Jürgen Engler: Zu Peter Gosses Gedicht „Der Traum von der Flucht in die Geometrie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Gosses Gedicht „Der Traum von der Flucht in die Geometrie“ aus dem Band Peter Gosse: Erwachsene Mitte. –

 

 

 

 

PETER GOSSE

Der Traum von der Flucht in die Geometrie

„Toter Mann“ – so nannten wir Kinder die köstliche Weise
Reglosen Schwimmens, in der ich im künstlichnatürlichen Steinbruch
Lagere, Erdes glattwandig-glattem Wasser-Einauge;
Schwärzest in meiner leichthin gespreizten Gliedmaßen Rücken
Lethe; Leben hingegen lippenwärts lichtest, ferne mit sommer-
Goldgrün durchgangenem Buschwerk den Himmelkreis rahmend und nieder-
Wölkend in den Zylinder des Auges; ich die gefächert
Starre, Pupille.
aaaaaaaaaaaaaPlötzlich (ohne des Anfanges Anruck,
Ohne ein Aufkräuseln jenes Kreises, mit welchem das Wasser
Rahmt die nabelkonzentrische Insel des Bauchs), also plötzlich
Stürzt (so geschwind, daß des Porphyrrohrs Wandung, indem sie von Nässe
Gleißend sich jüngt ins schließende Lichtloch, schraffurhaft verunklart),
Stürzt, kurzum, (in ihm ich) der Spiegel; aber ins Boden-
Lose. Denn blickend seitlich hinab durch des Armhaars Koralle.
Werde ich inne: Die Schwärze bleibt absolut.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWoran splittern
Sollte der Spiegel im Unverschloßnen so oben wie unten,
Das, obschon es sich kürzt, als endenlos unkürzbar ist! Sym-
Metrisch auswiegt mithin, ja haltert das Helle und Dunkle
Ich, der, trennend die Trennebne, einwölbt in Beides! π-er
Verse, des schließenden Siebtels, siehe, bedarf es, das Gleiten
Gänzlich zu denken als Weilen: Bruch, deine grenzlosen Halbsäuln
Stopft die Pupillkapillare, leichthin, ja!, in sich ein!

 

Weilen, zeitweilig

Nicht weniger als die Position des Menschen im unendlichen Universum erörtert dieses Gedicht aus dem Band Erwachsene Mitte (Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1986). „Und ach, mein Geist, der nie vom Schwindel sich befreit, / Neidet das Nichts um seine Unempfindlichkeit.“ Baudelaires Sonett „Der Abgrund“ – Pascal gewidmet – schließt, dessen Sehnsucht nach Aufgehobensein in Gott beschwörend: „Oh, niemals aus dem Wesen und den Zahlen gehn!“ Gosse sucht Pascals „horror vacui“ dialektisch zu begegnen (ihm zu entgehen?).
Wenn das Universum unendlich ist, dann kann sich das Ich in logischer Folgerichtigkeit als einen seiner vielen Mittelpunkte begreifen, psychologisch verstehbar erst recht als der Mittelpunkt; das Individuum ist, Pupille des „Wasser-Einauges“, Organ der Wahrnehmung und Bewußtwerdung des Alls. In solcher Mittelstellung, „trennend die Trennebne“, ist es eingetaucht in Lethe wie in Licht, vermittelt es Hell und Dunkel, Unten und Oben, Tod und Leben, Vergangenheit und Zukunft. Die philosophische Betrachtung bietet sich als sinnfälliger Vorgang dar: Ruhiges Treiben (These), Sturz und Bestürzung (Antithese) finden zur Synthese: einer Gestalt in Schwebe zwischen Sturz und Starre.
Der Eigenart der Dichtung Gosses kommen wir näher, erinnern wir uns der „metaphysical poetry“ eines John Bonne. Daß es sich um bewußte Traditionsaufnahme handelt, kann bei Gosse, einem poeta doctus, wohl angenommen werden. Freilich ist nicht zu vergessen, daß ein belangvoller literarischer Text sich aus vielen Quellen speist angesichts seines Erbebezugs also eher von Traditionsfeldern als von Traditionslinien zu sprechen ist. Und selbst wenn dieser Bezug nicht bewußt gewählt worden wäre, erwiese sich ein Vergleich als sinnvoll: betrifft er doch die dichterische Praxis in unsicheren Zeiten, in denen sie sich eben nicht gleichsam natürlich, so wie der Seidenwurm seinen Faden spinnt, vollziehen kann.
John Donne also. Das Grundelement seiner Dichtung ist der Vorgang, wie er sich in scharfen Antithesen und dialektischen Sprüngen, kontrastreich und paradox entfaltet, Körper und Geist in gewagten Vergleichen verknüpfend. Schärfste Profilierung der Gedanken, Intensität der Sprache, die bis an die Grenze der Verständlichkeit getrieben wird, sind weitere Kennzeichen. Es ist geradezu frappierend, wie die Merkmale, die Maik Hamburger in seinem Vorwort zur Reclam-Ausgabe der Gedichte Donnes (Zwar ist auch Dichtung Sünde) zusammenträgt, zur Charakterisierung neuerer Gedichte Gosses herangezogen werden können.

Ein Vokabular aus vielen Wissensbereichen liegt mehr oder weniger ungebunden zur dichterischen Benutzung bereit. Aus den Trümmern des Alten und den Baracken des Neuen holt sich Donne die Steine für seine Bauten, in denen sich Statik und Dynamik auf sonderbare Weise verquicken.

In Gosses Gedicht halten sich Statik und Dynamik die Waage; der Vorgang in diesem Gedicht präsentiert sich in heikler Balance, metrisch und symmetrisch austariert. Der Hexameter, angemessen „großen Gegenständen“ und „letzten Fragen“, liefert mit seinen dreizehn bis siebzehn Silben, den beweglichen Zäsuren, den Enjambements und der Reimlosigkeit den metrischen Grundriß. Das Gedicht umfaßt 22 Verse, die in drei Gruppen – in ihnen entfaltet sich je eine komplizierte Satzkonstruktion – gegliedert sind. Ein durch eine (auch typographisch sichtbare) Zäsur geteilter Vers bildet jeweils das Ende beziehungsweise der Anfang der aufeinanderstoßenden Versblöcke, wobei die Bruchstücke dieser beiden Verse sich symmetrisch zueinander verhalten. Das Gleiten als Weilen zu denken, bedarf es „π-er Verse“; diese ergeben sich, wenn man die Gesamtzahl der Verse durch die Anzahl der (vollständigen) Verse jeder Gruppe teilt (22:7= 3,14…). Die Zahl Pi ist der Wert unendlicher Annäherung, das Gleiten ist nur annähernd als Weilen zu denken. Anders ausgedrückt: Das Weilen in der Zeit ist zeitweilig; die Einheit der Gegensätze relativ, ihr Kampf aber absolut. Der Bruch – oder setzen wir für den mathematischen den philosophischen Begriff: der Widerspruch wird ausgehalten – ertragen und ständig neu genährt. Philosophischen Gleichmut, Mut zum Ausgleich aufzubringen ist eine die Geistes- und Gemütskräfte einspannende Arbeit, solche Anspannung schlägt sich nieder in der Formanstrengung des Gedichts. Dessen Titel will gleichfalls beachtet sein: Er gemahnt an den Alptraum fliehenden Raums, in dessen Sog das Ich gerät, und er setzt das Bild anhaltender glieder- und gedankenlösender Schwebe dagegen; freilich ist auch diese ein „Traum von der Flucht in die Geometrie“.
Keine zeit- und leidlose Ordnung, kein ewiger Gewinn der Mitte also, vielmehr das heiße Bemühen, im Fließgleichgewicht Identität zu finden und zu bewahren. Solch vermittelndes Ermitteln zeitigt „Erwachsene Mitte“, eine Konzeption, die in Gosses Schaffen – vorbereitet von Gedichten wie „Munterung an Dädalus“ und „Schwebe“ beispielsweise – zentrale Bedeutung erhielt. Das hier betrachtete Gedicht liefert die „meta-physische“, die philosophische Begründung einer Kategorie, die als „Ausmitteln“ ein „durchaus nicht von Harmoniesüchtelei bestimmtes Versöhnen“ bezweckt, wie es Peter Gosse in seinem Essay „Transigierender Heine“ ausdrücklich bemerkt. Vielmehr geht es darum, die jeweils geschichtlich mögliche Einigung, sinnlich-praktisch von Genuß und Tat, ethisch von Egoismus und Altruismus, politisch von Hierarchie und Egalität, ästhetisch von „Überblick“ und „Betroffenheit“ zu erkunden und in lyrischer Gestalt zu erproben.
Das Ausmitteln effektiven Kräfteeinsatzes auf einem gegebenen Spiel-Feld bedenkt das Gedicht „Der Schleußsche Fußballplatz“, das – „Verspielt in der Nuß“ (so sein früherer Titel) – provinziellem Geschehen das Gleichnis für Weltvorgänge in ihrer ökonomischen und politischen Determination abgewinnt. Wie Gosse poetisch vorgeht, hat Karl Mickel auf dem X. Schriftstellerkongreß anhand dieses Textes demonstriert. Dringend gebotene, den Frieden bewahrende Vermittlung, wie sie zwischen den gegensätzlichen Systemen in der heutigen Welt erst wesentliche Abrüstungsmaßnahmen bewirkte, gibt Hoffnung auf „Die Errettung“ (so der Titel eines utopisch-heiteren Vorgangs-Gedichts).
In solchem Kontext erweist sich die Gelegenheit, aus der Gosse im „Traum von der Flucht in die Geometrie“ seine Philosophie der Mitte filtriert; nicht als poetisch Abgelegenes; dialektisches Spekulieren vergißt nicht die weltpolitischen „Spektakel“; in Gänze empfiehlt sich dichterisches Denken und Trachten als zeitgemäß.

neue deutsche literatur, Heft 434, Februar 1989

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