Jürgen Becker: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „call it love“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „call it love“ aus Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

call it love

jetzt summen in den nackten häusern die körbe
auf und nieder
aaaaaaaaaaaaalodern die lampen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabetäubend
schlägt der april durchs gläserne laub
springen den frauen die pelze im park auf
ja über den dächern preisen die diebe den abend
als hätte wie eine taube aus weißem batist
als hätte unvermutet und weiß und schimmernd
die verschollene hinter den bergen, den formeln,
die ausgewiesne auf den verwitterten sternen,
ohne gedächtnis verbannt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaohne paß ohne schuhe
sich niedergelassen auf ihre bittern
todmüden jäger
aaaaaaaaaaaaaaschön ist der abend.

 

Eine Realität im Konjunktiv

In das Taschenbuch, das seine zwischen 1955 und 1970 entstandenen Gedichte sammelt, hat Hans Magnus Enzensberger dieses Gedicht nicht aufgenommen. Das ist schade, denn es ist eines seiner schönsten. Veröffentlicht in seinem ersten, 1957 erschienenen Gedichtband verteidigung der wölfe, steht es dort in der Gruppe der „freundlichen gedichte“. Aus dieser Gruppe finden wir in der Taschenbuchausgabe nur drei Gedichte. Vergleicht man weiter, findet man die Gruppe der „traurigen gedichte“ mit nur einem, die Gruppe der „bösen gedichte“ dagegen mit sieben Beispielen vertreten.
Wer seine Bücher so bewußt und klug komponiert wie Hans Magnus Enzensberger, wird bei der Auswahl, der Bewertung seiner poetischen Arbeit nach bestimmten Prinzipien vorgehen. Auch wenn man diese Prinzipien nicht genau kennt, bleibt es in jedem Fall bemerkenswert, wie die Taschenbuchauswahl einen bestimmten Aspekt in der poetischen Existenz Enzensbergers herstellt. Es ist der, den man ohnehin zu kennen glaubt, der das Image vom politisch engagierten, zornigen, „bösen“ Enzensberger bestätigt.
In der Situation des Jahres 1970 konnte man auch nichts anderes erwarten: die Debatte um den politischen Auftrag des Schreibens hatte den Höhepunkt der Polarisierung erreicht; das in Enzensbergers Kursbuch vorgesehene Ende der Literatur war durch die Praxis noch nicht widerlegt; Enzensberger selber dürfte voll beschäftigt gewesen sein mit dem Versuch, der durch ihn mitbestimmten Situation wieder zu entkommen, das heißt auch, wieder für eine Überraschung zu sorgen. Die Überraschung bestand darin, daß sich Enzensberger überhaupt zu seiner lyrischen Existenz bekannte; daß er zugab, in den Jahren des äußersten Mißtrauens gegen alles Poetische still und heimlich weiter seine Gedichte geschrieben zu haben; andere freilich als zuvor, sicher nicht seine besten, sicher nicht solche, die harmonisch mit dem „call it love“-Gedicht hätten koexistieren wollen. Denn dieses Gedicht widerspricht dem Image des Polit-Poeten; es sorgt für eine Irritation, die mich vollends verwirrt, wenn ich mich an Enzensbergers alte Anweisung erinnere, seine Gedichte als Gebrauchsgegenstände zu verstehen. Zu welchem Gebrauch soll es nützen? Es war damals schon, zur Zeit seines Entstehens, Mitte der fünfziger Jahre, eine Ausnahme. Seine sprachliche Eigenart, die in den ersten Sätzen vorgenommene Verschmelzung syntaktischer Elemente zu einem Zusammenhang, in dem die Wörter und Satzteile sich mehrdeutig aufeinander beziehen können (ein Verfahren, das beispielsweise die Mehrschichtigkeit des Bewußtseins und das gleichzeitige Wahrnehmen verschiedener Vorgänge abbildet), diese Eigenart rückte das Gedicht in die Nähe einer literarischen Tendenz, die man damals die experimentelle nannte. Enzensberger hatte zu dieser Tendenz ein gebrochenes Verhältnis; er lehnte sie ab in dem Maße, wie sie ihn beschäftigte und interessierte. Die Spuren zeigt dieses Gedicht.
Es zeigt zugleich, wie frei man beim Gedichteschreiben verfahren kann, wenn nicht unmittelbare Absichten dabei wirken, sondern allein die Impulse der sprachlichen Phantasie. Deshalb entsteht kein lyrisches Nirgendwo. Die erste Zeile verweist deutlich auf eine konkrete Realität: anonyme Hochhäuser, in denen die Fahrstühle funktionieren. Gegen diese Erfahrung, gegen diese unbedingt zeitgenössische Wahrnehmung spricht aber zugleich etwas anderes, etwas von Natur, Jahreszeit, Frühling und Sinnlichkeit, etwas Kreatürliches und Märchenhaftes – ein Widerspruch also entsteht, der seinerseits eine Realität im Konjunktiv erzeugt; einen Zustand, der hätte sein können; eine Utopie.
„Call it love“ – nenn’ es Liebe, was immer auch dieses unbennbare Etwas sein mag, das verschollen, ausgewiesen und verbannt ist; das wir zögern, beim Namen zu nennen, und das doch unsere Empfindungen und Gefühle bestimmt – das in jedem Fall imstande sein könnte, zurückzukehren, da zu sein und letzten Endes Versöhnung zu stiften.
Warum zitiert Enzensberger dieses Gedicht nicht mehr? Ich dementiere ja auch: dieses Gedicht kann durchaus zu etwas nützen. Und es gibt dann wirklich diese Abende, an denen man mit dieser Zeile hinausgehen und sagen kann:

schön ist der abend.

Jürgen Beckeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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