John Berryman: Huldigung für Mistress Bradstreet

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von John Berryman: Huldigung für Mistress Bradstreet

Berryman-Huldigung für Mistress Bradstreet

55

Grabsteine wanken vor der Zeiten mächt’gem Wehn,
nachdem die Schädel hin sind; ihre Welt
muß taumeln, sprachlos, endlich blind
um ihren kalten Stern: Grasnelkenbüschel,
Stechginsterkissen – nichts. Schon füllt sich dunkle
aaaaaLuft
mit den Geschlagenen Flug, und ich bin ein Gefäß
toter Geheimnisse. Mord rast. Männer in
aaaaaSchützenlöchern.
Reaktorstäbe wirken still wie Rauhfrost Hirnödem.

 

 

 

Ehret die Anfänge 

Huldigungsgedichte sind heute selten geworden. Man ist gegenüber den Sinnbildern und Heroen eher skeptisch (zumal wenn sie tot sind) und findet es viel mondäner, mit der Vergangenheit zu rechten, als sie zu feiern. Wenn es also ein amerikanischer Dichter unternimmt, einer Gestalt zu huldigen, der so viel Unzulängliches anhaftet wie Anne Bradstreet und ihrer Zeit, dann muß er einen Grund haben, sich als Mensch der amerikanischen Gegenwart in dieser frühen, engen Zeit zu erkennen und ihr die schuldige Verehrung zu zollen. Aber dazu gehört viel Selbstverleugnung, Einsicht und eine ganz eigene amerikanische Weisheit.
Dabei hatte es der Verfasser dieses Huldigungsgedichtes bestimmt nicht einfach. Weder die Person seiner Verehrung noch die in ihr angesprochene Epoche sind leicht zugänglich. Sie sind in ihren Äußerungen karg und abweisend, und es ist sicher nicht von ungefähr, daß der Dichter in seinem Poem einen Kampf inszenieren muß, damit die gesuchte oder gemeinte Gestalt sich offenbare. Man darf dieses Ringen wohl weniger als ein faustisches ,ins Leben ziehn‘ verstehen denn als alttestamentarischen Kampf, in dem der Fordernde nicht abläßt, er erhielte denn den Segen.
Daß trotzdem der Segen knapp ausfallen muß, liegt am Thema: die Puritaner im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts haben die Palette nicht strapaziert: ihre Töne waren gedämpft, spärlich bemessen, schmucklos und freudlos. Der sinnenfreudigen Renaissance haben sie sich verschlossen und sich stattdessen einer calvinistischen Kahlheit verschrieben, die sie in ihrer englischen Heimat verhaßt machte. Ein mächtiger Bischof namens Laud machte ihnen das Leben sauer; und da sie ihre alte Heimat sowieso als sündig, papistisch und dem Untergang geweiht empfanden, segelten sie nach der neuen Kolonie im fernen Westen, wo sie sich ihren eigenen Gottesstaat gründen wollten.
Ihr Gepäck war in jeder Hinsicht leicht. Obwohl viele von ihnen aus den begüterten Schichten stammten, verbot die geringe Größe der Schiffe, mehr als die notwendigsten Habseligkeiten mitzunehmen. Aber auch ihre kulturellen Impedimenta wogen nicht schwer. Von der elisabethanischen Literatur, von Bacon, Marlowe oder Shakespeare (erst vierzehn Jahre tot) war ihnen nichts bekannt; was ihnen bekannt gewesen sein mochte, schien nicht geeignet, gekannt oder beachtet zu werden. Das Theater mit seiner Scheinwelt, seinem Lug aus Pappe, Kleister und Schminke, seinem weltlichen Pathos und dem Schauspielervolk, das seine Rollen wechselte, ohne sich für eine sittlich zu engagieren, galt den Puritanern als sündig und trügerisch. Allerdings rächte sich das Theater, indem die Puritaner von der Bühne unflätig verhöhnt und lächerlich gemacht wurden. So schieden sie aus England in dem angenehmen Gefühl, Märtyrer zu sein, verkannt zu werden und recht zu haben.
Anne Bradstreet, 1612 oder 1613 geboren, Tochter eines angesehenen Mannes namens Thomas Dudley, der Steward beim Earl of Lincoln, später Gouverneur von Massachusetts war, wuchs in der sitten- und glaubensstrengen Atmosphäre der kirchlichen Nonkonformisten auf. Daß ihre Kindheit und Jugend nicht ganz ohne innere Rebellion verlief, kann man einigen ihrer Selbstzeugnisse entnehmen; ihre Zweifel reichten von der Frage, ob die ,popischen‘ Christen nicht auch ,rechte‘ Christen seien, bis zum Gedanken an den Atheismus, wurden jedoch schnell unterdrückt, als Gott sie mit den Pocken heimsuchte. Immerhin hat sie später ihre Zweifel in ihren hinterlassenen Schriften an die Kinder bekanntgegeben. Darf man daraus schließen, daß ihre trotzigen Bekenntnisse zu Gott in den späteren Jahren gerade diesen Zweifeln entwachsen sind?
Sechzehnjährig wurde Anne Dudley von dem neun Jahre älteren Simon Bradstreet geheiratet, der sie um drei Jahrzehnte überleben sollte. Daß die Ehe glücklich war, scheint durch mehrere Gedichte gültig bezeugt. Siebzehnjährig fuhr sie mit ihrem Mann in die britische Kolonie Massachusetts, um den Verfolgungen des Heimatlandes zu entgehen und das Land zu finden, in dem das Reich Gottes auf Erden Wirklichkeit werden sollte. Die Überfahrt war grausig, der Ankunftstag in einen Trauertag verwandelt, weil der Sohn des Gouverneurs Winthrop beim Stehlen eines Kanus ertrank.
Die Zustände, die die Neuankömmlinge in der Kolonie vorfanden, waren äußerst unerfreulich. Es herrschte so große Armut, daß sie aus ihren mitgebrachten Vorräten den dortigen Ansiedlern beispringen mußten und sogleich ein Schiff nach England schickten, um vor Einbruch des Winters neue Reserven heranzuschaffen. Beim Anblick der unwirtlichen Küste und des allgemeinen Elends ,haderte‘ nach eigenem Zeugnis Anne Bradstreets Herz, bevor es sich der harten Notwendigkeit beugte.
Der Segen, um den Anne Bradstreet rang, bevor ihn John Berryman von ihr erflehte, war nicht leicht errungen. Der Gottesstaat, den die Pilger in Massachusetts errichteten, war dem Gott des Alten Testaments geweiht, dem eifernden Gott, dem Gott der Strafe, der Rache und des unerbittlichen Bundes. Bis zur Botschaft Jesu, die von Gottes Liebe handelt, waren diese selbstgerechten Wahrheitsverwalter anscheinend nie vorgedrungen. Ihr Staat war so unduldsam wie Calvins Genf oder das Spanien der Inquisition: Verbannung, Exkommunikation, Enthauptung, Verbrennung wurden zahlreich geübt, um Gottes Macht und Herrlichkeit sinnfällig zu verkünden. Anne Hutchinson, die beste Freundin Anne Bradstreets, äußerte Zweifel, ob der Gott, den sich die Puritaner geschaffen hatten, wirklich existiere, und erklärte, das innere Licht sei für den Stand der Gnade wichtiger als Moralismus, Gesetz und die Demonstration rein äußerlicher Frömmigkeit. Sie wurde verbannt und exkommuniziert, worüber zum anderen Mal Anne Bradstreets Herz haderte; aber die Macht der Geistlichkeit war so groß, daß man ohne Zugehörigkeit zur Kirche rechtlos und geächtet war.
Boston, wo der gefürchtete Pfarrer John Cotton eine Schreckensherrschaft der Intoleranz errichtet hatte, wurde von der neuen Gruppe gemieden, die sich in Newton, dem heutigen Cambridge, niederließ. Aber schon nach fünf Jahren, 1635, zogen die Bradstreets weiter nach Ipswich, nicht weit von der Küste, und von dort nach Cochichowicke, dem heutigen Andover. Dort fanden sie einen reizenden Fleck Erde zwischen einem Flüßchen und einem hübschen See, mitten in einer hügeligen Parklandschaft mit fruchtbarem Boden. Dort steht auch heute noch das alte Haus der Bradstreets, beschattet von einer riesigen Ulme.
Hier mag Anne Bradstreet ein ausgefülltes Leben geführt haben. Die Gründung einer neuen Heimstatt, in einem neuen, unberührten Land, umgeben und bedroht von Indianern und Wölfen, auf einem Boden, der nie vom Pflug berührt worden war und erst für die Landwirtschaft bereitet werden mußte, war für eine junge Frau aus Englands gehobenem Bürgertum sicher keine leichte Aufgabe. Aber drückender als alle Pflichten und Mühen, den Umständen ein erträgliches Leben abzugewinnen, war ihre Kinderlosigkeit, die sie sogleich als Strafe Gottes empfand, denn der Gott der Puritaner war schnell mit Strafe und Belohnung zur Hand, wobei die Strafe stets verdient, die Belohnung immer unverdient war.
Was mag die junge Frau inmitten dieser harten Tagesarbeit dazu bewogen haben, „in einigen Stunden, die dem Schlaf und anderer freier Zeit abgerungen waren“, Verse zu schreiben? Und zwar mit einer Ausdauer und in einer Menge, die angesichts dieser pflichtbewußten Beschränkung erstaunlich ist. Was trieb sie dazu?
Ein wenig scheint sie erblich beeinflußt gewesen zu sein. Ihr Vater hat sich, soweit das seine ernste Lebenführung zuließ, auch in der Poesie versucht. Aber das eigentliche Motiv zum Schreiben scheint für Anne Bradstreet der nicht ganz bewußte Wunsch gewesen zu sein, wenigstens in Worten und Gedanken mit dem alten Heimatland eine Verbindung zu wahren, die ihr sonst verwehrt war. Der Trieb, das in England gesammelte Bildungsgut zu verwerten und sich das Überlieferte aus eigener Mühe doppelt sicherzustellen, wird dabei keine geringe Rolle gespielt haben. Ihre ersten Dichtungen sind daher auch schlecht und recht gestoppelte und geholperte Bildungsepen – Gelesenes aus den verschiedensten Wissensgebieten in Verse geklittert und auf Biegen und Brechen mit Reimen versehen. Ihr längstes Opus, Die vier Monarchien, das mit über viertausend Zeilen ein Fragment geblieben ist, scheint ziemlich wörtlich von Walter Raleighs History of the World und anderen Werken übernommen, die damals im Schwange waren. Milton allerdings, der ihr Zeitgenosse war, scheint sie weder zur Kenntnis genommen noch gelesen zu haben. Vermutlich wären ihr aber sein Paradies und seine Hölle auch zu unbiblisch gewesen.
Zur Veröffentlichung waren diese poetischen Versuche nicht bestimmt. Sie sammelten sich in unzähligen Heftchen in ihrer Wohnung und sollten wohl nicht mehr sein als ein schöpferischer Zeitvertreib. Aber John Woodbridge, Pastor der Kirche in Andover und Schwager Anne Bradstreets, nahm die Manuskripte mit sich nach England und veröffentlichte sie 1650 anonym, angeblich um einer unautorisierten und für die Autorin nachteiligen Veröffentlichung vorzubeugen. Wie die Gedichte der „Zehnten Muse, vor kurzem in Amerika emporgeschossen“, kritisch beurteilt wurden, ist nicht mehr festzustellen; sicher ist, daß eine neue, sehr erweiterte Auflage erst 1678, nach Anne Bradstreets Tod, versucht wurde.
Wenn man überhaupt etwas über die kritische Aufnahme sagen kann, dann jedenfalls dieses, daß viele Leute meinten, eine Dame solle andere und bessere Dinge zu tun haben als zu dichten, und daß man sich von der Poesie eines weiblichen Wesens lieber nicht allzuviel versprechen solle. Andere, identifizierbare Verwandte oder Bekannte Anne Bradstreets zollten dem Buch überschwengliches Lob. Die Verfasserin selbst, geschlagen mit dem schlechten Gewissen, das in Amerika gewissermaßen als wesentlichster Bestandteil Neu-Englands gilt, hat sich in ihren Dichtungen immer für ihre musische Beschäftigung entschuldigt und bescheiden behauptet, daß es mit ihrem Können nicht weit her sei. Da sie aber Frau war, ist sie gleichzeitig mit den Zeitgenossen, die dem weiblichen Geschlecht die Eignung zum Dichten schlechthin absprachen, kräftig ins Gericht gegangen.
Die selbstgeäußerte Bescheidenheit war auch nur so lange berechtigt, als sie ihre noch in der alten Heimat, in England erworbene Bildung repetierte und mit konventionellen Allegorien konventionelle Platitüden von sich gab. Ihre Lebensumstände zwangen sie jedoch, von ihrem persönlichen Schicksal und ihrer Umgebung mehr Notiz zu nehmen. Denn im Laufe der Jahre gebar sie acht Kinder und hatte das Glück, die neue Welt nunmehr durch das Bewußtsein ihrer Kinder zu erleben. Sie empfand die Religion nicht mehr ausschließlich als eigenes Problem, obwohl sie in ihren häufigen Krankheiten immer noch eine gerechte Strafe für ihr Nicht-Genügen erblickte, sondern als Erlebnis, für das sie ihren Kindern Rechenschaft schuldete. So entstanden die für ihren „lieben Sohn Simon Bradstreet“ geschriebenen Meditations, eine Art parabelhafter Spruchweisheit in schöner Prosa, und durch die Liebesmühe, die in jeder Zeile spürbar ist, ein erstes Stück wahrhaft puritanisch-amerikanischer Literatur. Darüber hinaus gelang ihr in den Contemplations, dreiunddreißig siebenzeiligen Gedichtstrophen, so etwas wie eine erste amerikanische Naturlyrik: wiederum wohl mit den Augen der Kinder sah sie Sonne und Mond, Wolken und Sterne, bemerkte Bäume und Blumen, Jahreszeiten, Vögel, Insekten, weglose Wälder und sprudelnde Gewässer – allerdings keine Menschen. Gewiß fehlte auch bei dieser Lyrik die Moral nicht und wurde gebührend auf den Schöpfer aller Dinge hingewiesen, aber die Schöpfung selbst war nicht mehr bloße Funktion, sondern wurde mit den Sinnen wahrgenommen und ins Gedicht eingeschlossen. Und neben Versen, die von stilisierten Gefühlen für ihre nächsten Lebensgefährten kündeten (Vater, Kinder, Mann, Schwester), stand als unmittelbare Äußerung die Elegie auf das Haus in Andover, das am 10. Juli 1666 abbrannte, mit vielen Dingen, die Anne Bradstreet ans Herz gewachsen waren, wahrscheinlich auch mit manchen Schriften, die uns verloren gegangen sind. Gewiß endete auch dieses Gedicht mit der Ergebenheit in den Willen dessen, der nach Belieben geben und nehmen kann, aber es blieb voller Trauer. 1672 ist Anne Bradstreet, gerade 60 Jahre alt, nach längerer Krankheit an der Auszehrung gestorben. Sie wurde vermutlich in Andover begraben, aber die Stätte ihres Grabes ist unbekannt.
Was ist an dieser Persönlichkeit so groß oder beispielhaft, daß im Jahre 1956 ein Dichter und Professor der Geschichte den Drang verspürt, sie zu feiern? Was hat dieses leidenschaftliche Epos angeregt und zu dieser alttestamentarischen Verknappung der Sprache geführt, die Geschicke, Kämpfe und Leiden dieser Gestalt mit Spannung lädt und den Leser nicht losläßt?
Vielleicht hat John Berryman in den Versen und Prosasprüchen Anne Bradstreets erkannt, daß hier zum ersten Mal ein spezifisch amerikanisches Bewußtsein am Werk ist. Weder das Pioniererlebnis noch das puritanische Erbteil sind jemals ganz aus dem amerikanischen Denken geschwunden. Der Pragmatismus ist dadurch beeinflußt, aber mehr noch ein Apostelgefühl, das ,dem Amerikaner‘ schlechthin innewohnt. Von den Vorvätern hat er den Glauben übernommen, daß das Wohlverhalten, individuell oder kollektiv, den Segen der weltlenkenden Macht herbeizwingt; wenn dieser Segen ausbleibt, kann das nur an einer störenden Kraft liegen, die dem Wohlverhalten entgegenwirkt und es pervertiert. Daher stammen die vielen Phobien, die das amerikanische Leben charakterisieren, aber auch der rührende Heilsglaube, daß die Völker der Erde erlöst sein werden, wenn sie sich den ,American Way of Life‘ zu eigen machen.
Insofern ist die Huldigung dieses Gedichtes und die Besinnung auf Anne Bradstreet sehr logisch. In ihr und ihrem Werk ist zum ersten Mal der Übergang von der englischen Tradition zur amerikanischen Eigenständigkeit vollzogen, bei ihr sind Tendenzen und Sentimente ausgesprochen, die zum Bestandteil des amerikanischen Kulturlebens geworden sind. Walt Whitman und Mark Twain sind ihr, im Guten und Schlimmen, ebenso verpflichtet wie etwa Robert Frost oder Saul Bellow – und nicht zuletzt auch der Autor dieser Huldigung, der seine Sprache nach dem strengen und klaren Leben dieser ,Zehnten Muse‘ gestaltete.

Walter Hasenclever, Nachwort

 

 

John Berryman: Homage to Mistress Bradstreet bei der Poetry Foundation

 

Fakten und Vermutungen zum Autorin

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + MAPS 1, 2 & 3 + Poets.org

 

I Don’t Think I Will Sing Any More Just Now, ein Film von Carol Johnsen von 1974 über John Berryman.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00