Jochen Jung: Zu H.C. Artmanns Gedicht „Taprobane“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu H.C. Artmanns Gedicht „Taprobane“ aus H.C. Artmann: Das poetische Werk – Zimt & Zauber. –

 

 

 

 

H.C. ARTMANN

Taprobane

wenn die kindheit fertig wird
nimmt sie die tischtücher
und faltet sie nett zusammen:
maritime karten für kommende
fort-reisen in meinen eigenen
augen die nicht anderer leute
fixsterne oder fenster sind
sondern flugbares im wind
bewegliches zwischen
den beiden starren polen
die mich einfassen wie ein
links und rechts

 

Das Losungswort

Bisweilen entstehen Gedichte, die von einer solchen Klarheit, ja Luzidität sind, daß selbst von ihren rätselhaften Stellen nichts Dunkles mehr ausgeht. Ein leuchtendes Beispiel dafür ist dieses Gedicht von H.C. Artmann. Jeder versteht seine Verse. Aber wer weiß schon, was Taprobane ist? Und doch steht dieses Wort wie ein heller Wimpel über den Zeilen, die von einer fernen Welt reden, für die Taprobane das Losungswort ist.
Daran ändert auch nichts, daß es sich hier in Wirklichkeit um einen alten Namen für Sri Lanka handelt und daß der Dichter vor nunmehr zehn Jahren eine einwöchige Flugreise dorthin unternommen hat, von der er dieses Gedicht mitbrachte: hier wurde mehr als ein Entstehungsort festgehalten. Jene Insel, die man Artmann zuliebe einmal auch noch Ceylon nennen sollte, ist freilich nicht jene ferne Welt, von der hier die Rede geht – das ist die Kindheit. Oder vielmehr das, was sie für den älter gewordenen Dichter bedeutet.
„Wenn die Kindheit fertig wird“ – es ist unnachahmlich, wie allein dieses „fertig wird“ die ganze Aura der Kindheit heraufbeschwört und zugleich ihr unaufhaltsames Ende markiert. Mit einer manierlichen Geste der Wohlerzogenheit wird sie beendet und weggepackt. Nicht aber vergessen. Denn damals wurden jene Längen- und Breitengrade abgesteckt, auf denen sich die Lebensreise bewegen sollte, und zwar die dieses einen und besonderen Menschen. Und der erlebt sie und erzählt davon auf seine Weise, die niemanden zu irgend etwas verpflichten will. Gerade das aber, was ihn von anderen unterscheidet, ist das, was ihn beweglich und lebendig hält oder, wie Artmann mit einem glänzend erfundenen Wort sagt:

flugbar

Freilich sind es die Augen selbst, die hier fliegen, und nicht „mit“, sondern „in meinen eigenen Augen“ finden die „fort-reisen“ statt, und das kann wohl nichts anderes heißen, als daß es keineswegs um den Reise-Bericht als Lebens-Erzählung geht, sondern um Phantasie, Einbildungskraft und Traum: Artmann, der sich selbst gern einen deutschen Dichter nennt, ist eben Österreicher durch und durch. Und dazu gehört natürlich auch, daß die „beiden starren Pole“ gewiß nicht nur der Nord- und Südpol sind, sondern ebenso Geborenwerden und Tod meinen.
Aber das haben wir nun gewissermaßen nur noch ganz leise hingeschrieben. Denn allzu viel schwerer Sinn verträgt sich nicht gut mit dem hellen und leichten Ton, den dieses Gedicht hat, und nicht mit Artmanns poetischem Credo, das der Zauberkunst der Sprache traut und nicht dem Welterklären.
Und einmal auch nicht dem eigenen ingeniösen Einfall? Seltsam, daß – anders als im Erstdruck – später, und so auch in der schönen Kassette seiner gesammelten Gedichte, der Wimpel eingeholt, das Losungswort zurückgenommen, der Titel eliminiert wurde. Dürfen wir den Dichter abschließend bitten, ihn wieder zurückzuschenken?

Jochen Jung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00