Joachim Sartorius: Zu Gerhard Falkners Gedicht „Die Götter bei Aldi“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gerhard Falkners Gedicht „Die Götter bei Aldi“ aus Gerhard Falkner: Endogene Gedichte. 

 

 

 

 

GERHARD FALKNER

Die Götter bei Aldi

Jahr für Jahr, wenn ich mich recht erinnere
bildeten wir kurz vor Sonnenaufgang
jene Klasse der Betörten
noch über den Vögeln
zogen unsere Gedanken, wie blinkende Pfeile
und es folgten die Finger
aader Entasis der Schenkel
aaaawie Huskies dem Schnee
unsere claims waren abgesteckt
aa(beide alles!)
aaaaund zwar bis zum Erreichen
des Planeten Tuisto
wenn es hell wurde hörten wir
Isoldes Liebestod
aa(Margaret Price als Isolde)
dann traten wir
mit nichts als Luft zwischen den Ohren
aahinaus in die Tagesvorstellung
die Häuser leuchteten voll
selbst bei Aldi
aastanden die Götter Schlange

 

Rausch und Betörung

Am Morgen, im Bus oder an der Straßenkreuzung, sehen wir manchmal Menschen mit transfiguriertem Gesicht. Sie scheinen ein Erlebnis hinter sich zu haben, das ihnen das klägliche Hirn weggeblasen hat – „mit nichts als Luft zwischen den Ohren“ –, eine Erfahrung, die sie schweben läßt, die Häuser leuchten macht und die vor Aldi wartenden Kunden mit Windjacken und Plastiktaschen in aufgereihte Götter verwandelt. Es geht in diesem Gedicht vordergründig um eine durchgemachte Nacht und einen dadurch und durch anderes besonders strahlenden Morgen. Es bleibt ein wenig offen, was dieses „andere“ alles ist: Die Entasis der Schenkel (also die kaum merkliche Schwellung des sich biegenden Säulenschaftes in der griechischen Baukunst), der Hinweis auf die von Margaret Price gesungene Wagnersche Isolde – das läßt auf eine Liebesnacht auf Umklammerung, Ekstase, den kleinen großen Tod schließen. Der Planet Tuisto, aus einem berühmten Science-fiction-Roman bekannt, ist der Planet der Toten.
Bis zu ihm, bis zum äußersten Limit also stecken die Liebenden – vögelnd „noch über den Vögeln“ – ihre claims ab. Beide wollen sie alle Territorien. Die Betörung, die blinkenden Gedankenpfeile und noch unmißverständlicher der „Schnee“ verweisen auf Kokain und Rausch. Gerhard Falkner hat immer darauf beharrt, das Unaussprechliche für sprechbar zu halten. In diesem Gedicht liefert er hierfür einen blendenden Beweis. Eine überwaltigend leichte Kette aus scharfen und genauen Bildern bildet eine Bewegung des Geistes ab, von Fülle zu Leere zu Fülle, die sich als Leuchten stabilisiert, als blanke, strahlende, geöffnete Welt. Weil „die Götter“ seit der griechischen Mythologie schon immer mit dem Süchtigen, Besessenen, Rauschhaften assoziiert werden, ist es nur folgerichtig, daß eine ganze Schar von ihnen das Gedicht beschließt.
Dies mag die eine mögliche, möglicherweise vordergründige Interpretation sein. Es drängt sich dem Leser aber noch ein weiterer Gedanke auf. Das plötzliche Sichtbarwerden der Götter bezeichneten die Griechen als Epiphanie. In einem guten Gedicht zündet die Welt. Sie wird auf eine Weise sichtbar, wie wir sie bestenfalls erahnen, meist aber hinter so viel geläufiger Sprache, hinter so vielen Verkleidungen und Verschlägen so gar nicht schauen. Epiphanie ist ein Ziel der besten poetischen Texte. Hier ist nun die blitzartige Erleuchtung der Welt selbst Gegenstand des Gedichts, so daß das Thema und seine Wirkung so gut wie deckungsgleich sind. Beunruhigend ist nur, daß dies hier ohne Schädelfracht, ohne Gehirngepäck geschieht, fast nur durch drogengeschärfte Augen und Ohren. Das entzieht der Falknerschen Epiphanie alles Erhabene, alles Bildungsbürgerliche und Altmodisch-Würdige. Die Einarbeitung heutigen Jargons, wenn man so will, der „Zeichen der Zeit“ – Aldi, Tuisto, Huskies, claims –, trägt entscheidend zu jener gewaltigen Augenblicksfreude bei, die das Gedicht vermitteln will.

Joachim Sartoriusaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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