Joachim Jordan: Zu Immanuel Weißglas’ Gedicht „Nil-Sein“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Immanuel Weißglas’ Gedicht „Nil-Sein“ erschienen in Immanuel Weißglas: Der Nobiskrug. –

 

 

 

 

IMMANUEL WEIßSSGLAS

Nil-Sein

Im Lande Licht, im Lande Leer,
Einödegebunden,
Liegen sie verstreut umher,
Die Sterne, die Stunden.

Cheopsfriede,
Nilblaues Sein,
Zeitpyramide
Aus Sonne und Stein.

 

„Trost und Träne der Jahrtausendjahre“

– Das kulturelle Gedächtnis in Immanuel Weißglas’ Gedicht „Nil-Sein“. –

I. Die Lyrik von Immanuel Weißglas als Wiege der Erinnerungen
Die Begriffe „Gedächtnis“, „Erinnerung“ und „Zeit“ haben für Immanuel Weißglas’ Gedichtband Der Nobiskrug eine leitmotivische Bedeutung – immer wieder beruft sich Weißglas auf „Trost und Träne der Jahrtausendjahre“ („Dakerkrug“), auf die wechselhafte und leidvolle Vergangenheit, die „vor tausend und tausend, vor zwanzig Jahren“ („Babylonische Klage“) der „Zeit-Zar prägte“ („Modermünzen“). Erinnerungen an mythische Urzeiten und die autobiographisch erlebte, nur wenige Zeit zurück liegende Erfahrung der Vertreibung, der Deportation und des Todes bilden unübersehbar den Grundriss dieser Dichtung, deren Anspruch kein geringer ist: Gegen das Flüchtige „umfange ich Unendlichkeit“ („Schwanengesang“), so Weißglas, der sich zur Bewahrung des Gedächtnisses in „zeitenzähe[n]“ Worten, einer lyrischen, geradezu heilige Züge annehmenden, Erinnerungskultur gewidmet hat.
Diesen Horizont, aus dem sich seine Dichtung herschreibt, skizziert Immanuel Weißglas am 14. November 1974 in einem Brief an Gerhart Baumann:

Sie dürfen nicht vergessen, dass ich – in hofmannsthalscher Prägung – die mehrtausendjährige Müdigkeit meines Volkes nicht abtun kann von meinen Lidern, und dies ist nicht eine geschichtliche Langschläfrigkeit, sondern das vom Alptraum Sein bedingte Ermatten der Aussage. Die Erinnerungen verstopfen, in trüben Stunden, den Spund jenes inneren Schreis, den wir, mundgerecht, Gedicht nennen.

Weißglas beruft sich auf seine jüdische Herkunft und das damit einhergehende Schicksal, dessen schmerzliche Konstanten Zerstreuung und Verfolgung in der Diaspora als das Unvergängliche, als beständig währender Kern unverlierbar im Gedächtnis verankert ist. Dieses tiefe Bewusstsein für den Ursprung, das existentielle Gefühl, unlösbar verknotet zu sein mit allem, was „mehrtausendjährig“ war, stellt Weißglas in die Nachfolge Hofmannsthals, dessen Dichtung die All-Präsenz der Vergangenheit zu Grunde liegt:

Alles, was je war, ist immer noch da; nichts ist erledigt, nichts völlig abgetan, alles Getane ist wieder zu tun; das Gelebte tritt, leise verwandelt, wieder in den Lebenskreis herein. So ists im Leben des Einzelnen, […] dass nichts für immer hinter ihn tritt, sondern alles im Kreise um ihn verharrt, so im Leben der Völker und Staaten. Immer wieder kommen Lagen, wo das in der Geschichte abgespiegelte Gewordene so ist, als hätte es sich nicht vorlängst vollzogen, sondern geschehe heute vor unseren Augen.

Dieses Gefühl einer Gegenwart, zu der selbst das zeitlich Fernste in nächster Nähe steht, wird von vielen Dichtern empfunden, die jüdischer Herkunft sind. Ossip Mandelstam, um nur ein weiteres Beispiel zu benennen, beschreibt im Gespräch über Dante die „Geschichts“- Theorie Dantes als „synchronistischen Akt“, der alle Inhalte der Epochen im Kreuzungspunkt Gegenwart – „unerschöpflich, unermesslich, unversiegbar“ – vereinigt. Die „Zeit“ ist unermesslicher Horizont, ein „Gut“, das allen „Gefährten, Mitsuchern, Mitentdeckern“ gemeinsam gegeben ist, über das alle Gegenwärtigen gleichermaßen verfügen können:

Deshalb kann die Odysseus-Rede, die gewölbt ist, wie ein Brennglas, gleichermaßen auf den Krieg der Perser, auf die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, auf die kühnen Experimente des Paracelsus und auf das Weltreich Karls V. gerichtet werden.

Der von Mandelstam hier im 26. Gesang von Dantes Inferno festgestellte poetologische Grundzug, in solch einem „synchronistischen Akt“ verschiedene Daten der Weltgeschichte bezwingend zusammen zu stellen, sie in einer Synthese in der Gegenwart aufscheinen zu lassen, findet sich auffällig oft auch in der Lyrik von Immanuel Weißglas. In den Gedichten des Nobiskrug versammelt Weißglas mehrmals in einer solchen Synopse der dichterischen Einbildungskraft, die „das Nahe fern, das Ferne nah zu sehen“ vermag, verschiedenste Epochen und Mythen. Als Beispiele seien einige Gedichte genannt: „Im Ziellos-Land“ trinken zeitlich weit auseinander liegende verschiedene Armeen wie die „Phalanx“, die „Legion“ und die „Pappenheimer“ aus dem „Brunnen Zeit“. In den „Modermünzen“ „spiegeln die Geschlechter ihr Gesicht: / Runde Kaiser, prangende Ptolemäer. / Götzen sprühn im Goldglast, tiefe Seher.“ Die „Babylonische Klage“ vereinigt ,,Alexanders Antlitz“, „Cäsars Schädel“ und „Napoleons Dreispitz“ in einer Erinnerung. Diese Gedichte sind nur die augenfälligsten Konstruktionen, die Mythisches und weit entfernte Ereignisse mit der persönlichen Erfahrung der Shoah in einem Zugleich verknüpfen. Vor allem der Zyklus „Tropfen Zeit“ weist die Technik des Analogischen auf, durch die ein Eindruck der Verflüssigung der Epochen entsteht. Die „In-Eins-Bildung“ (Schelling) vermeintlich ferner Zeitebenen hat prozessualen Charakter, jedoch ohne in beliebiges Fließen abzugleiten: Vielmehr schälen sich erst aus der Gegenüberstellung, aus dem Zusammenziehen unterschiedlicher Mythen und Fakten Grundkonstanten und -gedanken heraus. Die Aufgabe der Lyrik, der dichterischen Sprache, ist es, den Tropfen Zeit eine einheitsstiftende Form zu geben und das Flüssige der Zeit zu sammeln; Symbole wie der „Dakerkrug“ oder die „Schwarzmeer-Muscheln“, „den währenden Kern“ bewahrende „triefende[] Klöster“, veranschaulichen den Wunsch nach der Bündelung des Zerstreuten. Dergestalt gelingt es, ursprüngliche Gedanken sichtbar zu machen, welche die den Dichter Immanuel Weißglas begleitende Vergangenheit „vor dem Verdunkeln“ schützen und, über persönliche Erfahrungen hinaus, „die geistige Verdichtung der wesenhaften Grundlagen von Menschtum und Geschichte“ zu schaffen vermögen.
Eine Notiz des jungen Hofmannsthal zum dramatischen Entwurf Alexander verdeutlicht genau dieses mystische Empfinden einer zeitlichen Allverwobenheit – die von Weißglas angesprochene „mehrtausendjährige Müdigkeit meines Volkes“ – und verweist wahlverwandt auf seine daraus folgende Poetologie:

Mysterienlehre: wir sind von einem Fleisch mit allem, was je war, mit Alexander, mit Tamerlan, mit den verschwundenen Rieseneidechsen und Riesenvögeln, mit allen Göttern und dem Wunderbaren der menschlichen Geschlechter. – Alexander der Große für einen gewissen x Meilen entfernten Stern gegenwärtig, ebenso für uns, – in unseren Molekülen schwingend, […].

Das Gefühl, „von einem Fleisch mit allem, was je war“ zu sein, synthetisiert Hofmannsthal im „synchronistischen Akt“, der das Urzeitliche und die Eroberer Alexander und Tamerlan vergegenwärtigt, sie „in unseren Molekülen schwingend“ sein lässt. In dieser Synthese entsteht eine Gleichzeitigkeit verschiedenster Zeitebenen, welche das persönliche Erleben in einen unendlich aufrollbaren Vergangenheitshorizont stellt: Das Ich, seine Wahrnehmungsgegenwart, ist von seinem „Zeithof“, in einer „Kontinuität von Erinnerungsauffassungen“, dem Fortwähren der Vergangenheit als strömendem Kontinuum, nicht zu trennen.
Die angeführten Erwägungen Hofmannsthals führen direkt zum Zyklus „Tropfen Zeit“ im Nobiskrug. Immanuel Weißglas nimmt hier die individuelle, traumatische Erinnerung aus dem faktisch Nachprüfbaren heraus und gliedert sie in einen kollektiven Erinnerungsrahmen. Diese Form der Memoria ist von verschiedenen Interpreten bereits angemerkt und hervorgehoben worden: Gerhart Baumann etwa beschreibt das „gesteigerte Erinnern“, das den Dichter heimsucht:

[Es] beherrscht sein Dasein, erhöht alles in das Überzeitliche, in eine patriarchalische Gegenwärtigkeit, in der Morgenland und Abendland, Biblisches mit Gestrigem, mit Heutigem, mit Immerwährendem sich zur „Babylonischen Klage“ vereinigen.

Weiterhin bemerkt Theo Buck im Nachwort zu Aschenzeit

jenes seltsam anachronistische Amalgam aus idealistischer Ästhetik, archetypischer Bildlichkeit und mythisierter Geschichtsauffassung, das die Gedichte von Weißglas, ungeachtet ihrer thematisch zentralen und höchst konkret erfahrenen Negativität, bis zu einem gewissen Grad poetisch verklärt.

Bucks Feststellung ist, gegensätzlich zu Baumanns lobender Beurteilung dieses Verfahrens der mythischen Überhöhung von „Schrecken, Tod und Vernichtung“, zwiegespalten. Es gelinge Weißglas und seiner „extrem rückwärts gerichteten Einstellung mit einer uneingestandenen Geschichtsfeindlichkeit zusammen“ eher selten, mit einer solchen literarischen Gestaltung Großes zu schaffen. Barbara Wiedemann erkennt wiederum im „Tropfen Zeit“-Zyklus Ansätze zur lyrischen Modernität:

Wenn im Nobiskrug Modernität zu spüren ist, dann hier, selbst, wenn die metrisch gebundene Reimform immer noch gewahrt bleibt.

Aufbauend auf diese Untersuchungen soll im Folgenden beispielhaft am Gedicht „Nil-Sein“, in „Tropfen Zeit“ das dritte Gedicht, gezeigt werden, wie bewusst Immanuel Weißglas seine Erinnerungen künstlerisch bearbeitet, wie er mit Hilfe eines „synchronistischen Aktes“ vom ersten, unmittelbar persönlichen Betroffen-Sein zu einer zweiten, künstlerischen Unmittelbarkeit gelangt. Gerade in einer solchen bewussten Konstruktion wird das Flüssige des Erinnerns erkennbar, gelingt es dem Dichter, „die Vibration der Erscheinungen, die die Wiege der Dinge“, die Wiege der Erinnerungen ist, wach zu rufen.

II. Dissonante Simultaneität als Struktur in Nil-Sein

NIL-SEIN

Im Lande Licht, im Lande Leer,
Einödegebunden,
Liegen sie verstreut umher,
Die Sterne, die Stunden.

Cheopsfriede,
Nilblaues Sein,
Zeitpyramide
Aus Sonne und Stein.

Das Gedicht „Nil-Sein“ stellt zwei Landschaften vor, die jeweils in einer vierzeiligen Strophe mit einem Satz skizziert werden. Die in der ersten Strophe aufgerufene Landschaft evoziert eine flache Ebene, deren Merkmale das „Licht“, die „Leere„ und die „Einöde“ sind. In der Abgeschiedenheit dieser Einöde liegen „die Sterne, die Stunden„ „verstreut umher“ – die Verlassenheit des Ortes wird spürbar deutlich. Zum einen weckt das verstreut umher Liegende ein Bild der Unordnung, des ungeformten Chaos. Zum anderen wird durch die an die Einöde gebundenen Sterne das Horizontale dieser Landschaft ersichtlich: Es gibt kein Oben, keinen Himmel, in dem die Sterne einmal waren. Durch die aufzählende Alliteration des letzten Verses werden die Sterne und die Stunden miteinander verbunden – der ewig-währende kosmische Kreislauf, illustriert durch das Himmelsgestirn, ist verknüpft mit der Vergänglichkeit der Stunden, der mechanischen Zeitmessung, die die Endlichkeit des Menschen darstellt. Die Trostlosigkeit dieser Landschaft ist mit den Händen zu greifen. „Im Lande Leer“ gibt es kein Sein, es ist „durchgründet vom Nichts / ledig allen Gebets?“, um mit Paul Celan zu sprechen. Gerade dieses Nichts, diese Leere jedoch, ist, betont durch die Alliteration, eng mit dem Licht verknüpft, das diese unbestimmte, formlose Fläche beleuchtet. So wie Ewigkeit (Sterne) und Vergänglichkeit (Stunden), sind die Helligkeit (Licht) und das Nichts (Leer) dergestalt formal verbunden.
Die zweite Strophe beruft eine völlig konträre Landschaft. Im Gegensatz zur bedrückenden Abwesenheit in der Einöde, herrscht hier geradezu eine übervolle Anwesenheit. Während die Ebene namenlos und unbestimmt bleibt, benennt die verblose Satzellipse der zweiten Strophe genauestens Ort und Zeit. „Cheops“, der „Nil“, die „Pyramide“ – diese Eigennamen zusammen entwerfen eine ägyptische Landschaft zur Zeit der vierten Dynastie (2639–2504 v.Chr.). Gerade die Verb-Losigkeit, ein elementarer Bestandteil moderner Lyrik, führt dazu, „dass die nominal gesagten Inhalte der Anschauung oder der Abstraktion ganz sie selber bleiben sollen, nicht […] in irgendeine Zeitlichkeit eingebettet […]“. Die nominalen Inhalte sind eindeutig: Im ersten Vers wird ein „Cheopsfriede“ genannt, der sich gegen das Verworrene der ersten Strophe stellt. Im zweiten Vers weckt „Nilblaues Sein“ verschiedene Assoziationen, die alle mit Fülle, mit Sein verbunden sind. Der Nil ist der fruchtbare Strom in der Wüste, der das Leben bringt und ermöglicht. Kombiniert mit der Farbe blau verstärkt sich die schöpfende Funktion des Nils, des Wassers und der Luft. Im dritten Vers steht die „Zeitpyramide“, der in ihrer Konstruktion und Funktion als Grabmal und Gedenkstätte eine weltüberwindende, weltübersteigende Architektur eignet, der die Zeit nichts anhaben kann, in der die Zeit versteinert ist. Das Enjambement vom dritten zum vierten Vers – „Zeitpyramide / aus Sonne und Stein“ – zeigt das Licht der Sonne an, das ebenfalls zu Stein geworden ist, das die Pyramide erstrahlen lässt. Mit der in die Höhe ragenden, in die Sonne übergehenden Pyramide entsteht eine vertikale Bewegung nach oben, die der ganzen Landschaft Räumlichkeit verleiht.
Beide Strophen, beide Landschaften haben auf den ersten Blick inhaltlich nichts miteinander zu tun, die zweite Strophe geht nicht zwingend aus der ersten hervor. Der heimatlose und anonyme Raum steht einer fruchtbaren, genau definierten Landschaft gegenüber. Diesen strophischen Kontrast zwischen ungeordneter Unbestimmtheit und geformter Präzision könnte man auch als „dissonantische Spannung“ bezeichnen, einem „Ziel moderner Künste überhaupt“.
Bei näherer Betrachtung kristallisiert sich jedoch eine sprachliche Bewegungslinie zwischen den beiden Strophen heraus, die aus dem Verworrenen, aus der Unruhe weg zur Schöpfung, zur Ruhe hin führt. Der Vergleich mit Dantes Göttlicher Komödie und dem dort vorgestellten Urschema christlich-platonischen Denkens liegt nahe: Gezeigt wird der Wesens aufstieg aus dem Wüsten Land in das Paradies, kraft des geistigen, schöpferischen Eros.

III. Konstruierte Räume in „Nil-Sein“ als Erinnerungsorte
Nach der Beschreibung der in „Nil-Sein“ angelegten zwiefältigen Spannung bietet sich ein weiterer Schritt in der Auslegung an, der den, bereits im ersten Teil angeführten, persönlichen „Zeithof“ Weißglas’ und dessen künstlerische Verarbeitung im Gedicht untersucht. Hierfür möchte ich als Ausgangspunkt kurz einige wichtige Punkte aus dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses des Ägyptologen Jan Assmann vorstellen, die zur Analyse als durchaus nützlich erscheinen. Assmann unterscheidet als Formen kollektiver Erinnerung zwischen dem „kommunikativen Gedächtnis“ und dem „kulturellen Gedächtnis“. Das kommunikative Gedächtnis trägt biographische Erinnerungen, die sich auf die nahe Vergangenheit beziehen und die ein Individuum mit seinen Zeitgenossen teilt. Das kulturelle Gedächtnis hingegen bezieht sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit, auf Ursprungsdaten, auf Ursprungsgeschichten, auf Epochenschwellen, die zu symbolischen, für die Gesellschaft bedeutenden Bildern gerinnen, denen etwas Erhabenes und Sakrales anhaftet. Im Unterschied zu den Inhalten des kommunikativen Gedächtnisses ist das kulturelle Gedächtnis dem Alltag entzogen und hat einen hohen Grad an Geformtheit. Die identitätsstiftende Funktion des kulturellen Gedächtnisses lässt sich besonders deutlich an dem Konzept der „Lieux de mémoire“, an den „Erinnerungsorten“ festmachen. Erinnerungsorte dienen als Kristallisationspunkte nationaler, aber auch gruppenspezifischer Vergangenheit.
Beide von Assmann definierten Gedächtnisformen lassen sich in „Nil-Sein“ vorzüglich erkennen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den dort imaginierten Räumen, in denen die jeweilige Gedächtnisform topographisch wird:

Das ursprünglichste Medium jeder Mnemotechnik ist die Verräumlichung. […] Die Gedächtniskunst arbeitet mit imaginierten Räumen, die Erinnerungskultur mit Zeichensetzungen im natürlichen Raum. Sogar und gerade ganze Landschaften können als Medium des kulturellen Gedächtnisses dienen. Sie werden […] als Ganze in den Rang eines Zeichens erhoben, d.h. semiotisiert.

Die in „Nil-Sein“ vorhandene „Verräumlichung“ der Erinnerung steht außer Frage. Das Gedicht verwendet sogar, auf den ersten Blick, beide mnemotechnischen Raumformen: In der ersten Strophe ein offenbar imaginierter Raum wie in der „Gedächtniskunst“, in der zweiten Strophe ein konkreter, genau lokalisierbarer und zum stärksten Zeichen zeitloser Raumwelt überhaupt gewordener Raum wie in der „Gedächtniskultur“.
Zunächst sei die unbestimmte, horizontale Ebene „im Lande Licht, im Lande Leer“ in Bezug zum „kommunikativen Gedächtnis“ als Speicher biographischer Erinnerung gesetzt: Auf das ursächliche Vorhandensein der persönlichen Shoah-Erfahrung in seiner Lyrik weist Weißglas im Nobiskrug mehrmals hin. Gerade in der ersten Strophe, die eine öde, inhaltsleere Fläche entwirft, liegt der Gedanke an die Deportationserlebnisse in Transnistrien nahe. Das Konzentrationslager am Bug, in dem Immanuel Weißglas von 1942 bis 1944 den täglichen Tod erlebte, jedem Wetter ausgesetzt, wird im Nobiskrug meist realitätsnah als ebene, Gras bewachsene, gefährliche Steppe symbolisiert. Die verworrene Einöde in „Nil-Sein“ verwendet diese genau definierten Beschreibungen wie „dies ganze weite Feld voll Wind und Gras“ („Massengrabschrift“), „die Heide der Ukraine“ („Ukrainische Carmen“), „umringt von Gräsern und Gefahr“ („Der Turm“) oder „im Gras, im Gas“ („Babylonische Klage“) gerade nicht, sondern transzendiert die beschriebene Ebene in eine anonyme, apokalyptische Weltlandschaft. Die Wirkung ist dadurch nicht weniger bedrohlich, vielmehr aufgrund ihrer völligen Verlassenheit noch beklemmender.
Die Erfahrung der Deportation nach Transnistrien ist monumentaler Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses der Bukowiner, der Czernowitzer Dichter, insbesondere von Immanuel Weißglas. Als biographischer Fixpunkt ist sie seiner Dichtung eingeschrieben. Das Ausgesetzt-Sein in den „Steppenweiler[n] der Ukraine“ wird in seiner Lyrik oft berufen: Es ist der „Lichtzwang“, der das Dunkel der Erinnerungen immer wieder von neuem mit Gegenlicht ausleuchten muss. Zeitlebens geht es ihm darum, das „Land Leer“ mit dem „Lande Licht“, mit der Leuchtkraft der Sterne, zu vereinen, die Erfahrungen im Erinnerungsort Gedicht zu konservieren. Gerade durch das Herausheben aus ungeformter Alltagskommunikation, aus der Oral History, die Assmann als wichtiges Merkmal des kommunikativen Gedächtnisses nennt, in eine artifizielle Form, erfährt die lebendige Erinnerung des Zeitzeugen eine Steigerung. Dies und das Transzendieren der ukrainischen Steppe in eine Weltlandschaft erhöhen die Bedeutung der unmittelbaren Erinnerung. Das kommunikative Gedächtnis erhält so den Rang einer unverlierbaren Erinnerungskultur, die für „die Einhaltung einer sozialen Verpflichtung“ – das Nie-Vergessen-Dürfen – steht.
Trotz ihrer genauen Definiertheit ist auch die zweite Landschaft in „Nil-Sein“ vor allem artifiziell, ein geistiger Zustand. Ganz analog zu Assmanns „kulturellem Gedächtnis“ lässt sich hier ein identitätsstiftender Ort finden, der, jeder Alltäglichkeit entzogen, ursprüngliche Mythen beschwört. Die Pyramide, auf der Grundlage von Friede und Schöpfungskraft, dem nilblauen Sein, entstanden, verkörpert eine zeitlose, „integrativ gesteigerte Kultur, […] eine Kultur höherer Stufe, der gegenüber die primären kulturellen Formationen […] als eine „Wildheit“ erscheinen, die abgelegt werden muss, um die „Menschlichkeit“ anzulegen. Assmann verweist weiterhin auf einen anderen Versuch, durch „Kolossalarchitektur“ eine gemeinsame Identität zu stiften, auf den Turmbau zu Babel:

Auf! Bauen wir uns eine Stadt und einen Turm,
sein Haupt bis an den Himmel,
und machen wir uns einen Namen,
sonst werden wir zerstreut übers Antlitz der Erde!

Der Wunsch, mit einem zeitlosen Bau aus Stein die Zerstreuung abzuwenden und die eigene Identität zu retten, der der Anlass für den Bau des Turms zu Babel war, ist in Weißglas’ „Nil-Sein“ von der Pyramide eingelöst. Sie leuchtet

das notwendige Gegenlicht […], das immer wieder aufscheint, – eine Verheißung in aller Verlorenheit, eine Fülle in der Leere, – Licht aus Sternen und in Steinen, ein Licht der Einbildungskraft, welches Räume überwindet, Zerstreutes versammelt, das Dasein verbürgt.

Die „Zeitpyramide“ versammelt und ordnet alles Ungeordnete, das noch in der Einöde ungeformt umher lag. Gleich einer „Zeitlos-Mulde“ bewahrt sie die verstreuten Tropfen Zeit, sie ist als Fixpunkt in der Vergangenheit identitätsstiftender Erinnerungsort des gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses einer Gruppe, die den Glauben an das Da-Sein erinnern und beschwören will. Ihre Gedächtnisfunktion gilt – vor allem in Absetzung zu der nur kurz zurückliegenden, im kommunikativen Gedächtnis gespeicherten doch zugleich unverlierbaren Erfahrung der Deportation – der Stein gewordenen Schöpfung, die mit ihrer Form Raum und Zeit meistert. Obwohl der von Weißglas hier berufene Raum in mythischer Vorzeit liegt, wird dieses imaginierte Ägypten durch die genaue Benennung greifbar, geradezu greifbarer als die namenlose Ebene. Der von Weißglas verwendete Kunstgriff, die genau kalkulierte Konstruktion, die nahe Erinnerung unpräzis fern und die ferne, erfundene Erinnerung präzis nah zu gestalten, führt zu einer ausbalancierten Simultaneität der vorgestellten Gedächtnisformen.

IV. Glaube und Zweifel des Gedächtnisses
Zur Abstützung der vorliegenden Untersuchung von „Nil-Sein“ sei auf Grigore Marcus präzise Interpretation von Immanuel Weißglas’ Gedicht „Der Turm“ hingewiesen, die bemerkenswert ähnliche Grundzüge festgestellt hat. Auch in „Der Turm“ stehen sich die Gegensatzpaare „Fläche“ (Heide-Landschaft) versus „Höhe“ (Turm), „abstrakt-bedrohlich“ (öde, hoffnungsarme Graslandschaft) versus „konkret-hoffnungsvoll“ (zu den Sternen empor reichender Turm) sowie „Verzweiflung“ versus „Glaube“ gegenüber. Ebenso wie in „Nil-Sein“, hat auch „Der Turm“ diese Simultaneitäten in der Landschaft versinnbildlicht, im Gedicht das kommunikative und kulturelle Gedächtnis in einem Erinnerungsort kondensiert, der die „mehrtausendjährige Müdigkeit“ und das erst kürzlich Vergangene lyrisch geformt ins Bewusstsein ruft.
Gerade in dem Element der Schwebe, das zwischen den in „Nil-Sein“ evozierten Erinnerungsorten besteht, in dem Zugleich von Dunkel und Licht, im Nebeneinander von fiktiver und tatsächlicher Erfahrung, erfährt der Leser die von Celan mit Büchner beschworene „für die Gegenwart des Menschlichen zeugende[] Majestät des Absurden“. „Nil-Sein“ beruft in transzendierender Form die Erfahrungsakte des Nichts und des Absoluten im selben Moment – „in der Absurdität ihrer Gleichzeitigkeit“, eine Grenzerfahrung, die sich in der Dichtung Paul Celans etwa im Symbol der „leeren Mandel“ äußert, wie Peter Horst Neumann überzeugend dargelegt hat.
Immanuel Weißglas behandelt in „Nil-Sein“ die Pflicht zur Erinnerung, die im Gedicht ebenso im Gewissen der Worte wie im Gewissen des Schweigens, des Übersteigerns ins Transzendente zum Vorschein kommt. Es ist zunächst der Zweifel am menschlichen Sein, der als auslösendes Moment die Lyrik erschafft:

Unsere Sorge sei auch weiterhin das Bleibende in uns.

In „Nil-Sein“ gibt es jedoch auch das Element des Glaubens und der Sehnsucht nach Schöpfung – diese Gleichzeitigkeit von Glaube und Zweifel, verborgen in der lyrischen Konstruktion, macht vielleicht die Besonderheit dieser schaffenden Form des Erinnerns aus:

Nicht der rückhaltlos Gläubige noch der ziellose Zweifler schaffen Formen der Cultur, sondern jene vollen Menschen thun es, deren Genius der Glaube und deren Zufall der Zweifel ist. Aus einem mystischen Gesetze heraus sind Formen die Kreuzungspunkte des Glaubens und des Zweifels, der Liebe und des Hasses.

Weißglas entwirft in seiner Lyrik unmittelbares Erinnern und ferne, mythische Vergangenheit, ohne zunächst einer Zeitdimension den Vorrang zu geben. Einzig die Titelwahl „Nil-Sein“, oder auch „Der Turm“, sowie die aufgezeigten sprachlichen Bewegungslinien in die Höhe weisen darauf hin, dass der Glaube an die Form den Zweifel überwiegt. Selbst die traumatischsten Erinnerungen können die Sehnsucht nach gebundener Form nicht vernichten, Weißglas’ unbesiegbarer „Windmühlengeist“ („Raum“) währt ewig. Der Glaube an die Form ist der Glaube an die Sprache, an „das Wort, das erdgebunden kreist“. Immanuel Weißglas hat auf diesen widerstandsfähigen Glauben an die Sprache, an seine Muttersprache Deutsch und das damit verbundene, bleibende kulturelle Gedächtnis, eindrücklich hingewiesen:

Allein die Totenköpfe, die im Geist bresthaften Berserker wussten nicht, dass die in der Erde der Sprache Wurzelnden nimmer gefällt werden können.

Joachim Jordan, aus Andrei Corbea-Hoisie, Grigore Marcu, Joachim Jordan (Hrsg.): Immanuel Weißglas (1920–1979). Studien zum Leben und Werk, Editure Universității „Alexandru Ioan Cuza“ und Hartung-Gorre Verlag, 2010

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