann-Preis erhielt, geht zu diesem Zeitpunkt nach einer Krebsoperation dem Tode entgegen. Als ich ihn im Juni zu einem Gespräch über Inge Müller treffe und ihm vom Zustand der Grabstelle berichte, bekennt der 66jährige:

Ich habe sie nach der Beerdigung nie mehr besucht.

Am 30. Dezember 1995 stirbt Heiner Müller.
Quer durch sein Werk hat ihn Inge Müller, die sich 41jährig das Leben nahm, gezwungen – in die Heimsuchung zu ihr. „Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. 30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten“, heißt es bei ihm in Lessing Schlaf Traum Schrei. Und:

ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMEN TOT IST TOT… Frau.

Sie ist nicht wiedergekommen. Sie war immer da – mit ihren Gedichten, die spüren lassen, was Tod aus Liebe ist. Sie waren und sind der lange Abschiedsbrief zu einer kurzen Gemeinsamkeit, in der Heiner Müller nicht verraten ist:

Über uns Mond
Unter uns Stein
Zu Sand gemahlen Berge und Bein
Formeln im Völkergrab
Daß ich dich liebhab
Wird es zu lesen sein
in Blätter gestanzt
ins Meer gepflanzt
In den Wind geschrieben
Wenn alle lieben.

Inge und Heiner Müller in der DDR des Jahres 1953, in dem sie sich kennenlernten: es soll der Sprung ins Absolute sein. Die Liebenden als Künstler in der Einheit. Sprechen als „unendliche Paarung“ (Rilke), schreiben zu zweit mit einer „einzigen Hand“ (Petrarca). Die Liebe als Präfiguration einer neuen Gemeinschaft, die zu einer besseren führen wird. So sahen Freunde und Bekannte das Paar. So pilgerten sie hinaus zur Wohnung der Müllers: Karl Mickel, Manfred Bieler, Wolf Biermann, B.K. Tragelehn, Boris Djacenko, Peter Hacks, Richard Leising… Es war der helle Irrsinn.
Brigitte Soubeyran, heute Professorin an der Berliner Schauspielschule, damals Schauspielerin und Lebensgefährtin Wolf Biermanns, erinnert sich an dessen Schwärmereien: „Ein Idealpaar!“ B.K. Tragelehns Frau Christa erträumte sich so ihre eigene Beziehung, eine ständige Bewegung des Austauschs:

Was da zwischen Inge und Heiner Müller passierte, war einfach faszinierend.

Doch die Liebe, die da bewundert wurde, ist eine Despotie, die ohne Rücksicht gefangen nimmt und ohne Rest verzehrt. Wer übt die Macht aus in dieser Beziehung, wer wird Besitzer, wer Besitz? Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Aber es gibt eine besessene Konfrontation. Ihr entzieht sich Heiner Müller zunehmend. Inge Müllers Blick ist auf die Kriminalgeschichte der Liebe gerichtet, seiner auf die der politischen Macht, in der der geschichtslose Augenblick Liebe nicht bestehen kann.
Ingeborg Meyer, so ihr Mädchenname, und Heiner Müller gehören 1945 zum letzten Aufgebot, das die Nazis in die Schlacht schicken. Sie ist zwanzig, er sechzehn. Nur selten spricht sie später von den letzten Kriegstagen, in denen sie sich als Nachrichtenhelferin der Luftwaffe am Kampf gegen die Sowjets in Berlin beteiligt, von einem zusammenbrechenden Haus verschüttet und erst nach drei Tagen zusammen mit einem neben ihr liegenden Schäferhund ausgegraben wird.

Als ich das Wasser holte fiel ein Haus
auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht
Fragt den Hund wie.

Nach ihrer Rettung sucht die Zwanzigjährige ihre Eltern und gräbt sie aus den Trümmern ihres Hauses aus. Um die toten Eltern zur Sammelstelle zu bringen, sucht sie nach einem Wagen. Als sie zurückkommt, ist der Finger der Mutter mit dem Ring abgeschnitten. Wenn sie später im Gedicht die Trümmer von 1945 sammelt, dann spürt der Leser, wie ihn Inge Müller hält in den Sturz hinein, wie sie das Entsetzliche kinderleicht macht:

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch;
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

„Aufrecht, wenn die Angst groß ist“, so geht die Zwanzigjährige Inge Meyer in ihr zweites Leben – „übriggeblieben zufällig“, wie sie später schreibt. Sie sucht die Menschen, sie ist überall dabei: als Trümmerfrau, in einem Bürgermeisteramt, bei der Seuchenbekämpfung, der Altenbetreuung, in Verkaufslagern, bei der Brennstoffverteilung, in einer Buchhandlung. Sie ist „Mädchen für alles“, auch bei Siemens-Plania als Demontagearbeiterin und als Sekretärin. Sie heiratet. Inge Müller wird Inge Lohse, Frau eines AEG-Angestellten. Sie bringt am 8. Dezember 1946 einen Sohn zur Welt.
Diese Inge ist in ständiger Bewegung – „endlich leben“. Sie spielt Akkordeon. Nachts tritt sie in einer Tanzkapelle auf. Sie schreibt Schlagertexte. Sie geht mit dem Akkordeon in Krankenhäuser und Strafanstalten. Sie spielt bei Veranstaltungen des Frauen- und Kulturbundes. Sie betreut sechs Kinos. Sie lernt einen Zirkusmann kennen, geht in den Pantherkäfig, versucht sich als Dompteuse. Der Zirkusmann steigt auf zum ökonomischen Direktor des Friedrichstadt-Palastes. Sie läßt sich scheiden, heiratet ihn und heißt nun Inge Schwenkner.
Der Mann akzeptiert ihren Sohn Bernd. Die Familie zieht nach Lehnitz bei Oranienburg hinaus. Inge Schwenkner wohnt nun wunderbar gesichert und privilegiert in einem Einfamilienhaus, in einer Waldsiedlung, die Häftlinge des KZ Oranienburg im Hitler-Reich für die Henkel-Konstrukteure des Amtes für Höhenflugforschung hatten bauen müssen. In ihrer Nachbarschaft Erich Mielkes Vorgänger als Stasi-Minister, der Altkommunist Ernst Wollweber, der in Ungnade fallen wird, Georg Dertinger, Mitbegründer der Ost-CDU, der seine Partei SED-fügsam macht, Außenminister der DDR wird, dann Zuchthaushäftling. Auch Friedrich Wolf, Dramatiker, Diplomat und Vater von Markus Wolf, wohnt dort.
Inge Schwenkner wird Mitglied der SED, versucht sich als Korrespondentin für die Märkische Volksstimme und andere Blätter, arbeitet zeitweise als Abteilungsleiterin für Information beim Rat des Kreises Oranienburg, sitzt an einem Kinderbuch, das 1955 unter dem Titel Wölfchen Ungestüm erscheinen wird. In der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren im Schriftstellerverband lernt sie 1953 Heiner Müller kennen. Der erinnert sich in seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen an die vier Jahre ältere Frau so:

Sie hatte eine grüne, gestreifte Bluse an, der oberste Knopf dieser schönen, teuren Bluse war auf, sie erzählte von zu Hause, und ich erfuhr, daß sie zu den oberen Zehntausend gehörte, und ich weiß noch diesen Moment, als meine proletarische Gier auf die Oberschicht sich regte. Bei Inge war mein erster Wohnsitz…

Es war die Zeit, in der Heiner Müller mit Gedichten und kleinen Prosaarbeiten begann, auch mit den Kriegs- und Faschismusszenen, die 1974 unter dem Titel Die Schlacht zusammengefaßt werden. Es war die Zeit, in der er sich mit Klappentexten für den Aufbau-Verlag und mit Rezensionen für den Sonntag finanziell über Wasser hielt. Henryk Bereska, Jahrgang 1926, bis 1954 Lektor beim Aufbau-Verlag, dann der überragende Übersetzer aus dem Polnischen in der DDR, erinnert sich an die Zeit, in der sich Inge Schwenkner und Heiner Müller in der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren begegneten:

Sie hatte Eloquenz und Charme, strahlte eine unglaubliche Heiterkeit aus, war von sprühender Intelligenz. Sie stand im Widerspruch zur Tristesse dieser Jahre. Sie hatte eine engagierte Neugier und eine hoffende Haltung der Gesellschaft gegenüber. Ohne Floskeln, ohne Phrasen, ohne Schlagworte. Und noch in den späteren Jahren, als ich bei beiden zu Gast war, hatte ich von ihr den Eindruck einer starken Frau, deren Ende mir unverständlich bleibt. Sie war geerdet und zugleich eine poetische Figur. Wir tranken Rotwein und redeten stundenlang.

Inge Schwenkner läßt sich erneut scheiden, heiratet 1954 Heiner Müller, bleibt aber im Hause ihres geschiedenen Mannes; sie wechselt nur das Stockwerk. Heiner Müller adoptiert den achtjährigen Bernd. Das Ruderboot und das Segelboot des Direktors Schwenkner können am Lehnitz-See weiter genutzt werden. Inge Müller unternimmt mit ihrem Sohn Wochenendfahrten zu den umliegenden Seen, sie zelten. Die Mutter ist eine leidenschaftliche Fotografin. Tagsüber baden beide, abends angelt sie. „Zu Hause machten wir lange Spaziergänge, meine Mutter, Heiner und ich. Es war eine angenehme Zeit – am Anfang“, erinnert sich Sohn Bernd, heute Holzschnitzer mit einer Verkaufswerkstatt in Kuhhorst, einem winzigen Dorf bei Fehrbellin.
Inge Müller möchte mitten drin stehen in der Sozialismusverheißung, in der neuen Gesellschaft. Wie Heiner Müller. Und stehen beide am Rande. In der Retrospektive sagt Heiner Müller 1992:

Für mich war es nie ein Problem, ungerecht behandelt zu werden. Ich wußte, es gibt keine Gerechtigkeit…

Doch Heiner Müllers Weg in die Ironie und von dort in den Zynismus ist ein langer Weg in eine Art Freiheit, die wir als Distanz bezeichnen. Die Entmoralisierung der Wahrnehmung, eines der wichtigsten Postulate der ästhetischen Moderne, wird nie die Sicht Inge Müllers, wohl aber die ihres Mannes.
Heiner Müllers Grunderlebnis, das er von Verschüttung freizuhalten sucht:

1933 am 31. Januar um vier Uhr früh wurde mein Vater, Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, aus dem Bett heraus verhaftet. Ich wachte auf, der Himmel vor dem Fenster schwarz, Lärm von Stimmen und Schritten. Nebenan wurden Bücher auf den Boden geworfen. Ich hörte die Stimme meines Vaters, heller als die fremden Stimmen. Ich stieg aus dem Bett und ging zur Tür. Durch den Türspalt sah ich, wie ein Mann meinem Vater ins Gesicht schlug.

Es geschah an seinem sächsischen Geburtsort Eppendorf. Heiner Müller war vier Jahre alt. Ein Jahr lang wird der Vater in einem Konzentrationslager festgehalten. Heiner Müller hat dieses Erlebnis in seinem Prosastück „Der Vater“ festgehalten. Der Vater, als Funktionär der SPD ein Gegner des Zusammenschlusses mit der KPD zur SED, entzieht sich einem Verfahren wegen Titoismus und flieht 1951 in den Westen. Mutter und Bruder Wolfgang folgen – nach Reutlingen. Aus Heiner Müllers Sicht geht der Vater auf die andere Seite, um sich „herauszuhalten aus dem Krieg der Klassen“. Heiner Müller, 1945 als Sechzehnjähriger von den Nazis in deren letztes Aufgebot geworfen, votiert für die radikale Alternative, die die DDR sein soll.
Die Liebe der 28jährigen Inge Müller bekommt mit dieser Vorgeschichte ihres Mannes ihre politische Struktur. Der Bruch mit der althergebrachten Konvention findet einen Grund – am Anfang dieser Beziehung. Hinzu kommt die Entdeckung gemeinsamer proletarischer Wurzeln.

Geboren im Hinterhaus
Vater: der mit vier Zwiebeln verkauft
Für die Mutter, die nähte nachts
Für die fünf Kinder und den Mann
Und weinte, selten, um das eine,
das aus dem Fenster fiel
Und um das von dem Fräulein nebenan:
Erstickt im Müllkübel

So die Anfangszeilen eines Gedichts von Inge Müller über ihren Lebenslauf. Geboren am 13. März 1925 in Berlin-Lichtenberg in der Nähe des Ostkreuzes, wächst sie unter armen schlesischen Zuwanderern auf. Der Vater gehört zu ihnen und schlägt sich als Zwiebelverkäufer, Zeitungsverkäufer, Lastenträger, Bote durchs Leben und bringt es schließlich zum Abteilungsleiter im Ullstein-Verlag. lnge Müllers Mutter ist eine preußische Offizierstochter und wird bei ihrer Heirat verstoßen.
Inge Müller verläßt mit sechzehn Jahren die Handelsschule und wird 1942/43 zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet. Sie kommt nach Dornhofen in die Steiermark, arbeitet zuerst bei einem Bauern, dann als Straßenbahnschaffnerin in Graz. In Berlin beginnt sie als Stenotypistin in den Solvay-Werken und wird Direktionssekretärin. Am 8. Januar 1945 wird sie zur Wehrmacht eingezogen.
Auch in der Familiengeschichte Heiner Müllers gibt es eine Mesalliance: Seine Großmutter, Tochter eines reichen Bauern, wird enterbt, als sie den Großvater heiratet, der zur „unteren sozialen Schicht“ gehört, wie sein Enkel Heiner schreibt.
„Ich wer ist das“, fragt Heiner Müller in einem Gedicht. Er weiß es. Inge Müller glaubt, es nun auch zu wissen. Die Echtheitsprobe ist die Liebe in der Einheit. Inge Müller schreibt 1954:

Da ist die Brücke
Und ich seh dich gehen
Über die Planken aus Holz.
Drei fehlen in der Mitte.
Ich reiche dir die Hand
Und du siehst sie nicht.
Du siehst das Wasser unter dir
Und den Wind, der stark ist.
Da zittert meine Hand
In der Mitte zwischen Wasser
Und Wind.
Und da ist die Brücke.

Und Heiner Müller antwortet auf diese Zeilen:

Ins Wasser blickend sah ich
Deine Augen, die mich suchten. Da
Fand ich mich. Und ich fürchtete den Wind
Nicht mehr. Er trägt uns,
Die sich an den Händen halten.

Die ungetrübte Zeit kennt keine Zeugen. Der Zeitpunkt der Freundeseuphorie ist nicht identisch mit den ersten Jahren dieser Liebe, die am hellsten strahlt, als sie schon über ihren Zenit hinweg ist. Der Pilgerzug Enthusiasmierter beginnt 1956 mit dem zwanzigjährigen B.K. Tragelehn, dem Meisterschüler Bertolt Brechts, den es nach der Lektüre des gemeinsamen Müller-Stücks Der Lohndrücker hinaus aus Berlin, nach Lehnitz treibt.

Tragelehn erinnert sich an seine erste Begegnung mit Inge Müller in Lehnitz:

Sie hatte ganz große, brennende schwarze Augen. Sie war allein. So lernte ich sie eine halbe Stunde früher kennen als ihn. Sie war kleiner als er, kräftig, mit schmaler Taille. Wir diskutierten bis tief in die Nacht hinein über den Lohndrücker. Ich übernachtete im Hause.

Torsten Heyme, Jahrgang 1963, der Mitte der achtziger Jahre als erster in Ostberlin intensiv den Spuren Inge Müllers nachgeht und der in der Wohnung des Dramatikers den Nachlaß seiner Frau sichten darf, ist seitdem davon überzeugt, daß Inge Müller als Koautorin an allen Stücken bis zum Bau beteiligt gewesen ist. Tragelehn hält das für ausgeschlossen. „So weit trug Heiners Wunsch nach Symbiose nicht“, sagt er. „Aber der Wunsch war da bei ihm.“
Damals unumstritten ist Inge Müllers Anteil nicht nur am Lohndrücker, sondern auch an dem Stück Korrektur, das im Kombinat Schwarze Pumpe spielt. Doch bereits damals rangiert Heiner Müllers Name als Autor obenan:

Unter Mitarbeit von Inge Müller

Das Ideal komplementärer Zusammenarbeit zeigt seine ersten Risse, die die Freunde nicht erkennen und die Inge Müller nicht erkennen will. Noch findet sie sich in Heiner Müller vor, so ausschließlich, daß sie ihr lyrisches Talent, das mit Kindergedichten, 1957 in der neuen deutschen literatur veröffentlicht, sichtbar wird, in den Hintergrund stellt zugunsten der gemeinsamen dramatischen Arbeiten. Die Ausformung ihrer beider Leben ist Schreiben. Da gibt sie ab, aber nicht er, wird sie feststellen.
Kurz vor seinem Tode sagt mir Heiner Müller:

Sie hatte den Ehrgeiz, in dieser Literatur zu wohnen, wie man selbst zusammenwohnte.

Das aber wollte der Dramatiker Müller letztlich nicht. Diejenigen Freunde, die von Brecht herkommen, halten sich auch an dessen Auffassung vom geistigen Urheberrecht. Es zählt nicht. Alles ist nur Material zur freien Verfügung – für die Männer.
Inge und Heiner Müller sind gemeinsam unterwegs, zu Recherchen für die Stücke, bei der Realisierung auf der Bühne. Doch was die Dichterfreunde hinzieht zu den beiden, auch noch all die Jahre nach 1959, als die Müllers umziehen nach Berlin in eine Wohnung am Kissingenplatz, ist mehr als das nächtelange Diskutieren über Literatur, es ist die Literatur als Leben. Es ist die Liebe als Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen. Es ist auch ein Haschen nach Wind fürs eigene Lebenssegel.
Es ist die erotische Ausstrahlung Inge Müllers. Von den männlichen Besuchern noch heute kein Wort darüber. Als Frau drang in den Kreis bei den Müllers nur Christa Tragelehn, frisch verheiratet, ein. Ihr Blick:

Alle lagen Inge zu Füßen.

Brigitte Soubeyran sagt:

Inge muß eine Königin in diesem Kreis gewesen sein.

Sie erlebt sie bei sich und Biermann, bei Freunden – nur wenige Male:

Trotzdem hat mich die Erinnerung an sie nie losgelassen. Sie war eine Frau, von der eine geheimnisvolle Kraft ausging und zugleich etwas sehr Schmerzliches.

Hinter der Pappfassade
Ein Nichts das wächst
Aus Allerwelt Kraft
Leben aus Möglichkeiten
Endlich Leben
Jedes für sich und nicht mehr auszugeben:
Die Wahrheit leise und unerträglich.

Ihr Schlafvertrauen zum Nächsten bröckelt. Der Bruch der Symbiose beginnt bereits in Lehnitz. Der Bruch als erneute Todeserfahrung. Ich sterbe, weil du nicht ganz bei mir bist. Der Todeskampf der Inge Müller beginnt, als die Außenstehenden lange noch nichts sehen. Das Eine als Antlitz dem Einen:

Kein Feuer kein Gott wir selber
Legen uns ins Grab…

Inge Müllers Liebe kennt keine Moral der Mäßigung oder des Verzichts. Sie lebt nun in der Hoffnung, man könne den Schmerz überspringen.
Die 32jährige nimmt sich den sechzehnjährigen Bruder Heiner Müllers. Der ist in den Ferien zu Besuch aus Reutlingen in Lehnitz. Wolfgang Müller bricht seine Gymnasialausbildung ab und bleibt in der DDR. Sein Leben wird aus der Bahn geworfen. Er wird sich durchschlagen als Landarbeiter, Schiffsmaschinist auf den Binnengewässern, als Kranführer, bis er sich findet als Schriftsteller mit seinen Flußgeschichten, die 1974 erscheinen und auch zwei Jahre später in der alten Bundesrepublik gedruckt werden.
Wolfgang Müller, Jahrgang 1941, wohnhaft in Schöneiche am Rande Berlins, wohin er die Mutter für die letzten Lebensjahre holte, bringt das Verzweifelte dieser Dreierbeziehung auf den Punkt:

Sie hat sich wohl gedacht, wenn man diese beiden Brüder zusammenklappen könnte, dann wäre das genau das Richtige.

Wolfgang Müller erlebt, wie Inge Müller an der Arbeit mit seinem Bruder beteiligt und zugleich ausgegrenzt ist:

Einer drückte dem anderen den Stempel auf. Und das war Heiner, als Inge anfing, in seine ureigene Welt einzutauchen, als sie anfing, Dramatik zu schreiben.

Drei Jahrzehnte nach ihrem Tod weiß Wolfgang Müller:

Inge hat mit ihren Texten nicht gespielt. Heiner hat mit ihnen gespielt. Sie wollte die Welt verbessern. Sie wollte es bis zum Ende. Ihr Verlangen nach dem guten Menschen hatte etwas Zwanghaftes. Ihm konnte keiner genügen. So fühlte sie sich mehr und mehr verraten.

In ihren Gedichten zeichnet sie diesen Verrat nach:

Weil ich euch freund sein wollte
Einfach so
Stellt ihr mich an den Pranger
Mitte des Dorfs: Teich und der Anger
Ich wollte wir warn nicht so.
Den Teich trinke ich aus
Verstreu die Entengrütze
Laß die Enten fliegen.
Hinterm Anger-Ginster
Wo die Pärchen liegen
Grab ich die Liebe aus.

Wolfgang Müller sagt über seinen Bruder:

Heiner war illusionslos genug, die Welt nicht zu verändern.

Doch der Weg in die Illusionslosigkeit ist ein Prozeß, der bei Heiner Müller offensichtlich zum Abschluß kommt, als ihm 1961 mit dem Stück Die Umsiedlerin der Prozeß gemacht wird – nach der Uraufführung auf der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Das Stück über die Zwangskollektivierung in der DDR, gespielt kurz nach Beginn des Baus der Berliner Mauer während der Ostberliner Theaterwochen, wird abgesetzt. Das Müller-Stück und seine Inszenierung durch Tragelehn sind ein Skandal für das Regime – nur noch vergleichbar mit der Protestresolution der Schriftsteller 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.
Tragelehn wird aus der SED ausgeschlossen und zur „Bewährung“, wie es das Regime nennt, in den Braunkohletagebau Klettwitz arbeitsverpflichtet. Inge Müller schreibt den Text des Stückes noch in der Nacht nach der Aufführung ab, bevor das Original beschlagnahmt wird. Von allen, die an der Inszenierung beteiligt sind, werden die Exemplare eingesammelt.
Was damals in der Schriftstellerverbandssitzung geschah, auf der Heiner Müller ausgeschlossen wurde und es keine Gegenstimme gab, wissen wir erst heute. Alfred Kurella verlangte von Inge Müller, sich von ihrem Mann zu trennen:

Sie sind doch eine Künstlerin, und das ist doch, wie soll ich sagen, Abschaum.

Die berühmte Anna Seghers schwieg. Inge Müllers ruhige Antwort:

Ich bleibe bei meinem Mann.

Man muß diese Geschichte kennen, um zu ahnen, wo die Ursachen für Heiner Müllers Weg in den Zynismus liegen. Tragelehn spricht noch heute vom „säuischen“ Verhalten der Autoren damals:

Da meinten ja nicht wenige, bereits tapfer zu sein, wenn sie sich bei der Abstimmung auf die Toilette verzogen.

Noch in seiner Autobiographie bezeichnet Heiner Müller die Umsiedlerin als sein „liebstes Stück“:

Die Geschichte hat am meisten Stoff; sie ist auch am frischesten. Es ist ja immer so, am Anfang gibt es eine Unschuld in den Texten, die du nicht wiederfindest.

Die Unschuld in den Texten am Anfang: merkwürdig, sie ist da, solange Inge Müller mit dabei ist. Nach den Beobachtungen von Wolfgang Müller ist der Stoff zur Umsiedlerin von Bruder und Schwägerin gemeinsam erarbeitet worden, ohne daß Inge Müller auch nur als Mitarbeiterin genannt wird. Nach der Wende bekennt Heiner Müller in einem Gespräch mit Uwe Wittstock in der Neuen Rundschau:

Ich habe gerade bei den frühen Stücken immer mehr geschrieben, als ich wußte, und anderes, als ich wollte.

Vielleicht ist dies der Anteil Inge Müllers an jenen Stücken. Die Streichung von Inge Müllers Namen aus dem Titel der ersten beiden Theaterstücke nach deren Tod sieht Heiner Müller kurz vor seinem eigenen Tod als einen Mangel an Souveränität. Und er sagt:

Ich war ganz unbarmherzig in meinen Urteilen gegenüber dem, was nicht nur Inge schrieb. Auch arrogant natürlich, wenn man sich selbst unter Wert verkauft fühlt. Das hat sie wohl sehr verletzt. Anfangs habe ich das gar nicht mitgekriegt. Sie hat mir jahrelang nichts mehr gezeigt. Die Gedichte sind absolut ihre Sache gewesen. Das war so eine Höhle, in die sie sich vor mir zurückgezogen hat.

Gelernt hab ich
Was hab ich gelernt
Was nicht paßt wird entfernt
Was entfernt wird paßt

Ich bitte mich zu entfernen…

So reagiert Inge Müller, und ihre Liebe kennt keine Distanz. „Wollen wir einander aufessen“, fragt der Dramatiker Heiner Müller, „damit die Sache ein Ende hat…“ Bei Inge Müller heißt es:

Wenn ich mich niederlege
Geh über mich hinweg.

Da kommt der schwarze Wagen
Das Pferd, das geht im Schritt
Und wer allein nicht laufen kann
Den nimmt der Wagen mit.

Heiner Müllers Bruder Wolfgang sagt:

Inge hat nicht nur ernst gemeint, sie hat auch ernst gemacht.

… Wo sind eure Stimmen? Kein Echo? Schon
ist alles leer, ich find nicht was ich hab
Und geh und wasche für morgen
Die Teetassen ab.

„Sie war getrimmt auf die Kleinigkeiten des Lebens von Jugend an“, erinnert sich Wolfgang Müller.

Wenn sie abwusch nach dem Essen – und es mußte sofort abgewaschen werden –, dann wischte sie jedesmal danach den Fußboden in der Küche. Sie konnte kochen, was wir nicht kannten. Und sie kochte gut. Das hat uns beiden Sachsenlümmeln aus der Wohnküche mächtig imponiert. Undenkbar, daß sie aus dem Haus ging mit einem losen Knopf am Kleid.

Wolfgang Müller sah in Lehnitz fasziniert, wie Inge Müller locker Konversation zu machen verstand, beispielsweise mit Peter Hacks, dem „Mann mit den geschliffenen Manieren und der Fähigkeit, druckreif zu reden“. Wolfgang Müller sagt:

Ich sehe Heiner am selben Tisch und nicht so sehr sein literarisches Werk. Ich weiß, daß er immer sehr unsicher gewesen ist, dieser kleine gehauene Sozijunge. Es gärte und schwärte. Aber bis Heiner etwas sagt, dauert es lange. Und dann trug er es auf Papier aus. Immer ist bei ihm ein Rest von Minderwertigkeitsgefühl, was ihn in unnötige Taktiken trieb.

Des Bruders Beobachtung:

Heiner kann dem anderen nicht in die Augen gucken. Wenn er angeschaut wird, rutscht sein Blick weg. Inge guckte in die Augen, war offen und ehrlich, machte, was sie dachte. Aber wenn es ums Schreiben ging, dann langte er Inge in eine Seite rein, nahm sich, was er brauchte. Das gab Probleme, wenn sie sagte: „Ich bin auch einer, genauso wichtig wie du.“ Sie fühlte sich untergebuttert, schloß sich in ihr Zimmer ein, spielte Akkordeon und schrieb.

Inge Müllers Sohn Bernd hat es Jahrzehnte abgelehnt, über seine Mutter zu sprechen:

Ich könnte es noch heute nicht, wenn ich nicht eine Therapie gemacht hätte. Da ist so vieles durch Heiner verkorkst worden. Aber das ist keine Schuldzuweisung. Schön war der Anfang zu dritt. Aber sehr schnell habe ich Heiner immer nur als Kopfmensch empfunden. Er war unnahbar, selbst dann noch, wenn er charmierte. Da war nie viel Wärme. Inge hatte soviel Phantasie von innen heraus. Mir hat meine Mutter ihre Gedichte vorgelesen. Mit dem Akkordeon spielte sie Lieder an, und dann improvisierte sie. Ihr Lebensgefühl war meines.

Bernd Müller erinnert sich an die abendlichen Zusammenkünfte mit den Künstlerfreunden:

Wenn sie das heulende Elend hatten, kamen sie zu Inge. Zum Diskutieren kamen sie zu Heiner. Ich hatte das Gefühl, sie dachten: Er ist nicht so sehr Mensch, aber wir können von ihm profitieren. Wenn es spät wurde, blieben drei. Irgend jemand weinte immer am Schluß, ob es Hacks war oder Tragelehn. Für sie war Inge zuständig.

Wenn die Freunde kamen, wurde getrunken. „Irgendwann trank Inge heimlich. In Abständen, die kürzer wurden“, sagt der Sohn.

Wenn sie dann getrunken hatte, war das wie ein Aufschrei. Den ganzen Schmerz lebte sie im Alkohol aus. Bereits in Lehnitz begannen ihre Selbstmordversuche. Ein wesentlicher Grund war Heiner. Sie hat ja in seinem Schatten gelebt, als Stütze, nicht als gleichberechtigter Partner. Sie konnte ihren Mann stehen. Sie war praktisch, sehr hilfsbereit und sorgte für den Unterhalt.

Und Heiner Müller?

Immer wenn es kritisch wurde, war er weg. Ein Fluchtmensch. Irgendwie ist Inge beim Arbeitstempo Heiners zurückgeblieben. Sie hätte nun seiner Stütze bedurft. Aber da war nichts.

Heiner Müllers Wahrheit über das langsame Ende seiner Frau sieht anders aus. In seiner Autobiographie schreibt er:

Acht Jahre vergingen mit Selbstmordversuchen. Ich habe ihr den Arm abgebunden, wenn sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, und den Arzt gerufen, sie vom Strick abgeschnitten, ihr das Thermometer aus dem Mund genommen, wenn sie das Quecksilber schlucken wollte, und so weiter. Es war eine schwierige Zeit, ohne Geld, mit Schulden. Sie litt ungeheuer unter solchen Dingen. Mir machte es nichts aus, asozial zu sein, aber für sie war es das Ende. Sie war sehr preußisch erzogen…

Die schwierige Zeit ohne Geld war die Zeit nach dem Desaster mit der Umsiedlerin, in der Berliner Wohnung, in der auch Bernd wohnt. „Butter war rationiert, Fleisch war rationiert. Alles die Folge der Kollektivierung in der Landwirtschaft“, erinnert sich Wolfgang Müller.

Die beiden lebten vom Nichts. Es gab für sie keine Aufträge. Die beiden wurden gemieden wie die Pest. Auch die meisten Freunde waren weg. Nur Tragelehn half, wo er konnte, schleppte von Klettwitz Braunkohle heran, brachte sie im Rucksack zu Heiner und Inge. Paul Dessau und Ruth Berghaus wagten es zu kommen. Und wenn sie gingen, lag unter den Büchern ein großer Schein.

Und Wolfgang Müller selbst, als Binnenschiffer von der Kontingentierung der Lebensmittel verschont, brachte Essen herbei.
Zwei Jahre dauert die „Quarantäne“. 1963 darf von Heiner Müller in der Zeitschrift Forum erstmals wieder etwas gedruckt werden: das „Winterschlacht“-Gedicht. 1965 erscheint Philoktet in Sinn und Form. Inge Müller wird beauftragt, mit der Nachdichtung des Schauspiels Unterweg von Viktor Rosow, die in der Inszenierung des Deutschen Theaters Erfolg hat und als Gastspiel nach Frankfurt/Main geht. Mit dem Stück Bau gerät Heiner Müller erneut ins Visier der Funktionäre, wird 1965 auf dem II. Plenum des SED-Zentralkomitees kritisiert. Doch zum Hauptfeind wird auf dem Plenum Wolf Biermann mit seinen Gedichten und Liedern.
Ein Jahr nach dem Tod Inge Müllers hat Heiner Müller es geschafft. Er wird zum Lieblingskind der Theaterkritiker in der alten Bundesrepublik. Am Bochumer Schauspielhaus wird sein Ödipus Rex aufgeführt. Er wird bald mehr im Westen denn im Osten gespielt. Er siegt als Zyniker mit verstörend zerstörender Dramatik, seinem Staat treu verbunden. Eine Verbundenheit, die er nach der Wende in die Worte faßt:

Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel. Das Einverständnis mit dem Terror gehört zur Beschreibung.

Im Sinne des patriarchalischen Realitätsprinzips erweist sich Heiner Müller klüger als seine Frau. Er panzert sich so, daß er fast nie mehr an sich herankommen wird. Sie befreit sich von dem Wertverdrehungssystem des Dramatikers, seiner brachialen Sprachgewalt, dem Gaukelspiel der Lüge als Kunst der Ehrlichkeit, dem brechtoiden Verhalten, Wahrheit aus der Unwahrheit zu gewinnen.
Es ist eine Befreiung, die auf Rettung aus ist. Inge Müllers Gedichte entstehen in ihren letzten sieben Lebensjahren. Heiner Müller flieht vor solch einer Befreiung, und ihre Gedichte wissen, daß er der Tragik ihres gemeinsamen Lebens nicht entkommen wird. Die Lyrikerin geht von Selbstmordversuch zu Selbstmordversuch. Den Kern der Conditio humana nur noch findend, wenn der Stoffwechsel stockt. Jede Rückkehr aus dem Selbstmordversuch erweist sich als Niederlage:

Ohne Boden kann ich nicht stehn.
Nur singen.
Oben irgendwo ganz unten.

Sie schreibt:

Es wurde gefragt: Habt ihr ein Herz
Sie hatten keins
Habt ihr ein Hirn
Sie hatten keins
Habt ihr vergessen
Ja, sagten sie…

Inge Müllers Hilferufe decken die ganze Welt als verkehrt auf, auch die, an die sie anfangs in der DDR geglaubt hat. Bitter formuliert sie:

Einmal kommt
Von uns gesandt
Der vorgeahnte
Mensch
Protzt ihr
Die ihr uns
Ins Straßenpflaster stampft
.

In ihrer Lyrik fragt Inge Müller:

Wer ist der Jäger, wer ist die Beute?

Heiner Müller ist kein Jäger, aber er ist ein Bewunderer der Jäger geworden. Sie weiß:

Der Verlierer braucht den Sieg.

Heiner Müller siegt über seine Kindheit, siegt über seinen Vater, der Mut vor 1945 und Klarsicht nach 1945 hatte. So erfolglos wie sein Vater wollte er nicht werden. Sein Beispiel ist so abschreckend wie das Beispiel seiner Frau.
Inge Müller bleibt auf der Seite der „Versager“, die „Ausgetreten ganz aus sind / Die im Aus anfangen“, die das Anfängliche verteidigen:

Wo ist einer, einer so
Der leben macht, was ihm zu tot ist
Und leben anders will.

Inge Müller sieht sich dem Grab konfrontiert, aus dem sie 1945 auferstanden ist. Sie lebt wort-getreu. Ihre Offenheit bleibt die ekstatische Erfahrung aus dem Schutt und der Asche aller Ordnung.
Sören Kierkegaards Erkenntnis drängt sich auf: Die Wahrheit wird immer ans Kreuz geschlagen. Wer sie nicht in sich tötet, wird Opfer. Die späteren Stücke Heiner Müllers sind gar nicht so weit vom Standpunkt Kierkegaards entfernt. Doch Heiner Müller folgt ihm nur in das „Tagebuch eines Verführers“, dem Hohenlied der ästhetischen, nach Kierkegaard amoralischen Lebensweise. In dem 1980 entstandenen Stück Quartett, dem Hohenlied erotischer Beutekunst, ist Inge Müllers Tod gerechtfertigt, wenn Heiner Müller seinen Verführer Valmont sprechen läßt:

Ich will Ihr Blut befreien aus dem Gefängnis der Adern, das Eingeweide aus dem Zwang des Leibs, die Knochen aus dem Würgegriff des Fleisches… Ich will den Engel, der in Ihnen wohnt, entlassen in die Einsamkeit der Sterne.

Als Tote bleibt Inge Müller dem Dramatiker unvergessen:

Die Beute hat Gewalt über den Jäger.

Bei Inge Müller klingt das so:

Ja, hättest du das eine Mal
Mich nicht so ganz vergessen
Hätt ich vielleicht statt solcher Qual
Und statt der blinden Augen
Hand Kopf Herz in den Wind gestellt
Zu sehn ob sie was taugen.
Das eine Mal das andre Mal
Ich hab es wohl verwunden
Der Wind zählt Haar und Blatt
Wir leben und zählen die Stunden.
Und wenn ich dich einst wiederseh
Ich seh dich sicher wieder
Sitz ich, ein Vogel, überm Wald
Und sing dir meine Lieder
Von allen Bäumen singts wie ich:
Da sind wir wieder.

Inge Müller wehrt sich gegen eine Gegenwart, die keine Ursprünglichkeit mehr besitzt, in der die Ursprünglichkeit nichts als eine Redensart ist, in der der Ursprünglichkeit hinterlistig deren Bedeutung entwunden worden ist. Heiner Müller spielt mit den Abgründen des Lebens, über die er sich erhoben hat. So kann er in der Lehre des Systems der Heuchler bleiben. Inge Müller bleibt in den Abgründen der Existenz, in der Existenzmitteilung, die dem Leser ihrer Gedichte kein Ausweichen lassen, die ihn physisch angreifen, strangulieren, sofern er nur auf den Höhenflug seiner Seele aus ist.

Die Unauffälligen
Die stolperten weil sie den Weg sahn
Die stotterten weil sie die Sprache verstanden
Die fielen weil sie aufstanden
Gegen die Kälte
Mit Selbstsucht
Sie machen sich nichts vor
Wenn kein Wort mehr hilft
Finden sie ein neues
Im Sterben

Planen sie das Leben.

Inge Müller ist keine Heilige. Aber sie bleibt in ihrer Wahrheit, sich immer wieder auszugraben aus der Steinigung, die das Leben bedeutet. Sie will nicht vergessen, Fern aller Feminismen zeigt Inge Müller das Gleichheitspostulat als eine Illusion, das nicht einmal im Tode aufrechtzuerhalten ist:

In den Gaskammern
Erdacht von Männern
Die alte Hierarchie
Am Boden Kinder
Die Frauen drauf
Und oben sie
Die starken Männer:
Freiheit und democracy.
Ein Blick von einer Macht zur
anderen Macht.
Von einer Nacht in die andere
Nacht…

So beginnt Inge Müllers Gedicht „Europa“ – der Kampf der Stärkeren gegen die Schwachen. Noch in den Gaskammern trampelten die Männer Kinder und Frauen nieder, standen sie auf ihnen, um sich dem Tode zu entziehen. Die alte Hierarchie.
In einem solchen Gedicht steckt kein Traum mehr von einer besseren Welt. Und doch: Um der tödlichen Hinfälligkeit entgegenzuwirken, unterwirft Inge Müller ihre Sprache einer ungeheuren Wiederbelebung:

Die Nacht sie hat Pantoffeln an
Aus Tierhaut und aus Gold
Im Stiefelschritt marschiert der Tag
Der unsere Nacht einholt

Wenn morgens früh im Dämmerlicht
Der Star vom Dachrand schreit
Bleibt dein Gedicht und mein Gedicht
Wir und die Nacht sind weit.

Die Zeit, in der Inge Müller lebt, hat das Wissen angehäuft wie nie zuvor. Aber die Leidenschaft, die mit dem Wissen wenig und dem Erkennen alles zu tun hat, hat diese Zeit verloren. Inge Müllers Leidenschaft, diese alte Leidenschaft, die sie in den Gedichten weitergibt, führt in die Schwermut. Ihrer Leidenschaft wird Krankheitscharakter zugewiesen. Das beruhigt die Verdränger.
Heiner Müller schickt seine Frau zum Psychiater, einem Jugendfreund, der mit der Heuchelei des SED-Systems selbst nicht zurechtkommt und sich nach dem Tod Inge Müllers das Leben nimmt. Der appellative Charakter ihrer Selbstmordversuche bleibt unübersehbar:

Wenn ich schon sterben muß
Will ich noch einmal
Mit euch durch den Wald gehn
Und vorbei am See in Lehnitz oder
Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn:
Himmel
Berge
Meer
Arbeiter und Landstreicher
Äcker und Großbauplätze
Städte am Morgen und bei Nacht
Den alten Chinesen, der das ABC lernt und das
Schreiben
An der Hand seines Enkels;
Vom Flugzeug aus sehn: die Haut der Welt…
Da werd ich viel zu glücklich sein…
Zum Sterben.

Der einzige, der damals in panischer Angst lebt, ist Inge Müllers Sohn Bernd. Einer, der ihr nicht helfen kann, weil er sich mit seiner zerstückelten Biographie selbst nicht zu helfen weiß. „Für mich lebt sie, wie ich sie während meiner Armeezeit im Urlaub sah, als ich sie mit meiner Freundin besuchte“, sagt er und kramt aus einem alten Koffer zwischen Gedichtmanuskripten, Fotos, Briefen ein Telegramm Heiner Müllers vom 2. Juni 1966 hervor:

Blitz Soldat Bernd Müller Johanngeorgenstadt Blitz Berlin Lieber Bernd Mutti ist plötzlich verstorben. Ich warte auf Dich Vati.

„Ich hab’ sie nicht mehr gesehen“, sagt Bernd Müller.

Ich hatte Angst, sie zu sehen als Tote.

Auch seinen erfolgreichen Adoptivvater Heiner Müller hat er die letzten zwei Jahrzehnte nicht mehr gesehen:

Ich hab’ versucht, Kontakt herzustellen. Nach meiner Heirat, als ich Vater geworden bin. Ich hab’ ihn aufgesucht mit dem Kind. Einmal und nie wieder. Ich hab’ das Gefühl gehabt, mein Besuch war ihm lästig.

Heiner Müller hat den Adoptivsohn nie aufgesucht. Der schlug sich durch als Bühnenarbeiter, Schauspieler, Regieassistent. Seit zehn Jahren ist er Holzschnitzer.
Bernd Müller erinnert sich an seine Angst vor den Selbstmordversuchen seiner Mutter:

Ich rannte von der Schule nach Hause. Sie hat den ganzen Tag gearbeitet, zurückgezogen in ihrem Zimmer. Mein ewiger Gedanke: Hat sie getrunken oder nicht? Es gab fast sichere Anzeichen dafür, daß etwas passierte. Wenn sie stundenlang Akkordeon gespielt hatte und es dann still wurde. Ich hab’ gelauscht, auch wenn die Balkontür aufging oder das Fenster. Ich bin rein und hab’ mich angeklammert wie ein Verrückter, wenn sie zu springen versuchte.

Oft war Wolfgang Müller als Lebensretter in der Nähe. „In Lehnitz waren es die Pulsadern, die sie sich aufschnitt“, sagt er.

In Pankow war es der Gasherd in der Küche. Wenn du zum vierten Mal das Blut aufgewischt hast, wenn du zum vierten Mal den Kopf aus dem Gasherd gezogen hast, kommst du an den Punkt, wo du zu dir sagst: Wenn sie es doch endlich schaffen würde. Irgendwann, wenn es wieder soweit ist, und man wußte das ja inzwischen, irgendwann sagt man sich: Bleib weg.

Brigitte Soubeyran, inzwischen von Biermann getrennt, als sie im Februar 1966 zu einem Abend bei Hans Bunge, dem Leiter des Brecht-Archivs geht, begegnet dort zum letzten Mal Inge Müller:

Der Bunge führte in seiner großen Wohnung einen literarischen Salon, in dem sich Ost und West trafen, Enzensberger und Peter Weiss, Hacks und Hermlin. Wer kam, brachte seine Frau oder Freundin mit. Inge Müller kam allein wie ich. Es wurden Unmengen von Rotwein getrunken und unmäßig geraucht, auch klug geredet. Es war letztlich doch das Gegockel von Hähnen, um die sich alles gruppierte. Es ödete mich an. Ich ging in die Küche, wo die Mäntel gestapelt waren, um zu verschwinden. Dort traf ich Inge. Sie war betrunken. Mit dem Sprechen ging es nicht. Aber sonst war ihr nichts anzumerken. Was sollen wir hier eigentlich, sagten wir uns, suchten nach unseren Mänteln. Sie lächelte mich an. Es war fast eine Zärtlichkeit da. Und etwas Trauriges, das uns verband für einen Augenblick. In der Notbeleuchtung gingen wir den Treppenflur hinunter. Hinter einer Bogenlampe verschwand sie im Dunkel. Ich spürte, sie war viel unglücklicher als ich. Nach dem Selbstmord machte ich mir Vorwürfe: Hättest du nicht helfen können?

B.K. Tragelehn erinnert sich an die letzte Lebensphase Inge Müllers so:

Sie wurde aggressiv gegen alle, nicht nur gegenüber Heiner, den sie mit Vorwürfen überschüttete. Sie fing an, Manuskripte zu zerreißen. Manchmal kam Heiner und schlief bei uns. Sie rief nachts an, schimpfte, weinte oder sagte am Telefon kein einziges Wort.

Karl Mickel berichtet, wie er nächtens Heiner und Inge Müller, die mit ihren Problemen zu ihm kamen, „hinausgeschmissen“ hat. In der Nacht zum 1. Juni 1966 ruft Inge Müller Hans Bunge an, der bereits mehrmals nach solchen Hilfeschreien zu ihr gefahren ist. Diesmal fährt er nicht. Diesmal stirbt sie – im Gas.
Heiner Müller sagt über die Todesnacht:

Eigentlich wollte ich schnell nach Hause, aber auf dem S-Bahnhof treffe ich Adolf Dresen, und der redete und redete. Dann hab‘ ich eine S-Bahn nach der anderen verpaßt, und als ich viel später kam als erwartet, war es zu spät. Ich fand sie tot.

Und was sagt Inge Müller?

Das war Liebe
Als ich zu dir kam
Weil ich mußte
Das war Liebe als ich von dir ging
Weil ich wußte.
Die alte Scham ist falsche Scham.

Da half kein Gott und kein Danebenstehn

Und ich ging. Und da war nichts getan
Ich sah mich und dich
Und sah die andern an
Und es reichte noch nicht

Da half kein Auseinandergehn.

In Heiner Müllers Prosastück „Todesanzeige“, das 1975 unter dem Titel „Wüsten der Liebe“ im Literaturmagazin des Rowohlt-Verlags erschien, heißt es:

Sie lag in der Küche auf dem Steinboden, halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, ein Bein angewinkelt wie im Schlaf, der Kopf in der Nähe der Tür. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, daß ich Theater spielte. Ich sah mich an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt, halb belustigt einem Mann zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinboden hockte, über seine vielleicht bewußtlose, vielleicht tote Frau gebeugt, ihren Kopf mit den Händen hochhielt und mit ihr sprach wie mit einer Puppe für kein andres Publikum als mich…

„Ich werde mit ihrem Tod nicht fertig“, sagte Heiner Müller zu dem Schriftsteller Harald Gerlach.

Eigentlich müßte ich mich zehnmal umbringen. Statt dessen stilisiere ich mich. Es ist mein Mechanismus, mit ihrem Tod umzugehen.

Wolf Biermann erinnert sich an das „Idealpaar“ von einst:

Solche aufstrebenden Dummköpfe wie ich besuchten damals eben den Mann, den Heiner, den fertigen Dichter. Man wußte womöglich, daß neben Müller diese Zuarbeiterin da auch schreibt oder gelegentlich geschrieben hat, Gedichte, ja… Mich hat dieser weibliche Schatten im Müllerschen Mondlicht nicht groß geblendet. Brecht war meine Sonne. Wir ahmten seine Heiligkeit nach…

Im Rückblick auf jene Zeit formuliert er in seinem Buch Klartexte, Getümmel:

Wir wollten die Menschheit retten und hatten nicht die Puste für unsere Nächsten. Dabei wurstelten wir damals alle, auch Heiner, am Rande der DDR-Gesellschaft. Aber wir fühlten uns als das Zentrum des Randes. Aber Inge, die Frau des Großen Dichters, war am Rande des Randes. Inge Müller war immer am Rand. Und daß sie 1966 übern Rand kippte, blieb – leider – auch am Rande unseres Interesses. Jetzt kommt das dicke Ende nach. Inge Müllers Gedichte.

Diese Gedichte gehören zur Höhenlinie deutschsprachiger Lyrik, die von Else Lasker-Schüler über Ingeborg Bachmann bis zu Sarah Kirsch reicht. Wenn Sarah Kirsch das Bild vom Bethlehem-Stern und nach dem Verlassen der DDR das vom „Stern aus Papier“ benutzt, um dann zu schreiben: „Uns gehört der Rest des Fadens…“, dann weiß sie vom Anfänglichen – unbedingt. Ihr Sprung „auf das letzte fahrende Schiff im September“, um dem „Festland“ zu entkommen, ist eine Metapher der Gefährdung, in der der Tod lebendig ist.
Bei Ingeborg Bachmann ist es der „Austritt“ aus der Gesellschaft in den „anderen Zustand“, an dem sie zugrunde geht. Inge Müllers Ich grenzt an das Ich von Ingeborg Bachmann. Ingeborg Bachmanns „anderer Zustand“ der Liebe soll die „Gegenzeit“ begründen, soll die immer wieder mit neuen ideologischen „Redensarten“ erbauten Kulissen, in denen wir leben und die wir für die Wirklichkeit ausgeben, niederreißen. Als leidenschaftlich Liebende hat Ingeborg Bachmann alles auf eine Karte gesetzt:

… Versprechen für unkündbar erklärt
angehimmelt ein Etwas und fromm gewesen vor einem Nichts…

Und:

Nicht dich habe ich verloren
sondern die Welt.

Peter von Matt schreibt in seinem Buch Liebesverrat:

Undine kommt. Hans verrät seine Menschenfrau. Er verrät seine Ordnung. Er folgt der Wasserfrau. Liebe geschieht. Und Hans verrät die Wasserfrau. Er verrät die Undine-Liebe. Er tritt zurück in seine Ordnung. Undine geht.

In Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ geht das Liebesdilemma der Inge Müller auf:

Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit dem Namen Hans… Ihr mit euren Musen und Tragtieren und euren gelehrten, verständigen Gefährtinnen, die ihr zum Reden zulaßt… Verräter! Wenn euch nichts mehr half, dann half die Schmähung. Dann wußtet ihr plötzlich, was euch an mir verdächtig war…

Am Ende Ingeborg Bachmanns die Fragestellung:

Wer bin ich, woher komme ich, was ist mit mir, was habe ich zu suchen in dieser Wüste…?

Genauso hat Inge Müller am Ende empfunden.

Am Anfang Inge Müllers Kinderreim:

Der Apfelbaum da steht er
hoch ist er drei, vier Meter.
Hans sitzt oben drauf.
Hans paß auf –
Fall nicht in den Himmel!

Am Ende die Feststellung:

Ich nicht ihr habt mich aufgegeben
Pauschal und objektiv…

An Heiner Müller die Frage:

Wer entzündete heimlich den Scheiterhaufen
Als Dido Reisig trug, den Liebsten, den Sohn
Der Venus zu wärmen mit ihrem Leib?
Wer stieß Sappho, daß sie im Meer versank? Du redest nicht davon.

Immer noch Sehnsucht, wo sie keine Hoffnung mehr sieht:

Ich möchte dir deine Ketten abnehmen;
Wer kann das. Ich weiß
Ich bin dumm; aber ich liebe dich
Und ich liebe dich nicht um jeden Preis.

Inge Müller ist am Ende ihrer Leidensfähigkeit:

Und wie das Kind vom Regenbogen
Bin ich um alles betrogen…
Die Länder eh sie noch genannt sind
werden bebaut, besetzt und sind vertan…
Setz Fuß vor Fuß ins Leere nebenan
So das Nichts fest unter den Füßen…

Heiner Müller ruft sie zu:

Du zitterst vor Eigenliebe, Narziß

Ich bin nicht dein Vorwurf. Vielleicht
Mein eigener und dein Spiegel manchmal
Ich werfe mir vor, was dich quält ganz umsonst
(Einen Sohn hab ich geboren, einen Baum gepflanzt
Und sie aufgezogen: den Nachtrag hat Konfutse vergessen;)
Wir leben nicht weise, denn wir verbrennen
Der Weisheit Schluß und erkennen nichts und
Uns selbst nicht mehr, wenn wir schweigen.
Ich wünschte, ich könnt dich zum Reden bringen.

Heiner Müller redet im Juni 1995, dem Todesmonat seiner Frau Inge. Er hat eine schwere Krebsoperation überstanden, und er weiß, daß er bald sterben wird. Um nicht an seiner Schwäche zu zerbrechen, hat er den Kult der Stärke auf die Bühne gebracht. Stalin und Hitler als Teufelswerk, Odium des Bösen. Inge Müller hat in ihrer Lyrik auf die Leichenwörter deutscher Geschichte ohne die Verschanzungen Heiner Müllers geantwortet. Nun ist auch er ohne Verschanzung. Nun huscht er nicht mehr über die gemeinsame Zeit mit Inge Müller hinweg, wie er es noch 1992 in seiner Autobiographie tat. „Ich hatte die Erfahrung, daß Inge nie einen Selbstmordversuch gemacht hat, wenn ich nicht zu Hause war“, sagt er.

An dem Tag, an dem das passierte, war ich am Nachmittag im Deutschen Theater und hab’ zum erstenmal gefragt, ob sie mir nicht eine Wohnung besorgen können oder ein Zimmer, wo ich in Ruhe arbeiten kann, weil es zu Hause nicht mehr ging.

Rechnet man sich an, daß man die Liebesbettlerin Inge Müller nicht erkannt hat?

Ja, das muß man schon sagen.

Bohrt diese Geschichte in einem ewig?

Ich denk’ schon. Nur bin ich ein guter Verdränger. Das kommt dann in die Literatur.

Von einer Frau so geliebt zu werden, heißt das, wir Männer bringen uns immer rechtzeitig in Sicherheit?

Ja, sicher.

Hält man ein solches Gefühl nicht aus?

Ich weiß nicht. Ich bin da Anhänger Goethes, nicht über mich nachzudenken.

Koketterie?

Nein. Das ist nicht kokett. Es ist etwas anderes, wenn ich schreibe. Das ist die eigentliche Existenz.

Daß die Katastrophe seiner Beziehung mit diesen Worten zwar offen, aber nur vordergründig erklärt wird, zeigt sein spätes Gedicht über Inge Müller:

Gestern habe ich angefangen
Dich zu töten mein Herz
Jetzt liebe ich
Deinen Leichnam
Wenn ich tot bin
Wird mein Staub nach dir schrein.

„Sie hat eine kleistische Vorstellung von der Liebe gehabt“, sagt Heiner Müller.

Sie war die Penthesilea.

„Ich habe immer versucht, Vergangenes zu vergessen, vergangen sein zu lassen“, sagt er. „Sonst hätte ich nicht überlebt.“ Daß er von seinem Adoptivsohn Bernd nach dem Tode Inge Müllers nichts mehr habe wissen wollen, „ist leider richtig“. Daß er von seinem tapferen sozialdemokratischen Vater, der in den Westen ging, nichts mehr wissen wollte und dessen Widerstand gegen die Nazis mit einem bösen Text desavouierte, ist ihm nun unerträglich.

Vatermord?

Ja, es war ein richtiger Vatermord.

So sehen Sie es heute?

Ja, ja.

So würden Sie Ihren Vater heute nicht mehr beschreiben?

Nein.

Der Vater hat Ihnen doch alles vorgelebt, was Widerstand ist?

Ja, ich habe ihn einfach zu einer Schachfigur gemacht. Dieser Text ist also geschrieben im Kostüm von Stalin.

Zum Abschied sagt Heiner Müller:

Ich würde mich ja eher als Romantiker sehen, nicht als Zyniker.

Heiner Müller ist bei Brecht, Heinrich Mann und der Seghers auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt. „Mich haben Gräber nie interessiert. Mein eigenes würde mich auch nicht interesssieren. Für Inges Grab muß ich etwas machen“, höre ich ihn noch sprechen. Brigitte Maria Mayer, die letzte Frau des Dramatikers, hat es für ihn getan. Im Ehrenhain des Friedhofs Pankow III ließ sie zum dreißigsten Todestag Inge Müllers einen von ihr gestifteten Gedenkstein aufstellen, geschaffen von demselben Künstler, der auch die Stele für Heiner Müllers Grab schuf. Die Stele für Inge Müller durfte nicht an der wirklichen Grabesstelle stehen. Inge Müller erfüllt nicht die Berliner Kriterien, die ihr ein Ehrengrab einräumen würden. Seit 1996 gibt es wieder eine Ausgabe der Werke Inge Müllers auf dem Buchmarkt: Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn, erschienen im Aufbau-Verlag, Berlin. Damit endet vorläufig eine völlig mißglückte Rezeptionsgeschichte. Unmittelbar nach Inge Müllers Tod am 1. Juni 1966 bereitete der Aufbau-Verlag einen Band ihrer Gedichte vor, der nicht erscheinen durfte. Ein Jahrzehnt später setzte Bernd Jentzsch als Herausgeber der populären Reihe Poesiealbum die Veröffentlichung von 37 Gedichten durch. In den biographischen Angaben durfte der Selbstmord der Dichterin nicht erwähnt werden. Der Fortschrittsoptimismus der DDR duldete keine Selbstmörder. Erst 1985 durfte der Aufbau-Verlag auf seine alte Ausgabe zurückgreifen und sie, vermehrt um dreißig Texte, herausbringen. Das Interesse war gering.
Als sich aber 1986 der damals 23jährige Torsten Heyme, heute Mitarbeiter an einem Modellversuch der Bundesregierung für obdachlose Kinder in Berlin, als Autodidakt, versehen mit einer Videokamera von Katja Havemann, auf den Weg machte, das Leben der Inge Müller in einem Film zu dokumentieren, und die Zeitzeugen befragte, wurde seine Wohnung aufgebrochen, wurde er zusammengeschlagen. Die Frau von B.K. Tragelehn versteckte das Material bei sich. Es wurde ein faszinierendes Filmdokument von sechs Stunden Länge, aus dem Heyme eine zweistündige Fassung herstellte. Auch die wollte zum siebzigsten Geburtstag Inge Müllers niemand im Fernsehen senden.
Und in der alten Bundesrepublik? 1986 erschien bei Luchterhand in Lizenz die Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag. Sie wurde verramscht. Auch eine Auswahl von dreißig Gedichten Inge Müllers, zusammen mit dem Versuch einer Annäherung von Blanche Kommerell, im Gießener Kleinverlag Edition Literarischer Salon erschienen, wurde kaum wahrgenommen.

Ich schrieb und schrieb
Das Grün ins Gras
Mein Weinen
Machte die Erde nicht naß
Mein Lachen
Hat keinen Toten geweckt.
In jeder Haut hab ich gesteckt.
Jetzt werd ich nicht mehr schrein –
Daß ich nicht ersticke am Leisesein!

Jürgen Serke, aus Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR, Piper Verlag, 1998

Ich habe kein Land außer einem – Inge Müller

Der eine nannte Ingeborg Bachmann „Altspätzin“, ein anderer sie „Mädchen aus der Provinz“, der Dritte hieß sie „Eichbaum, Wildente, Pastellmädchen, Puppella“. Ging es um ihre Stimme, war sie „die erleuchtete Bachstelze, Undinchen, cumäische Sibylle“ oder auch „mein Vögelchen, mein Goldenes“. Dabei spielte es fast keine Rolle, dass das „Vögelchen“ anfangs gar keine Stimme hatte. Am Anfang fiel sie schlichtweg aus und die elfenhaft Verstotterte regelmäßig in Ohnmacht. So 1952, als Ingeborg Bachmann einige ihrer Gedichte vor der Gruppe 47 las. Ein Jahr später bereits gewann sie deren Preis, und zwar „flüsternd, stockend, heiser, die Gedichte weinend“. Als das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Sommer 1954 die Titelgeschichte mit ihr brachte, wurde die 28-Jährige mit einem Schlag zum „Stern am deutschen Poetenhimmel“, was die Bachmann-Legenden auf Monroe-Niveau steigerte. Von nun an war sie die mythisch überhöhte, deren Augenlider unentwegt klapperten, die nervöse Elevin, die zu gegebener Zeit fahrig gekonnt ihre Taschentücher fallen ließ, die hilflose Märchenprinzessin aus Kärnten, die sich stöhnend über Hotelteppiche rollte, weil es ihr schier unmöglich war, vors Publikum zu treten. Hatte sie es irgendwann bis zu einer Bühne geschafft, blieb am Ende dennoch dieses eigenartige Zittern vor der Welt.
Die Kunst kennt Ohrabschneider, Stirnaufschlitzer, aber was ist eigentlich mit den Zitterern? Bei denen es irgendwo anfängt, dann bebt, zuckt, schauert. Was eigentlich, warum? Ingeborg Bachmann nannte das einen „Zustand“, den man sich nicht erfindet. Andere erfanden sich Bilder, um sie beliebig in sie hineinzuschieben: eine junge Österreicherin, Ende zwanzig, die sich auf die Bühne tastete, minutenlang die Manuskripte hin und her schob, sich verhaspelte, jene unerhört dringliche Pause machte, noch bevor überhaupt etwas begonnen hatte. Doch dann plötzlich ihre Stimme: luzide, eigentümlich entfernt, ein bisschen wie aus dem Körper gekippt, schließlich hart attackierend, mit Versen, die ausdauernd von „dunklen Schatten“, der „Kraft des Übels“, dem „Vogel, der das Herz ausraubt“ berichteten.
Als sich Ingeborg Bachmann ins literarische Rampenlicht des Nachkriegsdeutschlands stellte, war sie keine Anfängerin. Das zur vielleicht hartnäckigsten medialen Verkennung ihrer Person. Jung, schön und schuldlos, wie sie war und sein sollte, musste natürlich auch ihr Zittern grundlos sein, obgleich es in Wien bereits die Intensivbegegnungen mit Paul Celan und Ilse Aichinger gegeben hatte, in einer Stadt, in der nach Kriegsende Opfer und Täter dicht gedrängt nebeneinandersaßen. „Auf welche Weise sich wirklich ein Mensch verändert hatte und vernichtet weiterlebte“, fragte sie seitdem und konnte nicht mehr über diesen Satz hinwegschreiben. Er war ihr Grund. Von ihm kam Bachmanns Unausweichlichkeit, ihre Sprache, ihr viel erörterter „ Umzug im Kopf“ von der Lyrik zur Prosa. Sie nannte das „Erbschaften ihrer Zeit“, deren Wucht sie schlottern machte und für die sie jede seichte Antwort ausschlug. Die zunehmenden Vorbehalte gegen die eigenen Metaphern und das poetisch Zikadenhafte ließen Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt im Ton rutschen, bis auch ihre Stimme mäanderte, irgendwann im Dreck rollte: erdig, versoffen, verraucht, verlebt. Sie nannte das „Wiederkehr des Verdrängten“, die den ästhetischen Bruch in ihrem Schreiben unausweichlich machte. Irgendwann war die Form dafür da und die Kraft für ein „kostbares zweites Leben“, die „Neue Schönheit“, die „Freude, mit einem hellen Ton gedacht“. Dabei war sie sich durchaus im Klaren darüber, dass „Wunder nicht immer gleich wirken“. Ingeborg Bachmann hatte ein frühes und ein spätes Zittern. Zwischen beiden gab es in erster Linie Schreiben, Arbeit, Leben, Glück, Leid, Reflektion. Der Grund für das zweite Zittern war, „dass jedes Verfehlen eine versäumte Rettung, jedes Verkennen von Geist in einem ähnlichen Geist die Todtraurigkeit befördert“.
Das akustische Nachleben, die phonographische Literaturgeschichte einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen ist mittlerweile überaus präzise dokumentiert. Die Bachmann-Gemeinde weiß um jedes Zertrümmern der „akustischen Maske“, um Echoräume, Geheimnisse und Mythen, Sternstunden und Ausfälle der großen Rhapsodin. Aber wie steht es eigentlich um die Stimmen von Edeltraud Eckert, Susanne Kerckhoff, Ursula Adam? Oder wie hat die Ostberliner Dichterin Inge Müller ihre Gedichte gesprochen? Tonlos unaufgeregt wie Heiner Müller, der Mann ihr gegenüber? Auf frühe oder späte Art zitternd wie die Bachmann? Metallisch genau wie Christa Reinig? Oder schnoddrig berlinernd wie Adolf Endler? Befragt man Freunde und Verwandte nach ihrer Stimme, reagieren sie konsterniert. Es sei ja so viel Zeit dazwischen, heißt es, und ihre Stimme sei ja nun wirklich nicht das, was von ihr im Gedächtnis bleiben würde. Begibt man sich in die Archive, um Aufnahmen von ihrer Stimme zu suchen, sieht das Ergebnis ähnlich mager aus. Zwar wird man in der Berliner Akademie der Künste fündig – dort liegt ein Band mit der Aufschrift Inge Müller –, doch von ihrer Stimme keine Spur. Außer ein paar atmosphärischen Kratzern, bei denen der Eindruck entsteht, jemand wolle im nächsten Moment an ein Mikrofon treten, gibt das Band nichts her. Inge Müllers Stimme bleibt imaginär. Sie ist nicht da, nicht zu vergegenwärtigen, eine Illusion.
Das Nichtvorhandene schmerzt, bietet aber wenigstens den Vorteil der Projektion: Man kann sich eine dunkelhaarige, schmale Frau um die vierzig in der großen Lyrikwelle Anfang der sechziger Jahre in Ostberlin vorstellen, wie sie ihre Manuskripte ordnet und noch einmal Gedicht für Gedicht prüft – jene seltsam synkopierten, klaglos schönen Gebilde –, bevor sie ans Mikrofon tritt. Wie hätte sie sich präsentiert? Erregt und spontan? Virtuos und auf die innersten Akkorde ihrer Verse aus? Oder eher bloß und kunstlos? Hätte die Stimme genug Substanz gehabt, um ihr Werk zu verstärken? Dichtung ist denkwürdige Stimme. Gesetzt den Fall also, es gibt eine genetische Beziehung zwischen der charakteristischen Tonlage, Modulation, Rhythmik, Textur einer physischen Dichterstimme und der dazugehörigen Schreibstimme, dem Stil also, dann müsste Inge Müllers Poesie auf eine Detonation folgen, kämen Stimme und Stil aus einem Loch, dem Schutt, aus dem Inferno.
1925 als Ingeborg Meyer am Berliner Ostkreuz geboren, gehörte sie zu Hitlers exemplarischem Aufgebot: Acht Jahre war sie, als er an die Macht kam, 14 Jahre, als der Krieg begann, 18 Jahre, als sie in diesen Krieg einbefohlen wurde. Am 8. Januar 1945 erhielt Ingeborg Meyer den Stellungsbefehl der Wehrmacht als Kraftwagenfahrerin und Luftwaffenhelferin. Die erste Station – Küstrin, 100 Kilometer östlich vor Berlin. Eisige Temperaturen, Nächte an der Flak, Tote über Tote, abgerissene Körperteile im Schnee. Wer an den Geschützen stand, lernte die Ballistik der Angst. Mitte April kam die Abberufung der Batterie 253 nach Berlin, für die große Schlacht um die Reichshauptstadt. Zunächst im Norden Berlins stationiert, schlug sich ihr Tross über Pankow zum Prenzlauer Berg durch. Tagsüber schlugen Granaten und Geschosse ein, feuerte ununterbrochen russische oder deutsche Artillerie, nachts rollten die Panzer vor und zurück. In der Nacht vom 29. zum 30. April, als Ingeborg Meyer losgeschickt wurde, um für die Truppe Wasser zu holen, sackte ein durch Bomben beschädigtes Haus in der Schwedter Straße in einem Rutsch in sich zusammen. Die Zwanzigjährige wurde verschüttet, lag zusammen mit einem Hund drei Tage und drei Nächte in einem Hohlraum, unter Bergen von Kalk, Asche, Steinen. Der eingesackte Krieg, gerutscht auf den kleinsten Nenner, ihren reglosen Körper. Sie überlebte. Doch der tote Winkel unter dem Haus von Berlin, der umgefallene Himmel, wurde zu ihrem privaten Point of no Return. Marina Zwetajewa hätte die spätere Dichterin Inge Müller eine „Dichterin mit Geschichte“ genannt, für die „das Gesetz der fortschreitenden Selbstentdeckung“ galt.

SOMMER 45

Küsse im Roggenfeld kurz und heiß wie
Nächte im Juli und kein Erinnern mehr.
Vergessen im Mohnrot. Der Himmel ein Stein.
Kühl streicht der Wind im Kreis. Morgen
Schneidet ein Bauer mit schartiger Sense die
Ernte vom Halm.

Im Juni 1945 traf sie Kurt Loose wieder, den sie während ihrer Flakausbildungszeit in Brandenburg kennengelernt hatte. Mit ihm holte sie sich nach dem Trümmer-Trauma ihr Lachen zurück, lief sie durch die hohen Sommerfelder hinter der Stadt. Der Postbote Loose wurde ihr Vertrauter, Geliebter, Gefährte. Im November 1945 heirateten sie auf dem Standesamt Friedrichsfelde. Er trug den einzigen Sonntagsanzug ihres Vaters, sie das umgeschneiderte Wollstoffkostüm der Mutter. Schmucklose Zeiten. Berlin hungerte und fror. Einer der kältesten Winter stand bevor. Ingeborg Loose sah man nun bei der Organisation der Kinderspeisung in Friedrichsfelde, bei der Seuchenbekämpfung, beim Verteilen von Metallfolien als Scheibenersatz, beim Besorgen von Brennstoffen, beim Sammeln warmer Kleider, beim Enttrümmern, bei der Altenbetreuung. Wenn sie irgendwann in der Nacht nach Hause kam, hockte ihr Mann am Küchentisch und knurrte. Da kam etwas nicht zusammen.
Die Ehen der Nachkriegsjahre waren anfällig, die Scheidungsraten hoch. Unterschiedliche Kriegserfahrungen waren das eine, die neue Mobilität speziell von Frauen in der SBZ das andere. Hatte Hitler die Frauen für Tisch und Bett gedacht, waren diese nun dabei, Heim und Herd zu verlassen, und bauten emphatisch mit am neuen Kollektiv. Sie brauchten Männer, die lediglich Halt gaben. Doch die waren noch von anderem absorbiert und lebten ihre Kriegsniederlage. Verlieren findet nicht im Kollektiv statt. Vom „Trauerbogen zwischen den Geschlechtern“ sprach Ingeborg Bachmann und meinte damit das Gebrochene in den privaten Beziehungen des Nachkriegs. Am Ende des bitterkalten Winters 1946, in zunehmender Distanz und Enttäuschung des Paares, wurde Ingeborg Loose schwanger und lernte einen neuen Mann kennen: Herbert Schwenkner.
Der 18 Jahre ältere, in Berlin geborene Schwenkner kam aus der kommunistischen Politarbeit und gehörte – kampferprobt und parteitreu – zum Nomenklaturkader der KPD im unmittelbaren Nachkrieg. Er startete im Lichtenberger Volksbildungsamt, wurde Leiter der Abteilung Volkskunst beim Magistrat Berlin, bis man ihn zum Geschäftsführer von Circus Busch machte, einem in jenen Jahren überaus gut bestallten Unternehmen. Herbert Schwenkner band Ingeborg Loose, die im Dezember 1946 ihren Sohn Bernd zur Welt brachte, in die Lichtenberger Kulturarbeit ein. Zusammen organisierten sie Tanzabende, betreuten vier Kinos, musizierten in einer Kapelle, die auch in Krankenhäusern und Gefängnissen auftrat. Sie war eine passionierte Akkordeonspielerin.
Im Oktober 1947 wurde die Ehe Loose geschieden. Drei Monate später stand Ingeborg Meyer erneut vor dem Standesamt, diesmal in edlem Zwirn: beiger Samt, freier Rücken. Als Circus Busch im Frühjahr 1948 auf Tournee ging, fuhr in einem Wohnwagen auch Familie Schwenkner mit. Sie mochte das Vagabundieren. Durch den Krieg war sie nonkonforme Gemeinschaften gewohnt, was den Zugang zu den Zirkusleuten zu etwas Selbstverständlichem machte. Doch die exzentrische Zirkus-Zeit stand unter dem Zeichen einer veränderten politischen Großwetterlage: Der Austritt der Sowjets aus dem Alliierten Kontrollrat im Frühjahr 1948 sowie die sich anschließende Spaltung von Berlin mit der Einführung von zwei Währungen und zwei Stadtverwaltungen verringerten auch die Möglichkeiten für die Kultur in der SBZ. Hinter vorgehaltener Hand sprachen die Busch-Leute von Enteignung. Ob es um Brandschutz ging, die Abnahme eines neuen Programms, um Papierkontingente oder Futterrationen – der Druck auf private Erfolgsunternehmen, wie es Busch oder etwa Barlay zu dem Zeitpunkt waren, erhöhte sich auf exponentielle Weise. Wie das Ganze auszugehen hatte, war voraussehbar.
Herbert Schwenkner jedoch war schon wieder auf eine neue kulturelle Großbaustelle beordert worden. Ab August 1949 wurde er kaufmännischer Direktor des Ostberliner Friedrichstadtpalastes. Ein nächstes Erfolgshaus im Sinne des populären Vergnügens, und schon deshalb war auch hier scharfe Frontbegradigung angesagt. Die Bezirksleitung der SED verlangte mehr Einfluss auf die Programmentwicklung, mehr Zugriff auf die überdurchschnittlich gut gehenden Bilanzen und eine veränderte Kaderpolitik. Schwenkner agierte. Längst hatte er sich bei Exklusivaufträgen seiner Partei einen Namen gemacht. Aber auch im Sinne der Karriere seiner jungen Frau zeigte er Umsicht und verschaffte ihr den ersten Schreibauftrag: den Text für eine Kinderrevue, die im Dezember 1950 im Friedrichstadtpalast zur Uraufführung kam. Eine gewisse Noblesse, Berliner Kulturleben, Geld, sein Kommunismus, ein Auto: Ingeborg Schwenkner hatte sich ganz passabel eingerichtet unter der Kulturelite des Ostens. Was sie in Zeitungen veröffentlichen konnte, wurde durch die Vermittlung des Mannes neben ihr möglich. Im Herbst 1951 packte die SED ein weiteres Privileg drauf: Die drei Schwenkners zogen in ein Haus mit acht großen Zimmern in der Waldsiedlung Lehnitz nahe Oranienburg, in der seit 1948 auch Friedrich Wolf mit seiner Familie lebte.
Als Wolf, der ruhelose Propagandist für das „Projekt DDR“, im Herbst 1953 in Lehnitz starb, hatte das fragile Unternehmen Ostdeutschland seine bisher schwerste Krise zu überstehen. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 – in Schwenkners Haus wurde für die gemeinsame Trauer eine mit rotem Samt ausgelegte Stalin-Ecke eingerichtet – wurde in Moskau auch die Deutschlandfrage neu diskutiert. Trotz widersprüchlichster Dokumentenlage dürfte eindeutig sein, dass die Sowjets eine Preisgabe der DDR intensiv erörterten und sogar Überlegungen für eine gesamtdeutsche Übergangsregierung anstellten. Dass es nicht dazu kam, gehört bereits ins Vorfeld des 17. Juni 1953: unhaltbare Preise für rationierte Lebensmittel, verordnete Erhöhungen der Arbeitsnormen, forcierte Gründungen von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, drastisch angezogene Steuern, Maßregelungen von Mitgliedern der Evangelischen Jungen Gemeinde, Massenentlassungen bei Lehrern, Verbot von Reformschulen und des Religionsunterrichts sowie rasant anwachsende Fluchtzahlen – im ersten Quartal des Jahres 1953 verließen 320.000 Ostdeutsche das Land Richtung Westen – ließen die Stimmung im Land eskalieren. Die SED-Regierung nannte es „Neuen Kurs“ und stand mit ihrer abenteuerlichen Politik dreieinhalb Jahre nach ihrer Machtübernahme vor dem Aus.
Vom 17. Juni 1953 – der Wut der Arbeiter, dem Aufmarsch der Panzer, dem Niederknüppeln der Streiks und Demonstrationen im ganzen Land – schien in der Lehnitzer Idylle nicht sonderlich viel anzukommen. Ingeborg Schwenkner arbeitete in Oranienburg, im Rat des Kreises, traf sich in der Lehnitzer Parteiortsgruppe, lag am See oder auf der Wiese hinterm Haus. Ansonsten hielt sie im Oktober 1953 ihren ersten Buchvertrag in der Hand. Unter dem Titel Micha Ungestüm sollten beim Berliner Kinderbuchverlag gleich mehrere Fortsetzungsbände entstehen, was vor allem ein Ausdruck ihrer realen Veröffentlichungsmöglichkeiten gewesen sein dürfte. Denn das Neue Leben brauchte gezielt auch neue Literatur für Kinder. Doch ein wirkliches Faible entwickelte sie für dieses Genre nie, was sicher nicht der einzige Grund war, warum sich ihre Texte für Kinder lesen, als gäbe es von vornherein ein verordnetes Plansoll zu erfüllen. Die Story ist schon gewusst, die sozialistischen Kinder sind schon vor Augen, noch bevor sie ihre Konflikte überhaupt entdecken konnten. Immer der kranke Mitschüler, der alte Mensch, immer Wünsche und Entbehrungen von Kindern, Alten, Schrulligen im notdürftigen Nachkrieg. Im Grunde typische Texte einer aliterarischen Zeit, in der der Wille zur Veränderung die desaströse Wirklichkeit zu bestimmen suchte.
Neben diesen Gebrauchstexten entstanden zu der Zeit auch frühe Versionen des in ihr lagernden Kriegsstoffes, vereinzelte Texte wie „Der Bunker“ oder „Marschlied 45“. Doch das kreative Instrumentarium war noch nicht da, das Problem der Form noch nicht gelöst, um die eigene Härtesubstanz künstlerisch transponieren zu können. Und so begann Ingeborg Schwenkners Schreibstimme hölzern steril, im Muster der gängigsten Realismusdoktrin der frühen fünfziger Jahre. Im Grunde war sie gar nicht da, sondern ins Fundament des Neuen Menschen einbetoniert. Ein Interregnum, ein Schutz, aber auch eine Abwehr und Flucht. Diese schizoide Schreibsituation trifft in dieser Zeit auf die Mehrheit junger Autoren im Osten zu, die, als Arbeitsdienstler durch den Nationalsozialismus indoktriniert, sich zunächst für die Idee DDR widerspruchslos in den Dienst nehmen ließen. Die Zeit des Stalinismus war die Zeit der hoffenden Lobgesänge und des Terrors. Beides war beherrschend genug, um jeden noch so vorsichtigen Versuch zu überlagern, das Totalitäre in sich selbst zu befragen. Das Fehlen öffentlicher Erinnerung an die Traumata der Arbeitsdienstler-Generation und ihre Kriegerfahrungen bedingte Ingeborg Schwenkners stockenden, ja qualvollen Weg hin zu ihrem Erfahrungsstoff. Im Nachhinein sieht es so aus, als hätte die Dichterin Tonscholle um Tonscholle abtragen müssen, um sich dem Epizentrum ihres historischen Traumas schreibend nähern zu können. Als sie Mitte der fünfziger Jahre dahin unterwegs war, begann sie mit dem Lied, dem Kinderreim, dem direkten Versatem, mit etwas, das den Körper tragen kann und ihn klingen lässt. Ist Literatur, ist Dichtung das „Wiedereinsetzen von Kultur in sich“, dürften diese universalen Spielformen der Poesie ihr Neuanfang gewesen sein. An ihnen konnte sie sich entlanghangeln, mit ihnen kam sie stolpernd über den Abgrund.
Im Frühherbst 1953 tagte die Berliner Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren, eine Nachfolgerin der in Thüringen zu Grabe getragenen Gruppe 47 Ost, in der Friedrichstraße 169 im Gebäude des Schriftstellerverbandes. Unter den 21 Teilnehmern waren Henryk Bereska, Gerhard Bensch, Karl-Heinz Jacobs, Heinz Kahlau und auch Heiner Müller. Eine der drei Autorinnen der Gruppe war Ingeborg Schwenkner. „Der eigentliche Anfang unsrer Beziehung war, dass wir in eine Kneipe in der Zetkinstraße gingen“, so Heiner Müller Anfang der neunziger Jahre in seiner Autobiografie über die erste Begegnung der beiden. In der Kneipe will er vor allem ihre offene, grüne, gestreifte Bluse gesehen haben. Jedenfalls erwachte bei ihm, wie er später angab, durch jene Bluse hindurch schlagartig seine „proletarische Gier auf die obersten Zehntausend“. Die knapp Dreißigjährige dürfte die Blicke des Schreibers aus der sächsischen Provinz ebenfalls wahrgenommen haben. Heiner Müller, vier Jahre jünger als Ingeborg Schwenkner, war zu dem Zeitpunkt nicht gerade in einer Lebenssituation, die man als gesichert bezeichnet hätte. Ohne Aufenthaltsgenehmigung für Berlin lebte er illegal im Osten der Stadt, darauf bauend, dass ihn irgendjemand in die von ihm erhofften Literaturkreise vermittelte. Das stellte sich nicht gerade als selbstverständlich heraus. „Ich hatte zu tun, nicht zu verhungern“, sagte Heiner Müller über seinen prekären Anfang.
Ingeborg Schwenkner lebte mit Mann, Sohn Bernd, Hund und vier Katzen fernab in der wohlgesicherten märkischen Idylle. Das Haus hatte Telefon, was immerhin möglich machte, sich mit dem Berliner Outlaw zu verabreden. Ihre Liebe schien unumgänglich, und sie war groß, denn bereits ein halbes Jahr später, im April 1954, zog der neue Mann ins Haus am See ein. Ab da lebten sie, Sohn Bernd und der dichtende Geliebte in drei Räumen im ersten Stock. Ehemann Herbert Schwenkner verblieb der tonlose Rückzug ins Parterre. Heiner Müller bekam ein Arbeitszimmer, sie schrieb meist im Bett. Er hieß bei ihr Pepe, sie wurde von ihm Tuppa genannt.

DUETT FÜR TUPPA UND PEPE

T       Schlaf, Pepe, unter der grünen Decke
aaaaIn deinem Vogelhaus
aaaaWenn die Sterne sich hinter der Sonne verstecken
aaaaLass ich dich wieder heraus.

P       Schlaf, Tuppa, unter der weißen Decke
aaaaUnd träume vom grünen Wald
aaa Der dirigiert den großen Vogelchor
aaaaWir singen so laut, dass es schallt.

Schlaflieder, Schutzlieder, viel offenbar befreiender Schall. Tuppa und Pepe im Duett. Der gemeinsame Gesang des Künstlerpaares auch als Präfiguration der neuen Gesellschaft. Aus den Schreibentwürfen der Anfangszeit ist herauslesbar, wie bewusst beider Wunsch nach künstlerischer Einheit Gestalt annahm. Als entstünden ihre Ideen und Texte in einem einzigen Echoraum, wurde gefragt, gestritten, bestätigt, geklärt, begutachtet, ausgestrichen. „Die Assoziationsreihen sind ohne Struktur“, meinte er. „Der Rhythmus kommt aus dem Leben, nicht umgekehrt“, forderte sie. Sie schrieben in getrennten Räumen, aber meist bei offenen Türen. Die Korrekturen wurden zwischendurch an die Familienwandzeitung im Flur gepinnt. Am Abend musste sowieso noch einmal darüber gesprochen werden. So entstand im Dialogprinzip, was für beide gleichermaßen zur Schreibmethode wurde: der Text in Permanenz, als ein unabschließbarer Prozess.
Am 14. Juli 1954 wurde die Ehe mit Herbert Schwenkner in Oranienburg geschieden und am 4. Juni 1955 am selben Ort erneut geheiratet. Ingeborg Schwenkner hieß nun Inge Müller. Schneller als angenommen, geriet jedoch das anfängliche Gleichheitspostulat des Dichterduos in Schieflage. Heiner Müller kündigte das gemeinsame Credo und schrieb sich mit aller Energie aus der dialogisch begonnenen Lyrik heraus. Ihn drängte es nach anderem, er wollte in die Schlacht, in die Textschlacht. Die durch den Tod von Bertolt Brecht im August 1956 vakant gewordene Stelle als Verkünder des „echten radikalen, epischen Theaters“ sollte von ihm so schnell wie möglich beerbt werden. Was er wollte und brauchte, waren Aufträge für Hörspiele, Kurzprosa und für die dramatische Form.
Im Februar 1956 hatte Nikolai Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU in seiner legendären Geheimrede Stalins Verbrechen offengelegt und damit eine Korrektur seiner Politik eingeläutet. An den Kiosken in Westberlin war diese Rede rasch zu haben. In Ostberlin wurde sie verschwiegen, was nur dazu führte, dass die ungeheuerlichen Offenbarungen aus Moskau umso mehr Thema wurden und Anfang 1957 auf einer Delegiertenkonferenz des Schriftstellerverbandes debattiert werden mussten. Das Wort vom politischen Tauwetter ging um. Wolf Biermann sprach von den „verfluchten vier Jahren der geschichtlichen Interferenz zwischen Sowjetunion und DDR“ und meinte damit die Jahre zwischen 1956 und 1960. Das grausame Ende des Ungarn-Aufstands im Herbst 1956, der Harich-Janka-Prozeß 1957 und eine massive Verhaftungswelle, auch jüngerer Autoren, setzten klare Zeichen, wie es in der DDR weitergehen würde – von Liberalisierung keine Spur. Die SED startete „ihre ideologische Offensive“ und begann eine intellektuelle Eiszeit, in der alles, was unter dem Begriff „bürgerliche Dekadenz“ und „Revisionismus“ Platz fand, auf Heftigste attackiert wurde.
Über Inge und Heiner Müller waren sich Kulturfunktionäre wie Staatssicherheit von Anbeginn im Klaren: „Beide werden allgemein als äußerst talentiert bezeichnet“, hieß es in verschiedenen Auskunftsberichten des Geheimdienstes. Was nicht verhinderte, ihnen umso mehr zu misstrauen. Ein Ermittlungsbericht der Kreisdienststelle Oranienburg vom Februar 1957 gab Auskunft, dass die Müllers am Wohnort schlecht beleumundet seien. Sie gingen „vor allem sehr westlich gekleidet, worüber sich die Einwohner empörten“. Außerdem sei „die politische Einstellung des Müller“ negativ. Außerdem betätigten sie sich nicht gesellschaftlich. Außerdem fahre die Ehefrau oft in den Westen.
Sie sahen nicht so aus, wie sie auszusehen hatten, fuhren da hin, wo man nicht mehr hinzufahren hatte, betätigten sich nicht, wo man sich doch allseits zu betätigen hatte. Vor allem Schriftsteller und Künstler mussten in jenen Jahren für den begonnenen Kampf des Staates gegen die eigenen Chimären herhalten. Das von den Kommunisten ausgerufene Gelobte Land schien weit weg, jedenfalls viel weiter als anfangs angenommen. Die Macht reagierte nervös. Eine Zeit unsichtbarer Vorgänge gegen Abtrünnige oder solche, die es werden sollten. „Kämpfe im Dunkeln“ nannte das Heiner Müller.
Sommer 1957. Von Radio DDR erhielt Heiner Müller den Auftrag, ein „Hörspiel über die Produktion“ zu schreiben, und bestand vor der Redaktion darauf, Inge Müller als Co-Autorin einzusetzen. Obgleich der gemeinsame literarische Wille in der Lyrik preisgegeben worden war, für Hörspiel und Theaterarbeit war sie für ihn vonnöten. Bestückt mit einem Blankoscheck der Bauleitung konnten Inge und Heiner Müller überall auf der Großbaustelle Schwarze Pumpe, dem sogenannten Braunkohle-Koks-Kombinat Hoyerswerda bei Cottbus, einem gigantischen Renommierobjekt des Landes, recherchieren. Das seit knapp zwei Jahren bestehende Experimentierland: gelbverblichene Baracken, Fundamente, die nur nachts unter grellem Licht ausgehoben wurden, Reißbrettschienen, Bodenrutsche, Lausitzer Spreegurken, die Galerie der Besten. Die unterschiedlichsten Typen von Männern, von überall her, in Baumwollhemden, mit dem Schweiß von drei Wochen. Ihre endlosen Geschichten vom Krieg und von den Frauen, die sie gern besessen hätten. Mittenmang die Weiberbrigade – Arbeiterinnen, mit kehligen Stimmen. Das Gelände, eine Art „waste land“ des Ostens, im Grunde eine einzige riesige Furche, durch die unentwegt Bulldozer donnerten. Inge und Heiner Müller wohnten mit den Arbeitern in den Baracken, machten tagsüber ihre Interviews, frühstückten mit allen und saßen abends zusammen beim Deputatschnaps.
1958, in Heft 5 der Literaturzeitschrift neue deutsche literatur, erschien beinah ein Jahr nach der Recherche auf der Baustelle der „Bericht vom Aufbau des Kombinats Schwarze Pumpe 1957“ unter beider Namen. Die Redaktion der Zeitschrift verwies in einer Vorbemerkung vorsichtshalber darauf, dass für den Text ausdrücklich die Autoren verantwortlich zeichneten. Nicht ohne Grund. Dem Text stand massive Kritik bevor, da er sorgfältig gehütete DDR-Tabus ungeschönt zur Sprache brachte: Nazi-Vergangenheiten, bei denen es sich plötzlich um „neue“ Funktionäre handelte, die tatsächliche Lebens- und Arbeitssituation der „Werktätigen“ sowie die Geschlechterfrage inmitten der vermeintlichen „Revolution“. Kritik an der „Korrektur“ kam von allen Seiten. Ein inszeniertes Tribunal, das sich auf das „fehlende Ineinander von Funktion und Person“ und die „außerordentliche Negativität der Personen“ bezog. Heiner Müller parierte die Attacken in seiner Art und fing das Ganze in einer Korrektur der Korrektur allein auf.

Da habe ich das dann in den Ferien umgearbeitet und auf positiven Vordermann gebracht, ziemlich unsäglich, aber als Dokument ganz interessant.

Inge Müller war für das Frisieren von Texten schon zu dem Zeitpunkt nicht mehr zu haben, handelte es sich immerhin um die erste gemeinsame literarische Arbeit, die gehörig Wind machte. Doch sie hatte auch nicht die Kraft, sich in diesem Konflikt zur öffentlichen Angriffsfläche zu machen. Denn im September 1957 wurde sie ins Berliner Hedwigskrankenhaus eingeliefert. Der Befund war unklar, die Schmerzen unerträglich:

Ich habe Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen! Ich will mich zwingen, gesund zu sein. Das ist eine solche Anstrengung, dass es unmöglich wird, es zu werden. Kann man Schmerzen vergessen? Hängt der Schmerz vom Bewusstsein ab? Mein schlechtes Gedächtnis macht mir immer mehr und ernsthaftere Sorgen. Liegt es an der Krankheit und ist also zu heilen? Oder ist es Schlimmeres?

Schlimmer als die Krankheit? Das Jahr 1957 hatte beiden Aufträge für Rundfunk und Theater gebracht, endlich gab es Termine, die gehalten werden mussten, der Durchbruch war geschafft, die Finanzdramen des Dichter-Paares waren fürs Erste abgewendet, die MüllerMaschine schien zu laufen, mit hohem Einsatz allerdings. Wenn Heiner Müller viel in Berlin unterwegs war und sich neue Auftragsfelder eröffnete, gab sie zu Papier:

Rechnungen unbezahlt; Termine nicht gehalten. Stück Schwarze Pumpe weiter versucht. Hörspiel viel nachgedacht. Heiner verliert immer wieder die Ausdauer. Ist die Darstellung nicht zu einseitig? Was fehlt?

Für den Herbst 1958 hatte das Maxim-Gorki-Theater die Stücke Die Korrektur und Lohndrücker auf den Spielplan gesetzt. Das bedeutete: Proben, Textkorrekturen, lange Nächte. Die Rundfunkdramaturgin Christa Vetter, die soeben Inge und Heiner Müllers Hörspiel Die Brücke fällt aus produzierte, verlangte erneute Überarbeitungen. Doch Inge Müller konnte nicht mehr. Der Druck von außen holte sie in ihr Kriegstrauma zurück und besetzte sie zusehends. „Viele Dinge gehen kaputt ohne Geräusch“, notierte sie und begann ab da mit systematischen Selbstmordversuchen.

DIE LÄNDER EH SIE NOCH GENANNT SIND
Werden bebaut, besetzt und sind vertan
Ich habe kein Land außer einem
Hab keins
Seh keins
Setz Fuß vor Fuß ins Leere nebenan
So das Nichts fest unter den Füßen
Seh ich mein Land von Anfang: groß
Es aufzuheben alle Mühn
Weit alle
Weiter alle.
Und meine Augen
Sehn mich mit euren Augen an.

Am 2. September 1958 feierte das Berliner Maxim-Gorki-Theater die Premiere von Lohndrücker und von Die Korrektur. Inge und Heiner Müller waren für das Stück Die Korrektur als Urheber autorisiert. Beim Lohndrücker wurde Inge Müller als Mitarbeiterin angegeben. Für beide Stücke erhielt das Dichterpaar den Heinrich-Mann-Preis 1959. Der DDR-Rundfunk sendete das Hörspiel Die Brücke fällt aus, ein Nachprodukt von Die Korrektur, erstmals am 22. September 1958. Inge und Heiner Müller zeichneten dafür gleichermaßen verantwortlich. Inge Müllers Tagebücher hielten die Arbeit an Hörspiel und Stück Die Korrektur, an der Bearbeitung „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ wie auch am Hörspiel Die Brücke fällt aus fest. Ihr Nachlass verzeichnet zahlreiche Skizzen für die gemeinsamen frühen Texte, so auch für das Stück Der Lohndrücker. Dieser Text, im Mai-Heft der neuen deutschen literatur 1957 allein unter dem Namen Heiner Müller erschienen, griff auf die hinlänglich bekannte Aktivistengeschichte von Hans Garbe aus dem Lichtenberger VEB Siemens-Plania zurück, in dem Inge Müller im Sommer 1945 Aufbauarbeit geleistet hatte.
Heiner Müller wusste mit Co-Autorschaft oder Mitarbeit von Inge Müller an den gemeinsamen Frühproduktionen für Hörspiel und Theater in eigener Manier umzugehen. Wenn es um seinen Theaterruhm ging, wurde Inge Müller im Sinne der Brecht’schen Materialästhetik, für die der geistige Urheber als vernachlässigbar galt, nach und nach ausradiert. Das ostdeutsche Theater, zu jener Zeit alleinige Bastion von Autoren-Patriarchen, konnte im Sinne dieses rüden Alleinanspruchs die Frau gern als Tippse, als Redakteurin, bestenfalls als Ideengeberin und Materialbeschafferin gebrauchen, zu geistiger Eigenständigkeit für den Hoheraum Theater konnte es nicht reichen. „Die schönen Weiber werden heutzutage mit unter die Talente ihrer Männer gerechnet“, vermerkte Inge Müller diesbezüglich lapidar. In dem einzig bekannt gewordenen Interview mit Inge Müller für die Gewerkschaftszeitung der Bau, das Anfang 1960 erschien, trat der schwelende Konfliktstoff, wenngleich sehr zurückgenommen, zutage:

Über die schriftstellerische Zusammenarbeit, wie sie auch zwischen Heiner Müller und mir besteht, gibt es eigenartige Vorstellungen. Man nimmt bisweilen an, ich sähe das, was Heiner allein geschrieben hat, nur noch einmal durch, um dies und das zu verbessern oder Geringfügiges zu verändern. Dafür betrachtet es dann mein Mann als seine Kavalierspflicht, im Titel auch meinen Namen erscheinen zu lassen. So ist das natürlich nicht. In tage-, ja oft nächtelangen Diskussionen klären wir die aus dem Leben aufgegriffenen Probleme, ihre Gestaltung und den Ablauf der Handlung. Dann kann schließlich ich dort weiterschreiben, wo Heiner aufgehört hat und umgekehrt.

In ihren Notizbüchern fand Inge Müller immerhin zu einem unabgelenkteren Blick auf ihren im Nebenzimmer arbeitenden Ehemann:

Ich zweifle immer mehr an Heiners gutem Willen. Es wirkt sich auch auf seine Arbeit aus: Wie er lebt, so spiegelt es sich im Wort. Vieles flach, Spaß um des Spaßes willen, nachlässig, übertrieben, manchmal unaufrichtig. Er wird es allein durchstehen müssen. Kann ein Genie sein Genie vergeuden? Je mehr ich mich zwinge, Heiner zu glauben, desto klarer sehe ich, dass ich meinen Nichtglauben dadurch nur bestätige. Er macht Worte, wo Taten notwendig sind, Ferien, wo Arbeit dringend ist. Menschen sind für ihn wie Gegenstände, die er in die Hand nimmt, wenn er sie braucht, und irgendwo liegen lässt, wenn er sie nicht braucht. Ich glaube nicht an seine Unfähigkeit, aber ich fürchte seine Selbsterschöpfung. Wenn er es jetzt nicht schafft, wird er immer haltlos treiben.

War hier der Kern umschrieben, der zur letztgültigen Preisgabe des ursprünglich gemeinsamen Schreibexperiments führte? Der zunehmende Verzicht auf moralische Intensität wie Emotionalität des Einzelnen in den Texten Heiner Müllers? Oder wie er selbst in seinen Memoiren festhielt:

Das Auslöschen einer konkreten Wahrnehmung zugunsten einer Idee, in der man sich jetzt ansiedeln will.

Macht, Gewalt und Verrat als Grundfeste seiner Texte? Und sein heiliger Glaube an den unlösbaren Konflikt, der ihn etliche Endspiele der immer gleichen historischen Katastrophe schreiben ließ, doch eine substantielle Verschiebung der Blöcke für unmöglich erklärte? Das darzustellen hatte Heiner Müller als wohl anerkanntester deutscher Dramatiker des 20. Jahrhunderts sarkastisch, assoziationsreich und brillant vermocht. Darin hatte er den theatralischen Nerv seiner Zeit erfasst. Am Ende klagte er anhaltend über das Ausbleiben der großen Stoffe.
Und Inge Müller? „Der Konflikt eskalierte dann wegen Umsiedlerin, auch weil sie da zum ersten Mal völlig ausgeschlossen war“, wusste Heiner Müller. Die Endproben für das Stück waren im August 1961.

Da wurde die Mauer gebaut, und wir waren erleichtert, und wir fanden das richtig und notwendig. Eine ganz neue Möglichkeit zu arbeiten: Die Mauer als Schutz gegen das Ausbluten, und nun konnte man im Land kritisch und realistisch mit allem umgehen.

Diesen Blick auf die historische Chiffre teilte Heiner Müller mit den meisten seiner Künstlerkollegen dieser Zeit im Osten. Für Inge Müller musste das Ereignis allerdings eine andere Bedeutung gehabt haben. Im Nachlass findet sich das Gedicht „Ein Mensch steht an der Mauer“ sowie eine Skizze für die Szene „13. August 1961, um 8 am Tunnel“. Zwischen äußeren und privaten Disputen kommt es in dem Stückentwurf fast beiläufig zum Bau der Mauer. Die dritte Szene betitelt sie lapidar „Die Grenze ist zu“. Inge Müller war Urberlinerin, trug Eingeschlossensein und Abrisse als existenzielle und körperliche Erfahrung in sich. Die Spaltung der Stadt erlebte sie als persönliche Bedrohung und neuerliche Kriegssituation. Ab da fanden ihre Suizidversuche in noch kürzeren Intervallen statt.
Die Umsiedlerin konnte schließlich nach mehreren Probenpausen am 30. September 1961 auf der Karlshorster Studentenbühne Premiere feiern. Doch unmittelbar nach der Aufführung erklärte man das Stück für „konterrevolutionär“. „Zweifellos kann dieses Stück in seiner Anlage die Funktion der Organisierung der Konterrevolution nach sich ziehen, so wie es angelegt ist“, meinte das MfS. Die Sache wurde ernst. Tribunale über Tribunale, vor allem gegen Heiner Müller und den Regisseur B.K. Tragelehn. Berufsverbot, Bewährung in der Produktion, Rausschmiss aus dem Schriftstellerverband, Freunde, die sich abwandten, weil sie dem Druck nicht standhielten, waren die Folge. Ein paar Tage später kam es bei den Müllers zur Hausdurchsuchung. Inge Müller reagierte geistesgegenwärtig. Bereits in der Nacht vorher hatte sie das Stück vorsichtshalber noch einmal abgeschrieben und etliche Manuskripte zur Seite gebracht. Nun ging es um Beistand: Nein, sie würde sich nicht von ihrem Mann trennen, wie die Partei es verlangte. Nein, sie distanzierte sich nicht von dem Stück. Wie käme sie überhaupt dazu? Der Text schien in Sicherheit, sie selber war es nicht. Das vergiftete politische Klima speziell nach dem Mauerbau und der enorme Druck im Zusammenhang mit der Umsiedlerin gefährdeten sie einmal mehr. Vor der Wohnung der Müllers, die mittlerweile nach Pankow gezogen waren, standen immer häufiger Feuerwehrautos oder auch Krankenwagen. Inge Müller hatte erneut den Gashahn aufgedreht.
Doch beschleunigten diese ruinösen Anschläge, der Krieg gegen das Eigene, nicht sogar jene unabdingbaren Häutungen, ja Verwandlungen, die Inge Müllers poetische Substanz letztendlich freilegten?
Sie brauchte eine eigene Sprache, um zu überleben. Weil nur das, was sie an Intensität und Worten entstehen lassen konnte, den Abstand zur eigenen Bedrohung vergrößern konnte. Erweckung der Wahrnehmung mittels Sprache. Einfall in die eigene Vitalsubstanz. Somatische Poesie. Kein Hinwegsprechen über das, was man schreibend als Wirklichkeit zu fassen suchte. Das Zerstoßene, Ausgestrichene, Ausradierte, Gelöschte auf den Blättern in Inge Müllers Nachlass berichten davon. Da wollte eine um jeden Preis raus aus ihrem Kriegspanzer, raus aus dem Einschluss. Als würde jemand die Welt von innen abklopfen, nach Worten, die Bestand haben, nach Rhythmen und Assonanzen, die sie bündeln, nach Signalen, die sie unter Spannung halten. Nach dem Klang des eigenen Daseins, auf der Tonspur der inneren Wahrnehmungsbiografie.

TRÜMMER 45

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch:
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

Schmerz bindet Schönheit an sich. Doch für die Schönheit spielten die Zeiten nicht mit. Als Inge Müller mehr und mehr zu ihren Themen kam – Krieg, Gewalt, Eingeschlossensein, Verlorenheit, Liebe, Freiheit, Kunst –, als der eigene poetische Ton zu halten begann und zunehmend dissonante, eigenwillige Textkörper entstanden, wurde vor ihren Augen die Berliner Mauer gebaut. Wie ihr Sohn Bernd Müller schilderte, war sie seit dieser Zeit der DDR gegenüber völlig desillusioniert. Die Einbindung ins Kollektiv, ins Volkspädagogische der neuen „sozialistischen Nationalliteratur“ würde mit ihr nicht mehr stattfinden, das war sicher. Dennoch verfolgte sie den stattfindenden Prozess der Sondierung innerhalb der Literatenwelt in der DDR sehr genau. Im Nachlass ist etliches an Material abgelegt, das das „Werden der sozialistischen Nationalliteratur“ begleitete, meist versehen mit knappen Notizen. So brachte die Nummer 20 des Sonntag 1963 eine Rezension des zuständigen Redakteurs für Literaturkritik Eduard Zak. Unter der Überschrift „Tragische Erlebnisse in optimistischer Sicht“ mischte er sich in die erregte Debatte um das Buch Der geteilte Himmel von Christa Wolf.

Aus der Reihe der Jungen sind in den Jahren des Aufbaus des Sozialismus viele, sehr verschiedene Talente aufgesprossen; die meisten von ihnen haben gehalten, was sie versprachen, haben mehr oder weniger rasch ihre Art gefunden und gehören heute zum festen Bestandteil der jungen, sozialistischen Nationalliteratur. Das Auftauchen Christa Wolfs als Erzählerin scheint mir jedoch einen besonders prägnanten Punkt in der Entwicklung der sozialistischen Literatur zu bezeichnen. Hier trifft ein kluges Abwarten und Reifenlassen mit den Bildungs- und Aufnahmebedingungen der bereits entfalteten sozialistischen Gesellschaft zusammen. Christa Wolf hatte die Kraft, ihre Erzählung ganz und fraglos in der gegenwärtigen Entwicklungsphase unseres nationalen Problems anzusiedeln. Deutlich und mit großer Entschiedenheit erklärt sie sich für die Maßnahme vom 13. August 1961… In der Erzählung wird die Erkenntnis, jetzt und hier beheimatet zu sein, am Anfang und am Ende mit den gleichen umfassenden und gefühlstiefen Worten zusammengefasst. „Wir gewöhnen uns wieder, ruhig zu schlafen. Wir leben aus dem Vollen, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen“.

Ob Inge Müller wusste, dass das kollektive Schlafen in gewohnter Ruhe Ulbricht-Sätze aus seiner Silvesterrede von 1961 wiederholte? Zumindest kommentierte die Dichterin die Zak-Rezension mit der knappen Bemerkung:

Geteilter Himmel – Mäusespeck!

Welche Mäuse hier mit bestem Literaten-Speck gefangen wurden, braucht sicher nicht lange erörtert zu werden. Richtig ist, dass Inge Müller zu dem Zeitpunkt durchaus Gründe für ihre Skepsis hatte. Der Einstieg in den Literaturraum DDR gelang Christa Wolf ab Mitte der fünfziger Jahre als Literaturkritikerin, Literaturfunktionärin und faktischer Chefredakteurin der Zeitschrift neue deutsche literatur. Auf der Theoretischen Konferenz des Deutschen Schriftstellerverbandes Anfang Juni 1958 sagte sie:

Ein talentierter sozialistischer Schriftsteller, das ist einer, der denken und fühlen kann, was zu denken und fühlen richtig ist, und der das auszudrücken versteht.

Was richtigerweise zu fühlen war, das wusste die Marxistin Wolf, entschieden freilich Partei und Geheimdienst. Christa Wolf, die in einer durch und durch ideologisierten Germanistik ihre Ausbildung erhielt, ließ sich denn auch im März 1959 als IM „Margarete“ verpflichten und zog kurz darauf „im Einverständnis mit dem Zentralkomitee der SED“ nach Halle.
Dabei waren vor allem die vier, fünf Jahre nach dem Mauerbau für das, was später einmal ostdeutscher Literaturkanon werden sollte, überaus maßgebend. Wer in seinen Texten das Sprachidiom DDR anerkannte und benutzte, wer die Staatsdoktrin bediente, wurde bedankt mit gesteuerter Öffentlichkeit, Reputation und Förderung. Das war die Demarkationslinie, über die jeder, der mit Schrift zu tun hatte, vollkommen im Bilde war. Das Schreiben derer, die sich – als „die Künste in den Kampf um den Sozialismus geführt wurden“ – nicht integrieren ließen, fiel in namenlose Leere. Ihre Texte wurden nicht gedruckt. Ihre Leben erfuhren fast durchweg karstige Einschnitte. Es sind heute die, die niemand kennt.
Bei Inge Müller vollzogen sich Überprüfungsprozess und Selbstbesinnung im Kontext des Mauerbaus. Christa Wolfs unmittelbare Liaison mit der Macht endete nicht wesentlich später, im November 1962, mit ihrer Übersiedlung nach Potsdam. Das MfS interessierte sich plötzlich nicht mehr für IM „Margarete“, umso mehr aber – und das für dreißig Jahre und auf über 10.000 Berichtsseiten – für Christa Wolf als Observationsobjekt. Der Operative Vorgang „Doppelzüngler“, den die Staatssicherheit über sie und Gerhard Wolf anlegte, ist an monströser Durchleuchtung kaum zu überbieten. Nur wenige Jahre später hätte Inge Müller demnach ihre Kollegin Wolf vielleicht an ihrer Seite gehabt, die ihre frühe Prosa – 1959 erschien das Traktat-Debüt „Moskauer Novelle“, 1963 der Kurzroman Der geteilte Himmel – im Nachhinein als ein „harmloses, also unwahres – moralisch gesprochen: verlogenes Produkt“ bezeichnete.
„Die Gewohnheit der Gläubigkeit gegen übergeordneten Instanzen, der Zwang, Personen anzubeten oder sich doch ihrer Autorität zu unterwerfen, der Hang zur Realitätsverleugnung und eifervoller Intoleranz“ – diese Muster empfand die 1929 geborene Christa Wolf nunmehr als kennzeichnend für ihre Generation. „Dass man es nicht besser (jedenfalls nicht viel besser) wusste, es doch aber besser hätte wissen können und müssen“, schrieb sie in dem Selbstverständigungsversuch „Über Sinn und Unsinn von Naivität“ aus dem Jahr 1974: „Achten Sie nur einmal darauf, worüber Angehörige meiner Generation fast nie von sich aus reden und welche Gesprächsstoffe, wenn sie doch gestreift werden, öfter Affektausbrüche auslösen, so wissen Sie mehr über jene ,unbewältigten‘ Einlagerungen in unseren Lebensgeschichten… Zu erklären ist das ja alles“, folgerte sie, „nur würde ich es gern einmal erklärt lesen.“
Ein Auftrag an sich selbst. Die geschriebene Erklärung musste sie selbst liefern und das tat sie auch, wobei das Paradigma Wolf mit jedem Text und jeder öffentlichen Debatte Facette auf Facette legte: von der ideologiegläubigen Literaturkritikerin und Observantin mit autokathartischen Schulungstexten zur Großschriftstellerin mit dichter Sprache und gesellschaftssuchenden Sujets; von der gläubigen SED-Genossin, feministischen Utopistin und Mythologin über eine bis ins Detail Ausgespähte zur dauerhaft bedrohten Reformsozialistin. Das Wolf-Bashing in den westdeutschen Großfeuilletons Anfang der neunziger Jahre reduzierte sie schließlich zur abgestraften Stimme des Ostens. Ein Rezeptionsbruch, der in Christa Wolf eine komplexe Trauerarbeit via Schreiben, Krankheit, Leid nach sich zog. Im Grunde die nächste Facette der Schriftstellerin oder auch eine Überidentifikation mit dem desavouierten Gesellschaftsexperiment Ost. Ein Prozess, dem sich seine ehemalige politische und kulturelle Machtklientel bis auf Weiteres beharrlich verweigert.

MOND NEUMOND DEINE SICHEL
Mäht unsre Zeit wie Gras
Wir stehn aufrecht im Himmel
Auf dünnem Stundenglas.

Der Stern geht seine Wege
Wir suchen unsern Weg
Wenn ich mich niederlege
Geh über mich hinweg.

Inge Müllers Weg aus dem Kollektiv in die Isolation war keine artifizielle Inszenierung, das Waidwunde bei ihr keine Pose. Die Untrennbarkeit dessen, was in Inge Müller poetisch entstehen musste und zugleich zyklisch daran arbeitete, sie auszulöschen – von dieser Untrennbarkeit waren die Jahre nach 1961 bestimmt. Es war der Weg einer Niederlage. Irgendwann wird sie es gewusst haben. Niederlage als Mittel der Identifikation. Poesie des Verschwindens. Der immer engere Rhythmus ihrer Suizidversuche erhöhte Inge Müllers literarische Produktivität und veränderte den poetischen Ton: Hart gesetzte Fügungen, verstörende Reime, extreme Binnenspannung in den Versen. Inge Müller war angekommen. Ihre Gedichte siedelten im Arbeitsbereich des Schmerzes. Der wollte es genau wissen, zog ihre Worte aus, bis sie nur noch das Nötigste anhatten. Inge Müllers Schreibstimme konnte das aushalten.
Ihre späten Gedichte singen mit „dünner Menschenhaut“. Historische Nötigung und schroffster Ton, Gewalt und gemeißelte Aussparung treffen unmittelbar aufeinander. Es ist, als stünden die Texte mit dem Rücken zur Wand. Das Atemknappe, Konkrete ihrer Poesie und ihrer Stoffe hatte in den sechziger Jahren der DDR keinerlei Chance auf Veröffentlichung. Sie lebte erneut im Einschluss, mit der Hartnäckigkeit ihrer Schmerzen, der sich auflösenden Beziehung zu Heiner Müller, mit durch nichts zu konsolidierenden existentiellen Notlagen. „Selbstmörder sind die, die sich nicht aufgeben“, schrieb sie und tötete sich am 1. Juni 1966 durch Gas.
Öffentlich war es ein Tod, intern ein Selbstmord als Protest, von einer „Kulturschaffenden“, die doch dazu da war, das Neue Leben zu besingen. Es lag in den Händen der Staatssicherheit, die künftige Rezeptionsrichtung für das Werk der Dichterin vorzugeben. Hauptmann Offenhaus von der Berliner Hauptabteilung XX wusste am 31. Oktober 1966 zu berichten:

In seinem Kontrollbereich wird angenommen, dass der Selbstmord der Inge Müller als Protest zu werten ist, der gegen die Kulturpolitik der Partei gerichtet sein soll, unter der das Ehepaar seit der Umsiedlerin und Lohndrücker gelitten hat. Nach diesen Arbeiten sind keine Arbeiten der Müller mehr erschienen.

Bis zu einer ersten Ausgabe der Lyrik von Inge Müller – nach Bernd Jentzschs Mini-Poesiealbum von 1976 – brauchte es zwanzig Jahre seit ihrem Tod. „Kulturschaffende“ Selbstmörderin, Frau eines verbotenen Dramatikers und Dichterin ohne jedwedes Aufbaupathos – das war zu viel für die gut austarierten Rezeptionsnetze der DDR. Der Band aus dem Jahr 1985 Wenn ich schon sterben muss, herausgegeben von Richard Pietraß, legte mit einem Schlag bloß, dass Inge Müller nicht irgendeine Schreiberin war. Ihr Werk, bar jeder Moden, würde die Substanz haben, der Zeit standzuhalten. Nach 1989 erfuhr Inge Müllers Werk späten literarischen Ruhm. Nach zwei Herausgaben und zwei Biografien erklärten die Feuilletons sie – nun gesamtdeutsch – zu einer der „wichtigsten deutschen Nachkriegsdichterinnen“. Aus den deutschen Lyrik-Milleniumsbüchern- und Anthologien war ihr Name nicht mehr wegzudenken.
Man kann sich eine dunkelhaarige, schmale Frau in Ostberlin Mitte der sechziger Jahre vorstellen, in einem Lyrik-Keller, auf einer Bühne. Unter den Augen Ränder, die Hände zittrig, den Unterkiefer hin- und herschiebend. Sie ordnet ihre Manuskripte, prüft noch einmal Gedicht für Gedicht. Dann tritt sie ans Mikrofon.

Ines Geipel, aus Ines Geipel: Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945–1989, Artemis & Winkler, 2009

„Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer.“ 

Sie sitzen in einer Kneipe in Ostberlin, zwei aufstrebende Autoren, Ingeborg Schwenkner und Heiner Müller. Sie ist 29, charmant und attraktiv, wohnt draußen in Lehnitz, der berühmten Waldsiedlung für Privilegierte und ist in zweiter Ehe mit einem Funktionär verheiratet. Er ist 24, dünn und rebellisch, wohnt ohne Aufenthaltsgenehmigung und festes Einkommen möbliert in Pankow, war vor Rosie aus Frankenberg geflohen, doch die Schwangere verfolgte ihn und zwang ihn in die Ehe. Dabei hat Müller Schwangerschaft immer als Freiheitsberaubung angesehen. Als Rosie ihn dann mit einer anderen im Bett erwischt, lässt sie sich scheiden. Kurz danach heiraten die Versöhnten ein zweites Mal. Und wieder geht die Ehe in die Brüche.
Nun sitzen die zwei künftigen Autoren in einer Kneipe in der Clara-Zetkin-Straße. Und Heiner Müller erzählte mir nach der Wende in seiner witzigen und herrlich brechtschen Art von dieser Begegnung. Weil nämlich der oberste Knopf von Ingeborg Schwenkners grüngestreifter Bluse offen stand, hätte sich seine proletarische Gier auf die Oberschicht geregt, denn für ihn zählt diese Ingeborg zu den zehntausend Auserwählten der DDR. Er ist entzückt von ihrer Sinnlichkeit und Schönheit, aber das Preußische, das ihm so völlig fehlt, irritiert ihn. Und sie? Hat nie einen anarchischen Geist wie ihn gesehen, und nie einen, der so geschliffen mit Sprache umgehen kann. Da wird ihre Liebe zu Müller bald ins Gedicht gesetzt:

Ich kam zu dir
Und habe nicht zurückgedacht
Barfuß kam ich
Den Moralschuhen entwachsen
Jung und spröde
War unsre erste Nacht

Kennengelernt hatten sie sich in der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren, wo man Texte liest und diskutiert. Sie schreibt:

Wir trafen uns im Kreis
Von Schreibern und solchen dies werden wollten
Du hocktest da wie ein Greis
Die Reime rollten
Einer las eigenes vor
Ich saß im Phrasenbrei wie angeleimt…

Nun, wo sie ineinander verliebt sind, treffen sie sich in Berliner Kneipen oder rudern auf dem Lehnitzer See oder spazieren durch die Wälder Brandenburgs und lieben sich in der Botanik. Er nennt sie Tuppa, sie nennt ihn Pepe, und als ein halbes Jahr vorbei ist, nistet sich Heiner Müller im Haus der Schwenkners ein, Thälmann-Ring 19. Die Verliebten und der 7-jährige Sohn aus ihrer ersten Ehe wohnen oben, Herr Schwenkner, der Gatte, lebt unten. Küche, Klo und Bad werden gemeinsam benutzt. Auch das Telefon, das natürlich dem Parteifunktionär zu verdanken ist. Wer sonst hat damals schon Telefon in der DDR Miete, Heizung, Wasser, Gas sollen geteilt werden.
Aber das klappt natürlich nicht. Die brotlosen Künstler von oben sind Kleinstverdiener. Und danach riecht es auch im Haus – nach Nudeln, Zwiebeln und Speck. Oder nach einem geangelten Fisch aus dem See um die Ecke. Und wenn gar kein Geld mehr da ist, gibt’s Brotsuppe. Hauptsache, man produziert und liebt sich. Heiner Müller arbeitet im eigenen Zimmer, Inge Schwenkner schreibt im Bett an Versen und Kinderbüchern. Ihr Ehemann, der vielleicht glaubt, die Liaison mit dem Habenichts wird nicht lange dauern, guckt sich das eine Weile an, ist fair und zahlt. Aber, so erzählt Heiner Müller später, der Funktionär da unten habe auch versucht, ihn, den Rivalen, per Staatssicherheit an die Luft zu setzen.
Gelingt ihm nur nicht. Die Liebenden von Lehnitz verewigen ihre Beziehung in einem Doppel-Gedicht. Ingeborg Schwenkner schreibt:

Da ist die Brücke
Und ich seh dich gehen
Über die Planken aus Holz.
Drei fehlen in der Mitte.
Ich reiche dir die Hand
Und du siehst sie nicht.
Du siehst das Wasser unter dir…

Und er antwortet:

Ins Wasser blickend sah ich
Deine Augen, die mich suchten. Da
Fand ich mich. Und ich fürchtete den Wind
nicht mehr. Er trägt uns
Die sich an den Händen halten.

Die alte Ehe wird im Sommer 1954 geschieden, die neue – es ist für beide die dritte – ein Jahr später geschlossen.
Und dann beginnen die euphorischen Jahre, in denen Inge und Heiner Müller gemeinsam an neuen sozialistischen Stücken arbeiten. Sie werden in den Schriftstellerverband aufgenommen und recherchieren – wie sich das für brave Kommunistenkinder gehört – im Kombinat „Schwarze Pumpe“. Es ist eine Auftragsarbeit für den Rundfunk und fürs Theater. Sie sollen über den Aufbau des volkseigenen Betriebs mit Gaswerken, Kokereien und Brikettfabriken schreiben. Ein wilder Haufen erwartet sie da auf der Großbaustelle, versoffene Asoziale, Kriminelle, Anarchisten, entwurzelte Bauern, auch alte Nazis sind darunter, schreibt Heiner Müller, allesamt Goldgräber, die gerne über Krieg und Weiber reden. Die beiden Intellektuellen wohnen mit ihnen in Baracken, essen gemeinsam mit ihnen, stehen mit ihnen im Dreck und Schlamm und lassen sich erzählen, wie sie im Schacht absaufen – oder im Schnaps. Und weil Frauen knapp sind, schreibt Müller, ist seine Ingeborg immer umlagert. Sie hört auch am besten zu und stellt die klügsten Fragen. Und sie schreibt alles auf. Einer in der Kneipe lacht die beiden aus:

„Schreiben wollt ihr“, sagte Hannes. „Und ich dachte, ihr wollt arbeiten. Aber verdächtig ward ihr mir gleich.“ 

Als sie ihre Arbeit abgeben, ihr Stück, das sie Die Korrektur nennen, muss korrigiert werden. Also so gehe das nicht! Zuviel Kritik, zu wenig Lust und Fröhlichkeit am Aufbau des Sozialismus. Es fängt doch bitteschön alles erst an! Also gut, dann überarbeiten die beiden ihre Wahrheit eben. Und als das Stück dann im Rundfunk gesendet und im Gorki-Theater aufgeführt wird, fangen sie gleich mit einem neuen Stück an, das Der Lohndrücker heißt, sie immer preußischer als er, er immer locker mit links. Und sie werden gelobt und für beide Stücke mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Endlich fließt Geld in die leere Haushaltskasse. Die Zukunft sieht, so scheint es, hell aus.
Aber da gibt es noch die dunkle Seite in Inge Müllers Leben. So oft klagt sie über Schmerzen, Müdigkeit und Unruhe. „Ich kenne deine Griffe, Schmerz“, schreibt sie. Aber sie kommt nicht dagegen an, nicht mit Yoga, nicht mit Besuchen beim Psychologen. Seit ihrer Kindheit neigt sie zu Traurigkeit und Melancholie. Als sie gerade geboren ist, im März 1925, stirbt ihr kleiner Bruder, der nicht mal zwei Jahre alt geworden ist.

Meine Mutter wollte mich nicht haben
Sie wollte einen Sohn
Und da kam ich schon
Und mein Bruder war noch nicht begraben.

Was für eine Hypothek, zu glauben, nicht gewünscht und nicht gemocht zu sein. Es sind vor allem aber die Erlebnisse aus dem Krieg, die immer wieder Depressionen bei ihr auslösen.

33 war ich ein gläubiges Kind
Meine Eltern warn gut und fleißig
Erwachsen wurde ich 39
Als der Krieg anfing.

Da ist sie vierzehn. Als ihre erste Liebe an die Front muss, weint sie. Und dichtet später:

Bevor er fiel kam er zu mir
Ganz zerrissen vom Morden
Ich wusste nichts beßres als: bleib doch hier
Glücklich sind wir nicht geworden.

Im Januar 1945 wird Inge Meyer noch einberufen. Da ist sie neunzehn.

12-Zeilen-Befehl, Staccato in Phrasen
ein Stempel: Mädchen, du bis Soldat
Weg mit den Locken, den Kleidern.
Den Rasen ob grün oder weiß, zahlt der Staat.

Die Luftwaffenhelferin wird in eine Uniform gesteckt, muss Hitler Treue und Gehorsam schwören, bekommt eine Kurzausbildung als Kraftfahrerin, Marschbefehl nach Küstrin, mit einem Treck zurück nach Berlin, nach Potsdam, nach Jüterbog, nach Werben an der Elbe, sie versucht, zu desertieren, klappt nicht, sie wird strafversetzt, kommt nach Brandenburg zur Flak. Bomben und Granaten, Geschütze, Feuer, Dreck und Donner und Dauerbeschuss. Und die Rote Armee rückt auf ihren Panzern immer näher. Und sie rollt weiter nach Berlin, wo die Trümmer rauchen. Da soll sie Tote wegräumen und sich um Verwundete kümmern. Am Abend spielt sie manisch auf ihrem Akkordeon.

Vier tote Mädchen, eins ohne Gesicht
Legten die Soldaten dazu.
Und einer nahm als Erinnerung mit
Den blutigen Frauenschuh.

Sie hockt jetzt mit den restlichen Flak-Helferinnen, dem Kanonenfutter, in einem Keller in der Schwedter Straße.

Angst vorm Tod, vorm Wasser, vorm Feuer, vorm Ersticken, Kellerangst, Warteangst, Ungewissheit, Neugier.

Sie wird losgeschickt. Soll Wasser holen. Als sie aus der Dunkelheit nach oben kriecht und losläuft, bricht ein von Bomben getroffenes Haus über ihr und einem Hund zusammen. „Und dann fiel auf einmal der Himmel um…“ heißt die poetische Zeile aus dem Gedicht „Unterm Schutt II“, das ihr Universum zum Einsturz bringt. Und es gibt ein drittes Gedicht über die Verschüttung: 

Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie. 

Drei Tage liegt sie unter Schutt und Trümmern und der eingestürzten Zeit. Drei albtraumlange, endlose Tage und Nächte in Angst und Dunkelheit, ohne Wasser, ohne Brot. Aber: 

Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer
Bis sie kommen und graben
bis sie mich haben
Du gehst leer. 

Und dann kommen sie endlich und graben sie aus.
Die Gerettete sucht ihre Eltern. Es ist ja kaum etwas wiederzuerkennen. Straßen sind weggebombt, und über Häusergerippen hängen Rauchsäulen. Sie läuft durchs brennende Berlin, steigt über verkohlte Leichen, über „Tote ohne Gesicht“, sinnlose Opfer, rennt weiter durchs Labyrinth der Trümmer und kommt in die Fürst-Bismarck-Straße. Das große Haus, das sie sucht, ist zerstört. Da wohnten ihre Eltern. Hinter der verbrannten Tür zum Keller liegen 19 Tote. Sie zieht Vater und Mutter nach oben, legt sie nebeneinander auf den Gehsteig, hat keine Zeit zu weinen und zu trauern, rennt einfach nur los, um eine Karre zu suchen. Die beiden müssen doch auf den Friedhof, müssen doch eingegraben werden. Als sie zurückkommt, ist ein Finger der Mutter abgeschnitten. Der mit dem goldenen Ehering.
„Übriggeblieben zufällig / Geh ich den bekannten Weg / Vom Ende der Stadt zum anderen Ende…“ und findet die Großmutter, die überlebt hat, Oma Meyer. Drei Kinder hat sie verloren in diesem Gemetzel. Jetzt hat sie nur noch die Enkelin. Die ist zwanzig und lebt mit Bildern im Kopf, die der Verstand nicht aushält.

Da steh ich Tochter von Preußen
Auf Knochenbergen und Staub…

Also verdrängen, vergraben, wegschließen, sie ist doch so jung, will doch leben. Also meldet sie sich beim Bürgermeister in Friedrichsfelde, wird Trümmerfrau, räumt die Stadt mit auf, wochenlang, jeden Morgen ab sechs Uhr. Und nur nicht nachdenken, schuften bis zum Umfallen. Es gibt Muckefuck zwischendurch, sie kriegen Lebensmittelkarten, es gibt Schlangen und Schwarzmarkt, und abends darf getanzt werden.
Sie wohnt in einem möblierten Zimmer zur Untermiete. Und da klopft eines Tages Kurt Loose an die Tür, den sie von der Flakausbildung her kennt. Er wohnt in ihrer Nähe, trägt im Osten der Stadt die Post aus, ist ein Kümmerer, besorgt, was sie braucht, hilft, wenn sie traurig ist, sie sehen sich täglich, mögen sich, lieben sich.

Küsse im Roggenfeld kurz und heiß wie
Nächte im Juli und kein Erinnern mehr
Vergessen im Mohnrot…

„Sommer 45“ nennt sie das Gedicht, und im Herbst heiraten sie. Doch schon ein Jahr später, als ihr Sohn Bernd geboren und die Ehe festgefahren ist, lernt sie ihren zweiten Mann kennen, Herbert Schwenkner.
Der 21 Jahre ältere Kulturfunktionär gibt der ehrgeizigen und bildungssüchtigen jungen Frau erstmal die richtigen Bücher zu lesen: Marx und Lenin. Von ihnen lernt sie ihren Kommunismus. Dann lässt sie sich scheiden, heiratet Schwenkner, tritt in die SED ein und engagiert sich in der Partei, das heißt, sie spielt Akkordeon in Krankenhäusern und Strafanstalten. Als Stalin am 5. März 1953 stirbt, baut sie noch in der Küche einen Altar auf, der mit rotem Samt ausgeschlagen ist. Und sie geht auch am 17. Juni, dem Tag des Volksaufstands, ziemlich aufgeregt mit ihrem Mann zur Parteiversammlung. Aber sie merkt schon bald die Verlogenheit der Bonzen. Das wichtigste aber in ihrem neuen Leben ist, dass sie anfängt, zu schreiben. Nein, sie will nicht die Schrecken der Vergangenheit in Worte und Bilder fassen, das kommt später dran. Jetzt will sie leben. Jetzt beginnt sie mit ihrem ersten Kinderbuch, das Wölfchen Ungestüm heißt. Doch auch dieses Glück in der Lehnitzer Waldsiedlung dauert nur ein paar Jahre, dann lernt sie ihren dritten Mann kennen, Heiner Müller.
Aber auch hier ist der Höhenflug des Anfangs bis zum Heinrich-Mann-Preis bald verflogen. Sie ist die disziplinierte Preußin, die jeden Termin einhält, er der geniale Schlurer, dem Absprachen wurscht sind.

Ich entdecke zum ersten Mal bei Heiner die Eitelkeit, die ihn von ungeistigen Menschen abhängig macht. Es tut mir weh, schreibt sie. Ich schlafe fast nicht mehr. Heiner lässt alles laufen. Ich hasse es, sein Kindermädchen zu spielen.

Er lacht über ihre Ordnungsliebe. Spießig findet er sie. Er braucht keine Ordnung, keine Tagespläne mit Waschen, Russisch, Spülen, Verslehre, Einkaufen, Englisch, Fensterputzen, Fegen, Holz hacken, Lesen, Essen machen, Schreiben, Bügeln. Seine Schlachten werden auf dem Papier geschlagen – mitten im Chaos, „an den Müllkästen des Lebens vorbei“ – wie Inge Müller schreibt.
Dann stirbt ihre Großmutter, die Vertraute, die Märchenerzählerin der frühen Jahre. Mit ihrem Tod ist die Nabelschnur zu Inge Müllers Kindheit durchtrennt. Und sie fühlt sich plötzlich so allein, so verlassen, so im Stich gelassen, so am Abgrund. Da macht sie einen Selbstmordversuch, dreht den Gashahn auf, wird in die Charité eingeliefert und später wochenlang stationär behandelt. 

Wer krank ist sagen viele
Ist ein halber Mensch
Ein halber Mensch ist
Kein ganzer Mensch.
Das Leben braucht ganze Menschen.

Als sie scheinbar wieder ganz ist, trinkt sie, weil sie weiß, dass sie nicht ganz ist. Alkohol ist in der DDR die Droge, die leicht zu bekommen ist. Schnaps und Zigaretten. Kein Problem. Und dann kommt das nächste Problem auf sie zu. Eine neue Liebe.
Es ist der jüngere Bruder von Heiner Müller, den sie bei den Schwiegereltern, die im Westen, in Reutlingen, leben, kennenlernt. Man kann ja damals noch raus aus dem Osten und auch wieder rein. Wolfgang, der charmante, hübsche Kerl mit dem tollen Haarschopf, ist fast halb so alt wie sie und verliebt sich sofort in die schöne Schwägerin. Als Heiner Müller nach Berlin zurück muss, bleibt sie noch, und aus dem Begehren wird ein Verhältnis. Nein, sie hat da keine großen Skrupel. Die beiden zelten gemeinsam, sie fotografieren sich gegenseitig in knapper Turnhose und leben lustvoll in der Natur. Dem noch minderjährigen Liebhaber ist das alles so ernst, dass er wenig später die Schule schmeißt, den entsetzten Eltern sagt, er gehe in die DDR, um den Sozialismus mit aufzubauen, aber natürlich will er nur die Frau seines Bruders erobern, und das kann ja nicht gut gehen, auch wenn Heiner Müller alles mit stoischem Gleichmut erträgt. Wolfgang landet nach einer Zeit zu dritt als Heizer bei der Binnenschifffahrt, und die Hoffnung auf ewige Liebe schwindet trotz vieler Briefe langsam dahin.
Im August 1961 wird die Mauer gebaut. Und Heiner Müllers gerade uraufgeführtes neues Stück Die Umsiedlerin wird zum Riesenskandal. Die Parteibonzen toben. Er habe darin den Sozialismus verraten. Er sei ein Konterrevolutionär. Bei Hausdurchsuchungen werden Müllers Texte konfisziert, und er wird aus dem Schriftstellerverband geworfen, was in der DDR bedeutet, nichts mehr veröffentlichen zu können. Inge Müller wird gleich mit rausgeworfen, weil er sonst unter ihrem Namen publizieren könnte. Man macht ihr allerdings einen Vorschlag: Wenn sie sich von ihrem Mann trennt, könnte sie natürlich wieder frei arbeiten. Das lehnt sie empört ab. Aber es lag ein ungeheurer Druck auf ihr, schreibt Heiner Müller später in seinen Erinnerungen Krieg ohne Schlacht. Wochenlang sei sie von der Parteigruppe im Schriftstellerverband bearbeitet worden. Müller sei ein destruktives Element. Was wolle sie überhaupt noch bei dem.
Hatten sie das nicht schon mal? Sind das nicht die alten Nazimethoden? Ist das nicht Sippenhaft? Und wie sollen die Deklassierten nun leben? Ohne Aufträge und ohne die guten Einkünfte der letzten Jahre? Und wohin treibt der Sozialismus? „Hinter der Pappfassade / Ein Nichts das wächst“, schreibt Inge Müller hellsichtig. Sie waren inzwischen nach Pankow gezogen. Das wollten sie, das war näher am Theater, für das sie gearbeitet haben. Aber jetzt, nach der Affäre, vermisst sie die Ruhe von Lehnitz, die Katzen dort, die Schildkröten, den See, den Wald. Und wie sollen sie leben? Sie werden in Zukunft Schulden machen müssen. Sie werden sie nie zurückzahlen können. Sie werden die soziale Leiter hinabsteigen – bis nach unten. Und sie leben in einem abgeschlossenen Land. Da dreht Inge Müller wieder den Gashahn auf. Und wird wieder gerade noch rechtzeitig gefunden. Liegt wieder wochenlang im Krankenhaus. Und zu Hause schluckt sie dann wieder Faustan, um schlafen zu können.
Heiner Müller erträgt dieses Leben in Moll nicht. Immer öfter treibt er sich im Theater herum, wo man versucht, etwas für ihn zu arrangieren, wo man auch Geld sammelt für seine Familie. Ihn berührt die Haltung der Partei auch nicht so wie seine Frau. Er findet ja auch nur die Idee des Kommunismus gut. Nicht die Realität in der DDR. Trotzdem kann er da mitmachen. Kein Problem. Er ist auch für Enteignung. Findet auch die Mauer gut. Dachte nur, dass er nun mehr Freiheiten hätte. Und weil ihm, wie er sagt, Schreiben wichtiger ist als Moral, verfasst er nach zwei Jahren unter Anleitung von Brechts Witwe Helene Weigel eine Selbstkritik. Die liest er im Club der Kulturschaffenden vor. Das lockert dann den Ring um beide wieder. Sie übersetzen jetzt Stücke fürs Theater, er Unterwegs von Victor Rosow, sie von Jewgenij Schwarz Der Drache, die beide zu grandiosen Erfolgen werden.
Aber Inge Müller denkt anders als ihr Mann. Sie erlebt die Maßnahme der Partei als verheerenden Eingriff in ihren Glauben und ihr Leben. Der Riss ist nicht zu kitten.

Ich weigere mich Masken zu tragen
Mich suche ich
Ich will nicht dass ihr mich nachäfft
Ich suche unser Gesicht
Nackt und veränderlich…

Das ist natürlich das Gegenprogramm zum neuen Menschen im Sozialismus, sie weiß das sehr wohl und fängt wieder an zu trinken. Und sie raucht viel zu viel. Und wenn das alles nicht hilft, schließt sie sich in ihr Zimmer ein und spielt wie eine Besessene auf dem Akkordeon, spielt bis zur totalen Erschöpfung. Und da ist Müller längst aus der Wohnung geflohen.
In dieser Zeit schreibt sie dunkle Gedichte. Viele über Krieg und Tod.

Ich sah die Welt in Trümmern
Noch hatte ich nichts von der Welt gesehn
Ich sah den Tod und die Gewalt
Noch eh ich jung war, war ich alt…

Schreibt:

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch;
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
einen ins Buch.
 

Schreibt über „Träume aus Gummi grau und blau“… Auch über Liebe nach Auschwitz. Und oft über Freunde.

Einer war wie ein Licht so dünn
Und er brannte wie ein großes Feuer…

Meistens aber herrscht Endzeit in ihren Gedichten:

Der Herbst färbt die toten Blätter
Und legt den Finger auf den Mund –
Stirbt es sich leichter bunt?

Sie schreibt über den Propheten Jona, der von Gott den Auftrag erhält, die Stadt Ninive, die als große Hure verschrien ist, vor dem Untergang zu warnen. Jona will dieser Überbringer nicht sein. Er flieht auf ein Schiff, fällt im Sturm über Bord, wird von einem Wal verschluckt, betet drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches, bis er wieder ausgespuckt wird. Geht nun nach Ninive, warnt die verwilderten Bewohner, die büßen mal kurz – und Gott verzeiht ihnen. Jonas ist entsetzt über soviel ungerechtfertigte Güte und möchte sterben. Das ist natürlich ihre eigene Geschichte. Es sind die drei Tage und drei Nächte unter Trümmern. Und sind die Verbrecher des Dritten Reichs bestraft worden?
Auch der abgeschnittene Ringfinger ihrer toten Mutter wird zum mörderischen Text: Am 8. Mai 1945 sagt die Schwiegertochter im Luftschutzkeller zum alten Mann, er solle rausgehen und gucken, wo seine Frau bleibt, die Wasser holen wollte. Er geht und kommt zurück und sagt, sie sei tot. Dann soll er den goldenen Ring an ihrem Finger holen. Er geht und kommt zurück und sagt, der sitze zu fest, der gehe nicht ab. Dann solle er den Finger abschneiden. Aber draußen sei Frieden, sagt der alte Mann. Da nimmt die Schwiegertochter ein Beil und geht raus… Und wenn Inge Müller wieder zu viel getrunken hat, zerreißt sie ihre Texte auch schon mal, stopft sie in den Badezimmerofen und verbrennt sie. Das Trauma des Krieges wird nicht verarbeitet. Immer wieder versinkt sie in Erinnerungen, in Melancholie, in Depression. Und wenn sie betrunken ist, wird sie aggressiv. Heiner Müller übernachtet dann bei B.K. Tragelehn, dem Freund, der 1961 seine Umsiedlerin inszeniert hatte. Da ruft sie dann an und weint und schimpft durchs Telefon, und manchmal atmet sie auch nur – und schweigt.
Nach der Wende habe ich Heiner Müller gefragt, wie er diese letzten Jahre erlebt hat. Wir haben lange über die Suizidversuche von Inge Müller geredet, die sich seit 1961 häuften. Einmal habe er ihr das Thermometer aus dem Mund gerissen, weil sie es zerbeißen und das Quecksilber schlucken wollte. Ach, nicht nur einmal. Dann hatte sie sich eine Pulsader aufgeschnitten, war zu ihm gekommen und zeigte ganz erstaunt das sprudelnde Blut. Er habe sie auch vom Strick geschnitten, sie zurückgehalten, wenn sie aus dem Fenster springen wollte oder vom Balkon. Auch übers Dach sei er in die Wohnung gestiegen, wenn sie sich eingeschlossen hatte. Und wie oft hat sie Tabletten geschluckt! Und wie oft lag sie bei offenem Gashahn in der Küche. Arbeiten konnte er zu Hause nicht mehr, sagte Müller. Da ging er eben zu Freunden. Er sei auch schon auf der Suche nach einer kleinen Wohnung gewesen. Und er sagte sich auch: Wenn sie sich partout umbringen will, kann ich es nicht verhindern. Dann muss sie es eben tun.
In der Nacht zum 1. Juni 1966 tut sie es. Mit Gas. Heiner Müller ist im Theater. Auf dem Weg nach Hause redet er noch lange mit einem Kollegen auf der U-Bahn-Station. Hat der Marxismus eine Chance? Oder nicht? Das diskutieren sie. Und als er so gegen drei Uhr nachts in die Wohnung kommt, liegt Inge Müller in der Küche. Tot. Liegt „halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, ein Bein angewinkelt wie im Schlaf“, wird Müller später schreiben. Und als er ihren Kopf hochhebt und sie so anredet, wie sie sich nennen, wenn sie allein sind, fühlt er sich wie in einem Theaterstück:

Ich sah mich, an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt halb belustigt einem Mann zusehen, der um drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinfußboden hockte, über seine vielleicht bewusstlose vielleicht tote Frau gebeugt, ihren Kopf mit den Händen hochhielt und mit ihr sprach wie mit einer Puppe für kein anderes Publikum als mich.

Er hebt die Tote auf, und im selben Moment hört er ein kleines Stöhnen, das weniger aus dem Mund als aus den Eingeweiden kommt. Später wird ein Arzt ihm erklären, dass solche Töne eine Art Aufstoßen sind, wenn der leblose Körper bewegt wird. Da kommt dann noch ein Rest Luft raus. Die Tote ist schwerer als sonst. Müller schleppt sie ins Schlafzimmer und legt sie auf die Bettcouch. Sie ist nackt unter dem Morgenrock, und eine Zahnprothese war ihr aus dem Mund gefallen. Er wusste nicht, dass sie so etwas trug. Jetzt weiß er, warum ihr Gesicht entstellt ist. Er geht in die Küche zurück, dreht das Gas ab, greift zum Hörer, ruft erst einen Freund an, dann das Rettungs-Amt. Sind Sie wahnsinnig, brüllt einer der Leute, die dann angefahren kommen, machen Sie sofort die Zigarette aus! Wie lange ist sie tot? Seit zwei Stunden, sagt ein anderer. Alkohol. Herz. Wo ist der Brief? Welcher Brief, fragt Müller. Hat sie keinen Brief hinterlassen? Wo waren Sie? Von wann bis wann? Morgen neun Uhr soll er ins Zimmer 23 kommen. Vorladung. Die Leiche werde abgeholt und obduziert.

Warten auf den Leichenwagen, im Nebenzimmer eine tote Frau. Die Unumkehrbarkeit der Zeit.

Elf Jahre später schreibt Heiner Müller Die Hamletmaschine. Darin heißt es über die Selbstmörderin Ophelia:

Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.

Weil man aber im Sozialismus keinen Selbstmord begeht, wird in den Zeitungen stehen, dass die Schriftstellerin Inge Müller mit 41 Jahren gestorben ist. Und weil sie keinen Abschiedsbrief geschrieben hat, wird ihr Mann, so erzählte Müller es mir, kurz verdächtigt, sie umgebracht zu haben. Er kann aber glaubhaft erklären, dass all ihre Gedichte der letzten Jahre ihre vielen Abschiede sind.

Die wenig gelungenen Stellen
Aus meinen kaum gelungenen Gedichten
Wird man auswählen,
Um zu beweisen
Ich wäre euresgleichen.
Aber dem ist nicht so:
Denn ich bin Meinesgleichen.
So werde ich auch im Tode
Mich zu wehren haben,
Und über meinen Tod hinaus
– wie lange wohl? –
Erklären müssen
Daß ich meinesgleichen war.

Birgit Lahann, aus Birgit Lahann: Am Todespunkt. 18 berühmte Dichter und Maler, die sich das Leben nahmen, Dietz Verlag, 2014

 

INGE MÜLLER

Erst kippten alle Blumen um
dann liefen mir die Wege fort
Mutter schwieg und sprach kein Wort
Dann kam mir die Jäger dumm
Flammen machten die Himmel rot
Unser Waldhaus brannte nieder
Und Vater stand im Halteverbot

Peter Wawerzinek

 

IN MEMORIAM: INGE M.

es blieb
unterm schutt
das danach
nicht mehr leb-bare
leben

Thomas Luthardt

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Hans-Jürgen Wesener: Letzte Zeilen gab es in ihrem Leben viele
Die Welt, 13.3.2000

Zum 50. Todestag der Autorin:

Sabine Göttel: Ein Leben und viele Tote
Literatur & Leben, 15.5.2016

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Internet Archive + Kalliope

 

Heiner Müller spricht u.a. über seine Frau Inge Müller und liest sein Gedicht „gestern an einem sonnigen nachmittag“.

1 Antwort : Inge Müller: Poesiealbum 105”

  1. Anouk Meyer hat zu Inge Müller einen guten Text unter dem Titel „Sezierende Verse“ verfaßt (ND 20.2.2010)
    [http://www.neues-deutschland.de/suche/?and=sezierende+verse&search=1&modus=0&sort=1] ;
    die Fakten zum Poesiealbum 105 findet man hier:
    [http://www.poesiealbum.info/hefte/105.html]

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