Joseph Anton Kruse zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Vom Zielen und vom Zittern“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Vom Zielen und vom Zittern“ aus dem Band Peter Rühmkorf: Paradiesvogelschiß. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Vom Zielen und vom Zittern

Das Leiden denkt, es würde ewig währen.
Im Gegensatz zu unserer lieben Lust –
Die ist sich ihrer Endlichkeit bewußt
Und andererseits geneigt,
sich mit Bedenken zu beschweren.

So scheint die Welt kein Nervenruhekissen.
Z.B. wo du in Verfolgung eines Zieles
– sagen wir, einer bang begehrten Braut –
bereits im Anflug ahnst, sie würde dir entrissen:
Sie wird! Zu Recht. Und es entgeht dir vieles,
weil aus verzagten Friedhofsaugen angeschaut,
ist die Partie meist schon im vorhinein verschmissen.

Selbst das Gedicht, das sich zu skrupelvoll bedenkt,
führt auf die Stufe zu,
wo sich dem Vers der Fuß verrenkt.

 

Schluß des Alphabets, stabend

Er ist mit allen poetischen Wassern gewaschen und weiß seine Vorgänger mit dem barocken Gestus von Vergänglichkeit und Lebensangst hinlänglich auszubeuten. Mit anderen Worten: Er bringt das zu Ende und meisterlich an den Leser, was vom Bänkelsang bis zur ironischen, gar absurden Weise gesagt und gesungen wurde. Da wußten die Reime stets, daß wir mit Mann und Maus zitternd und zagend untergehen, daß uns irgendwann die Kräfte verlassen und wir nicht unendlich die Macht besitzen, einmal ins Auge gefaßte Ziele auch wirklich zu erreichen. Irgendwann überfällt uns schließlich doch ein Handicap. Das sich dann als ewig vorkommende „Leiden“ und die sich andererseits des Endes bewußte liebe „Lust“ durchqueren stabreimend unsere Existenz und lehren uns, ob wir wollen oder nicht, Mores. Solche Verse finden mit Recht ihren Platz in Rühmkorfs letzter Sammlung Paradiesvogelschiß. Eine metaphorisch abgehobene Ornithologie trifft auf die alltägliche Banalität.
Es handelt sich somit im wörtlichsten Sinne um ein Sinngedicht, um das ins Wort gebrachte Nachdenken über unsere Existenz, je näher sie an ihrem zu erwartenden Schluß angelangt ist. Philosophische Reflexionen wurden immer auch Versen anvertraut. Rühmkorf hat sich nie gescheut, dabei stets den Alten zu geben, bevor er es in der Tat war. Die Weisheit kann einen auch in jüngeren Jahren bereits ereilen. Jetzt paßt nach gewohnter Regel jedoch alles bei ihm zusammen: Lebensalter und Alterssicht. Drei ungleiche Strophen mit zusammen fünfzehn Zeilen räsonieren über das Unvermeidliche. Fünf Zeilen stehen gegen sieben und drei, wobei die letzten die poetologische Moral von der Geschichte ableiten. In den Versen hapert es bewußt bei der vierten Zeile und der vorletzten beim Endreim, während der Rest nach klassischem Muster dem männlichen und weiblichen Wechsel der Schlußworte kunstvoll folgt. In der zweiten Strophe hat sogar insgesamt der helle, möglicherweise schrille Ton die Oberhand erlangt und eine Verdreifachung des umarmenden Reimes zur Folge. Wie sehr das tonangebende Kissen die Ruhe für unser Befinden darstellen könnte, so sehr wird dessen offensichtlich mangelnde Vergleichsmöglichkeit mit der Welt durch die als Echo folgenden zwei zugehörigen Reime ins Abseits verwiesen.
Mit Recht haben wir übrigens den weiblichen Teil des Publikums fürs erste beiseite gelassen. Denn gesprochen wird eindeutig vom männlichen Dichter, und zwar nicht ohne Koketterie, in Richtung der Geschlechtsgenossen. Des, ebenfalls mit eifrigen Stabreimen versehenen, Gegenstands der Begierde, der „bang begehrten Braut“, gehen die Herren der Schöpfung im Laufe ihrer Lebensbahn schmählich verlustig. Gibt der Mann etwa zu früh zu erkennen, daß er den Becher bis zur Neige leeren will, obgleich er eigentlich schon mit einem Fuß am Rand des Grabes steht? Kann man geistige Machtlosigkeit und körperliche Impotenz lyrisch anrührender ins Gedicht bannen? Rühmkorf wagt wie so oft viel und gewinnt in diesem Falle alles.
Wir haben genauso viel und wahrscheinlich noch öfter von der so hoch gerühmten Entsagung gehört. Hier zeigt sich, daß hinter ihr eine wahre Not lauert, die sich zur Tugend mausert. Schließlich handelt es sich bei unserem Weltaufenthalt eben nicht um ein gefühlvolles Glasperlenspiel, was eher respektlos als besagtes „Nervenruhekissen“ apostrophiert wird und eine gegenläufig hübsche deutsche Kontraktion darstellt. Es handelt sich nicht um hehre Stufen, die wir wie der gescheiterte Magister Ludi Josef Knecht bei Hermann Hesse bewältigen mögen, sondern um schlichte Hindernisse durch das Alter, dem selbst der Vers seinen Tribut zu entrichten hat. Der hat in diesen Zeilen einfach nicht alle Ösen zu finden gewußt.
Man muß also des Endes ohne Wenn und Aber gewärtig sein. Das gilt nicht nur für die alten Männer, das betrifft auch schon die jungen, und darüber hinaus trifft das für die weibliche Leserschaft alles in allem genauso zu. Doch war gerade diese, oder wenigstens ein weibliches Original unter vielen, die geheime Ansprechpartnerin dieser Zeilen. So ergibt sich wie nebenbei ein Liebesgedicht über das unaufhaltsame Scheitern einer früher möglichen erotischen Beziehung. Ein liebenswürdiger Anschlag geht allein schon wegen der uns bewußten Altersdefizite fehl. Gegen den Tod anzudichten und dabei das Wort „Friedhof saugen“ zu erfinden, gehört zu jenen Besonderheiten, für die jeder Liebhaber des Lebens wie der Lyrik dankbar sein wird. Rühmkorfs Fundus für alle existentiellen Wechselfälle ist unerschöpflich geblieben.

Joseph Anton Kruse, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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