Jürgen Engler: Zu Norbert Hummelts Gedicht „Friesisches Sonett“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Norbert Hummelts Gedicht „Friesisches Sonett“ aus dem Gedichtband Norbert Hummelt: knackige codes. –

 

 

 

 

NORBERT HUMMELT

Friesisches Sonett

die ebb. die flut. die marsch. der strand.
die warf. die wurt. der priel.
das watt. die dün. der kolk. der sand.
der schlick. das brack. das siel.

die well. die wog. die gischt. der wind.
das fehn. der torf. die wiese.
das tief. das feld. das gras. das rind.
die geest. der grog. der friese.

der fisch. die krabb. die kräh. die möv.
das meer. das schiff. der hafen.
der klunt. der rahm. der tee. das stöv.
die küh. die pferd. die schafen.

das land. die see. der sturm. der deich.
das vieh. der mensch. die leich.

 

Einsilbig

Eine redselige Lesart verbietet sich. So einsilbig wie das Gedicht kann sie freilich nicht sein. Bis auf vier zweisilbige (die weiblichen Reime) bestehen seine Wörter aus nur einer Silbe. Vom Küstenwinde verweht würden anhängende e-Laute sowieso. Besser sie gleich weglassen: „die well. die wog“; „die krabb. die kräh. die möv“.
Daß das „Friesische Sonett“ als englisches (drei Quartette und ein Couplet) daherkommt und nicht als französisches, hat seinen Sinn, zählt doch das an der Nordseeküste gesprochene Friesisch nicht als Mundart, sondern als eigene Sprache, die zum Englischen überleitet. Und dieses ist um einiges „einsilbiger“ als das Deutsche. In den germanischen Literaturen ist der fünffüßige Jambus zum Grundmetrum des Sonetts geworden. Daran gemessen, sind auch die sich abwechselnden vier- und dreifüßigen Jamben ein Indiz für Wortkargheit.
Die Form des Sonetts favorisiert den Gedanken, das Argument, die Reflexion. Hier aber sehen wir uns mit der Aufzählung und Auflistung von (sprachlichen) Tatsachen konfrontiert. Dennoch oder gerade deshalb geht das Nach-Sprechen mit Nachdenken einher.
Der aus dem Rheinländischen stammende Autor sagt sich (und uns) das neu Gehörte gleichsam vor, um der Eigenart der nicht vertrauten Sprache und damit des in ihr, gar von ihr geführten Daseins inne zu werden. Die Wörter, die er aufruft und mit bestimmten Artikeln versieht, stecken wie Pflöcke eine Lebenswelt in ihrer Eigenart ab. Der nicht Einheimische wird nicht wenige von ihnen im Wörterbuch nachschlagen müssen. Wir freuen uns, wenn wir etwas verstehen, geraten in Unruhe, wenn es uns unverständlich bleibt. Auf verblüffende Weise kommt eine Grunderfahrung des Sprechens im allgemeinen und des lyrischen Sagens im besonderen zur Sprache.
Das Gedicht setzt sich – von den Artikeln einmal abgesehen – allein aus Haupt- oder Dingwörtern zusammen. Das Fehlen von Adjektiven signalisiert, daß die Substanz, nicht die Akzidenzien in den Blick gefaßt werden. Tätigkeitswörter fehlen ebenfalls, Statik herrscht: Die Fest-Stellungen, die das Gedicht vornimmt, gelten einer gleichsam von unverrückbaren Koordinaten bestimmten Welt. Die deiktische, die zeigende Funktion der Sprache prägt den Text: Das ist Sache! So ist es und so bleibt es!
Das Sprechen, sagten wir, ist ein Nachsprechen. Versuchshalber könnte man, gleichsam als genervter Tourist, das Gedicht gebetsmühlenhaft leiernd lesen. Angesichts des dramatischen Couplets, das den menschlichen Kampf mit den Elementargewalten der Natur assoziieren läßt, ist solche Lesart freilich nicht aufrechtzuerhalten. Spätestens mit dem Schluß-Wort „die leich“ läßt das Gedicht das friesische Genre endgültig hinter sich. Den Eindruck, hier würde lediglich nachgebetet, haben wir also keineswegs. Vielmehr scheint der Dichter, ehrwürdiger ästhetischer Tradition folgend, in der Rolle des „second maker“, des „zweiten Schöpfers“ aufzutreten. Er ist es, der den Dingen Namen gibt, und er gibt menschlicher Existenz Rang und Wert. Und so schlägt Statik in Dynamik um: Ist das mit seinen Substantivballungen an den Barock (Quirinus Kuhlmann) erinnernde Gedicht nicht gar ein Zeugnis schöpferisches Ekstase?
Man könnte die Punkte durch Fragezeichen ersetzen. Die Sicherheit, den rechten Namen für das rechte Ding zu haben, wäre erschüttert. Verwiesen würde darauf, daß die Beziehung zwischen Ding und Wort, zwischen Signifikat und Signifikant zufällig, von Konventionen bestimmt ist. Das erfahren wir häufig genug, hören wir Sprachen und Dialekte, die wir nicht verstehen. Und wir geraten ins Staunen über Sprache – und Welt. Es ist das Wechselspiel von Vertrautem und Fremdem, das Spannung schafft. Das gilt für dieses Sonett auf besondere Weise, und es gilt für jeglichen literarischen Text. Wäre uns alles vertraut, würde diese Spannung freilich ebenso erlöschen wie in dem Fall, wenn uns alles unverständlich bliebe.

neue deutsche literatur, Heft 538, Juli/August 2001

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