Jørgen Sonne: Gedichte 1950 – 1992

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jørgen Sonne: Gedichte 1950 – 1992

Sonne-Gedichte 1950 –1992

IN MEMORY OF MARY ANNING

Ein Grund und ein Himmelsrand aus grünem Lehm
um das Dunkeln der weitgähnenden Felsenhöhle;
und davor, zwischen niedergebrochenen
aaaaaRiesenzähnen
der Felsblöcke, leibhaftig Mary Anning,

junge Dame in uralte Sachen für Damen gekleidet,
Mantille auf dem knöchellangen Glockenturm von
aaaaaKleid,
eine etwas einsame Gestalt pathetischer Kultur
in obgenannten Umgebungen,

das weiße Gesicht, eine Geste hinab mit der Hand:
Messingschild auf Gemälde, in Schnörkeln eingraviert:
die Tochter von dem-und-dem fand in dem-und-dem Jahr
diese –

und der Saal rahmt die unbegreifliche Mary Anning ein
mit mehr unbegreiflichen chinesischen Zeichen aus Knochen
von der Größe des wilden und fetten Gemälde selbst,
Walechsen

Vor-Victorianik im Rahmen von Reith-Leias Jura;
schenkelgroße Rückenwirbel in Reihen, ein betrunkner Schildermaler
löste nicht besser Alphabete auf an Shanghais Mauern
und schließt mit einem langen empfindlichen Stupsrüssel ab. –

Irrer Höherer Mathematiker, mit dieser Reihe
deiner meerblühenden Binominal-Formel,
geformt von Picasso und allen Tachisten in Hoppla:
Bin dieses ICH! Ist dies der Fötus und die Fische

und die ersten Eier in der leibhaftigen Mary Anning, die ersten
wackelnden Zellen ringsum das glühende Ei der Erde
im  u n a n g e n e h m e r e n  Ozean der ersten Zeiten
aus elektrischem Sturm, aus knisternden Gasen und Säuren,

Mutterschoß der verstorbnen Mary Anning und des Unterzeichneten –!
Inkompatibel sind mir Finder und Fund, ergreifend
der Zusammenstoß der Zeiten von Wollglocke und Knochen-Kalligraphie,
doch ich besinge

die belebenden Zeichen schöner Graphik der wunderbaren Meerechsen,
das Wühlen der unfaßbaren Mary Anning in Höhlen und Grauen,
und dieses gewaltige Meer, das um uns wogt, in mir
in einem Kensington-Museum, seinen rasenden Raritäten.

 

 

 

Editorische Notiz

Jørgen Sonne, am 15.10.1925 in Kopenhagen geboren, hat 1950 mit dem Gedichtband Korte digte (Kurze Gedichte) debütiert. Darauf folgten 1951, 1952 und 1954 die Bände Delfiner i skoven (Delphine im Wald), I en levende tid (In einer lebendigen Zeit) und Italiensk suite (Italienische Suite). Seine lyrische Schreibweise hat Sonne damals – mit deutlicher Abgrenzung gegen den „weichen Ton“ der ihm zeitgenössischen dänischen Lyrik – in dem Gedicht „An einen Menageriebesitzer“ (1951) umschrieben:

Ich gebe dichten, melodischen Rhythmus
der in verfeinerte Wortklänge gelegt wird,
obendrein mit einem Stil – unbekannter Begriff im Dänischen, meiner Muttersprache bisher.

Den hohen Anspruch an sich selbst hat Jørgen Sonne nicht zuletzt aus der Beschäftigung mit fremdsprachigen Autoren gewonnen. Er hat Geschichte und Englisch studiert (und von 1958 bis 1968 als Gymnasiallehrer gearbeitet) und hat im Laufe der Jahre eine umfassende Tätigkeit als Übersetzer entfaltet – nicht nur aus dem Englischen (1995 ist er mit dem Übersetzerpreis der Dänischen Akademie ausgezeichnet worden). An von ihm übersetzten Autoren, deren Namen andeutungsweise auch als Orientierungsmarken für Jørgen Sonnes Ausdruckswillen stehen können, seien genannt: William Blake, Geoffrey Chaucer, John Donne, T.S. Eliot, Ezra Pound; an Franzosen: Lautréamont (Isidore Ducasse), Arthur Rimbaud und François Villon, von dem Sonne „Das Testament“ übersetzt hat. Eigens hervorzuheben ist die umfangreiche Anthologie Die französischen Surrealisten (1994), in der Jørgen Sonne von vielen Autoren erstmals Textproben auf dänisch gibt.
Der Gedichtband Midtvejs (Mittwegs) aus dem Jahre 1960 leitet eine zweite Phase von Jørgen Sonnes Lyrik ein. Sie verläuft gleichzeitig mit dem Auftreten einer jüngeren Generation dänischer Lyriker (Inger Christensen und Klaus Rifbjerg gehören dazu), mit der Jørgen Sonnes Texte kaum wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Rejsekoncert (Reisekonzert) 1962, Krese. Rhapsodi af digte (Kreise. Rhapsodie von Gedichten) 1963, Huset. Idyller (Das Haus. Idyllen) 1976, Eroterne. Serie (Die Eroten. Serie) 1977, Nærær. Suite på Rejsen (Nähe. Suite auf der Reise) 1980 und Nul. Forsøg (Null. Versuche) 1987 lauten die Titel von Lyriksammlungen aus dieser Phase. Sie zeigen die Konstanz der Grundthemen von Jørgen Sonnes Gedichten an, zumal des Themas der erotischen Spannung zwischen Nahem und Fernem, Eigenem und Fremdem; „die Mischung aus Exklusivität und Offenheit zur Welt ist persönlich, intensiv, mit einer intellektualistischen Glut, die in der dänischen Tradition ungewöhnlich ist“, schreibt der dänische Kritiker Torben Brostrøm.
Als Prosaautor ist Jørgen Sonne mit zwei Romanen und einem Erzählungsband hervorgetreten: Blå turist. En rejsebog (Blauer Tourist. Ein Reisebuch) 1971, Natten i Rom (Die Nacht in Rom) 1983 und Elskovs grønne Ø. Historier (Die grüne Insel der Liebe. Geschichten) 1984. Außerdem liegen von ihm zwei Bände mit autobiographischer Prosa vor: Derudá. 25 År gennem Danmark (I) – Da hinaus. 25 Jahre durch Dänemark (I) – 1978 und Fra Jul til Jul. Mulige erindringer (II) – Von Weihnacht zu Weihnacht. Mögliche Erinnerungen (II) – 1991.
Seine reiche essayistische Produktion hat Jørgen Sonne mehrmals zusammengefaßt, unter anderem in: Horisonter. lntroduktioner og Essays (Horizonte. Einführungen und Essays) 1973 und De purunge gamle. Klassikere og kommentarer (Die blutjungen Alten. Klassiker und Kommentare) 1995.
Zu Jørgen Sonnes 70. Geburtstag haben Per Olsen und Søren Schou 1995 den Sammelband Denne Sonne (Dieser Sonne) herausgegeben.

Die 31 Texte des vorliegenden Bandes sind zwei Gedichtsammlungen entnommen, die Jørgen Sonne selber aus seiner lyrischen Produktion zusammengestellt hat: År, Sammenvalgte Digte 1950 – 1965 (Kopenhagen 1965) und DAG Komposition af Digte 1965 – 1990 (Kopenhagen 1991). Das Gedicht „Weh“ stammt aus dem Band have. Fablerne (Kopenhagen 1992), „Mein Freund Lorenz“ ist auf dänisch noch nicht gedruckt.
Auf deutsch waren bisher 14 Gedichte von Jørgen Sonne veröffentlicht: „The White Horse Uffington“ und „Shanty“ in: Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1987/88. Herausgegeben von Christoph Buchwald und Jürgen Becker. Darmstadt und Neuwied 1987; „Das Moor“, „Frühe Rezepte (aus der Hölle)“, „Noches – Ein Blinder in der Metro“, „Von oben gesehen – Bhaneswar“, „Übung – Hinayana“, „The White Horse – Uffington“, „Certainly Salisbury“, „Durch die Zeit“, „♀“, „Sommertanz“ und „Ballade für einen Dichter“ in: Gregor Laschen/Harly Sonne (Hrsg.) Mein Gedicht ist mein Körper. Neue Poesie aus Dänemark (= Erster Band der Reihe Poesie der Nachbarn). edition die horen 8. Herausgegeben von Johann P. Tammen. Bremerhaven 1989; „Die Klappmänner“ und „Lenzend“ in: die horen. 36. Jahrgang Band 2/1991, Ausgabe 162.
Übersetzt haben diese Gedichte: Michael Buselmeier, Hanns Grössel, Gregor Laschen, Peter Urban-Halle und Henning Vangsgaard. In den vorliegenden Band sind mit freundlicher Genehmigung der jeweiligen Übersetzer folgende Gedichte – teilweise leicht verändert – aufgenommen worden: „Lenzend“, „Shanty“, „Sommertanz“, „Certainly Salisbury“, „Das bist du“, „Blinder in der Metro“, „Über ein weißes Pferd“, „Das Moor“ und „Übung“.

Hanns Grössel

 

Über dieses Buch

In der Tradition des Surrealismus stehend, zählt Sonne zu den Begründern moderner Poesie in Dänemark.
Mit dieser Auswahl wird Jørgen Sonne, einer der bedeutendsten dänischen Lyriker der Gegenwart, in Deutschland erstmals angemessen vorgestellt. In kräftigen, dissonanten Bildern erzählen die Texte von Liebe und Sexualität, Nähe und Ferne, Gewalt und ihren Opfern und beschwören urzeitlich-apokalyptische Landschaften.

Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

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