Jörg Schuster: Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „einem, der vorübergeht.“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „einem, der vorübergeht.“ aus Stefan George / Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. –

 

 

 

 

HUGO VON HOFMANNSTHAL

einem, der vorübergeht.
Herrn Stefan George

du hast mich an dinge gemahnet
die heimlich in mir sind
du warst für die saiten der seele
der nächtige flüsternde wind

und wie das rätselhafte
das rufen der athmenden nacht
wenn draussen die wolken gleiten
und man aus dem traum erwacht

zu weicher blauer weite
die enge nähe schwillt
durch pappeln vor dem monde
ein leises zittern quillt

Wien, im dezember 1891.

 

Vorübergehende Inspiration

Unter allen Gedichten, die an eine bestimmte Person gerichtet sind, ist Hugo von Hofmannsthals „einem, der vorübergeht“ eines der merkwürdigsten. Gewidmet ist es Stefan George, dem sechs Jahre älteren Begründer des deutschsprachigen Symbolismus, der im Dezember 1891 den Kontakt zu dem erst siebzehnjährigen, dichterisch frühbegabten Gymnasiasten Hofmannsthal suchte. George, so erinnert er sich später, habe ihn spät nachts im Wiener Café Griensteidl angesprochen und ihm versichert, dass er „unter den wenigen in Europa sei (und hier in Oesterreich der Einzige) mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei“.
In den folgenden vier Wochen kommt es zu zahlreichen Begegnungen sowie zum regen Austausch von Briefen, Gedichten und Büchern. Allerdings fühlt sich Hofmannsthal vom – homoerotische Züge aufweisenden – Werben des älteren Dichters bald allzu sehr bedrängt. Er fingiert seine Abreise aus Wien, in seinem Tagebuch ist von „wachsender Angst“ die Rede. George reagiert mit Ungeduld. Als er sich von einem Brief Hofmannsthals schließlich noch beleidigt fühlt, droht er sogar mit einer Duellforderung. Hofmannsthals Vater schaltet sich ein, Mitte Januar 1892 reist George daraufhin aus Wien ab. Der Kontakt wird zwar zum Zweck der literarischen Zusammenarbeit bald wieder aufgenommen, doch die Beziehung bleibt konfliktreich und scheitert 1906 endgültig. George, der sich zeit seines Lebens als charismatischer „Meister“ mit einem Kreis gleichgesinnter Adepten umgab, musste einsehen, dass die erwünschte „Vereinigung“ im Fall Hofmannsthals nicht möglich war.
Auf versteckte Weise nimmt das Gedicht „einem, der vorübergeht“, das am 21. Dezember 1891 die Korrespondenz eröffnet, die Problematik der Beziehung vorweg. Das beginnt bereits damit, dass Hofmannsthal George das Gedicht in doppelter Form zukommen lässt. Einmal schickt er es ihm, in deutscher Schrift mit großen Anfangsbuchstaben verfasst, auf einem mit Wappen versehenen Briefbogen. Die andere Fassung – auf einer Briefkarte – richtet sich dagegen mit lateinischer Schrift, Kleinschreibung und fehlender Interpunktion ganz nach den Vorlieben Georges. Während in der einen Version also der Absender deutlich hervortritt, ist die andere ganz am Adressaten ausgerichtet. Eine weitere Spannung besteht zwischen der Funktion des Textes als Brief- oder Widmungsgedicht und seiner Überschrift. Denn während es – wie Baudelaires „A une Passante“ als berühmtes literarisches Vorbild zeigt – durchaus plausibel ist, einen Menschen, der einen im Vorübergehen fasziniert und den man nie wieder sehen wird, im Gedicht ästhetisch zu verewigen, gilt dies für den Brief, der auf kommunikativen Austausch hin angelegt ist, nicht: Ein Brief, der an einen Vorübergehenden geschrieben wird, ist ein Widerspruch in sich.
Genau an diesem Punkt setzt Georges bereits am nächsten Tag verfasste Antwort an:

aber bleibe ich für Sie nichts mehr als „einer der vorübergeht“?

Damit ist die entscheidende Frage angesprochen. Denn das Verhältnis zwischen Du und Ich steht innerhalb des Gedichts nur auf den ersten Blick eindeutig fest. Das Ich verdankt dem Gegenüber ein mit einer bedeutungsvoll-geheimen Aura umgebenes Erweckungserlebnis:

du hast mich an dinge gemahnet
die heimlich in mir sind

Wie aus den folgenden beiden Versen hervorgeht, handelt es sich hier um ein poetisches Inspirationserlebnis, für das der Wind ein traditionelles Symbol ist: Die „saiten“ werden durch den Wind zum Schwingen gebracht – das Gedicht ist die „klingende“ Antwort auf sein „Vorübergehen“. Allerdings geht dieser dialogische Bezug zwischen Ich und Du im syntaktischen Gewirr der folgenden Verse verloren, beide kommen überhaupt nicht mehr vor. Dafür steht die letzte Strophe genau in dem Versmaß, das in der ersten Strophe allein in Vers 2 auftauchte – dem Vers, der als einziger dem Ich galt. Das Du scheint in der Tat „vorübergegangen“: Der Wind flüstert nicht mehr selbst, dargestellt sind nur noch die optisch wahrnehmbaren Wirkungen des Windes, die Bewegung der Wolken und das Zittern der Pappeln. Das letzte Wort des Gedichts, „quillt“, erweckt sogar den Eindruck einer eigenen, von keiner Außenwirkung abhängigen Aktivität – es suggeriert poetische Autonomie.
Diese Autonomie beansprucht Hofmannsthal nicht nur für das symbolistische Gedicht selbst, das sich durch eine sprachlich virtuos hergestellte Deutungsoffenheit, durch die bloße Andeutung eines Sinns auszeichnet, er beansprucht sie auch für das poetische Schaffen. Was ihm vorschwebt, ist eine „vorübergehende Inspiration“ und nicht die völlige Vereinnahmung durch eine Dichter „Vereinigung“ mit militantem Gehabe. Doch das wollte George nicht wahrhaben.

Jörg Schuster, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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