Jürgen Engler: Zu Vítězslav Nezval Gedicht „Hohes Lied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Vítězslav Nezval Gedicht „Hohes Lied“ aus dem Band Vítězslav Nezval: Auf Trapezen. –

 

 

 

 

VÍTĚZSLAV NEZVAL

Hohes Lied

Deine Augen zwei Blindlingsschüsse
Zwei Blindlingsschüsse die das Ziel nicht verfehlten
Zwei Blindlingsschüsse hinter der Ecke der Straße die ich hinabging
Wie ein Gefangener suchend das Ende des Hofes
Deine Augen zwei Schnurrpfeifen zur Kirchweih
Zwei Karussells in der Ferne
Zwei Glocken
Zwei Siegel
Deine Augen zwei Schierlingsnäpfe
Deine Augen zwei Knebel um ewig zu schweigen
Zwei Weidenkörbe
Zwei Eprouvetten
Zwei Rädchen einer Messinguhr
Deine Augen zwei Dotterblumen
Deine Augen ein Binnenreim
Deine Augen zwei Feldtrommeln
Zwei traurige Begräbnisse zwei Sprünge aus dem Fenster
Deine Augen zwei traumlose Nächte
Wie eine Apothekerwaage
Wie ein Doppelgewehr
Wie ein Doppellebwohl
Deine Augen wie zwei Kaktusblüten
Wie eine einzige Hantel
Wie ein zweiteiliger Roman
Wie eine entzweigerissene Rose
Wie der Wendekreis des Krebses mit dem Wendekreis des Steinbocks
Wie ein falscher Dukaten neben einem echten Dukaten
Wie zwei Stopplichter
Wie Meer und Land wie Zwillinge wie ein zweifach schüchterner Seufzer
Dein Mund ist ein roter Orden
Vor dem man den Hut abnimmt und Spalier steht
Wenn du dich entfernst geht mit dir ein Rechtsschaut
Aller die dir geschworen haben
Dein Mund ist ein geschmeidiges Samtband
Das sich gern zum Tabakstrunk neigt
Eruption des Vulkans der Rosen
Fliege des Sonnenbrands
Dein Mund zwei laichende Fische
Zunder und Feuerstein
Gewürzmühle
Dein Mund zwei Ehrenbänder
Dein Mund ist glühende Kohle auf der ich meine Erinnerungen verbrenne
Und eine große fleischfressende Pflanze
Hahnenkamm
Früchtebrötchen zum Frühstück
Dein Mund ist eine blutende Trüffel
Und ein sommerlicher Bienenstock
Dein Mund ist ein geheimnisvolles Monogramm
Dein Mund ist ein rot angestrichener Kahn
Dein Mund ist eine Zuckerdose
Doch auch ein Mohnfeld mit Statuen drinnen
Dein Mund ist ein goldenes Spinnrad
Ein Meeresgrund ein Krater im Mond
Dein Mund ist ein Perlenkästchen
Versiegelter letzter Wille
Brennende Rakete
Uhrfeder
Dein Mund ist Mondfinsternis
Sonnenfinsternis
Finsternis von Venus und Erde
Deine Arme sind eine Schere mit der du meinen Traum zerschneidest
Deine Arme der Spinne
Während deine Schultern beben wie ein Pfau.
Deine Hände sind Eisumschläge
Deine Hände sind Knospen
Deine Hände sind Regentropfen
Auf den Brüsten die einen Wirbel bilden
Deine Brüste sind ein Phantom
Wie der Rauch eines Bovists
Deine Brüste sind ein Zyklon darunter sich zwei Rubinflammen verbergen
Deine Brüste sind ein Wespennest
Eine Sanduhr zwei Häufchen Grieß
Ein erfrorener Vogel
Deine Brüste sind zwei Öllämpchen
Zwei krummgeschlossene Geiseln
Siedender Rahm
Deine Brüste sind Schlangen die sich in der Sonne wärmen
Zwei Korken auf dem Wasser
Zwei vereinsamte Pilze
Deine Brüste gesträubt wie das Stachelschwein
Deine fortfliegenden Brüste
Deine Brüste sind zwei Kamelien in den Händen der Nacht
Zwei Tauben in den Fingern des Diebes 
Zwei Löwenzahnblüten
Deine Brüste wie eine zweistimmige Weihnachtsschelle
Wie Opal
Wie doppelter Peitschenknall
Wie junger Karfiol
Wie zwei Knoten im Tüchlein
Wie Aufgang und Untergang der Sonne wie Aufgang und Untergang von Venus
aaaaaund Jupiter
Dein Bauch ist ein Kugelblitz
Mit dem Duft einer angebrannten Locke
Dein Bauch ist eine Leiter aus Schilf
Meeressturm und traurigste Klippe
Dein Bauch ist Geflügel mit Truthahnkamm
Ein riesiger Blutegel
Ausrutschen auf Glatteis
Dein Bauch ist eine Wassernessel
Ein Meerrettichblatt oder eine Feuerzunge
Dein Bauch ist eine Mühle
Und auch ein Mühlrad das Ertrunkne zermalmt
Ein Rad zum Gliederbrechen
Eine weiße Laus mit gefalteten Freßwerkzeugen
Dein Bauch ist Schwemmkreide
Geknetetes Brot eine Gabel in Weißglut
Känguruh des Überwinterns
Blinder Spiegel und ein Abend unter dem Meer
Dein Bauch ist eine Wolke vorm Sturm
Ein Teich inmitten einer Mondnacht
Dein Bauch Organsin mit schwarzer Tinte begossen
Dein Geschlecht ist ein wunderbarer Trug
Ein Sumpffeuer oder eine Salbei
Dein Geschlecht wie eine geborstene Weidenpfeife
Wie Resedaseifenrest
Wie der Mund eines Regenwurms
Wie junge Schoten
Wie ein feuchtes liebendes Auge
Wie eine Libelle
Wie eine Mimose
Dein Geschlecht wie ein Glühwürmchen im Herzen der Rose
aaaaaaus hundert Blättern
Du bist wie aus Holundermark
Wie aus weißen Fasern geglühten Asbests
Wie aus einem Gemisch von Roggenmehl und Magnolienteig
Wie aus der Wurmstichigkeit des rosigen Mahagoni
Deine Beine sind der Zusammenstoß zweier Wetterleuchten
Zweier Spleens
Zweier langwieriger Flüsse
Deine Beine wie Wirbelkäfer
Wie Magnesiumexplosionen
Wie Winternächte
Wie lange Gleichungen
Deine Beine wie betrunkene Weinlesen
Wie der Tanz des Hafens
Deine Beine wie Krieg
Dein Schoß wie die Flamme des Lötapparats
Flug des Schmetterlings Schiffsschraube
Deine Hüften sind eine Kavalkade
Deine Hüften sind Geißlerröhren
Deine Hüften sind lauter Faulheit
Der Spindellärm der Geigenschatten
Deine Stirn ist ein Funken
Deine Zähne sind eine Presse
Deine Ohren sind verirrte Fragezeichen
Dein Hals ist ein Wasserfall
Du bist wie ein Tag übergehend in Nacht eine Nacht übergehend in Tag ein Tag
aaaaaübergehend in eine Chimäre

Übertragen von Franz Fühmann

 

Universum der Metaphern

Die lyrische Metapher führt einen Überraschungsangriff auf unser Bewußtsein. Werden dessen Befestigungen nicht auf einen Streich überwunden, ist der Angriff ein für allemal fehlgeschlagen. Das bedeutet nicht, daß der Metapher nicht nachgedacht werden kann. Nur muß ihr Sinn schon erahnt und gefühlt worden sein; das Verständnis kommt vor der Erklärung.
„Psychologisch gründet die Metapher“, schreibt der rumänische Ästhetiker Tudor Vianu, „auf der Wahrnehmung einer Einheit der Dinge durch den Schleier ihrer Unterschiede.“ Ästhetisch bietet sie sich dar als ausgesprochenes Ergebnis eines unausgesprochenen Vergleichs. „Die Metapher verbindet zwei entgegengesetzte Welten mit einem Reitersprung der Bildvorstellungskraft“, notiert Federico Garía Lorca. Je weiter die Gegenstände des Vergleichs für das gewöhnliche Bewußtsein auseinanderliegen, desto größer ist die Wirkung, die ihrer Hochzeit entspringt.
So ist die Wendung „Brüste wie Opal“, die auf dem tradierten Vergleich von Antlitz und Leib der Geliebten mit Edelsteinen und Spezereien beruht (ohne lange suchen zu müssen, findet man aussagekräftige Beispiele im iranischen Nationalepos „Schah-nameh“ des persischen Dichters Ferdousi), sicherlich weniger überraschend als das Bild „Deine Brüste gesträubt wie das Stachelschwein“. Doch wird der Nachvollzug erleichtert, da das Bild als Wie-Vergleich präsentiert, das Mittlerelement („gesträubt“) mitgeteilt wird. Ohne dessen Nennung würde es wohl als komisch oder als Produkt bloßer Willkür empfunden werden.
Anders sieht es aus bei einer Metapher wie „Deine Augen… Zwei Weidenkörbe“. Das Verbindungsglied bleibt ausgespart. Rundheit beider Dinge ist die erste – allgemeinste – Gemeinsamkeit. Wesentlicher ist die Assoziation, daß in den Augen Welt „gesammelt“ wird, so wie Körbe der Aufbewahrung dienen.
Dabei muß man der Meinung wehren – eines der zähesten Vorurteile, denen sich Aufnahme und Verständnis von Lyrik gegenübersehen –, daß das Lesen eines Gedichtes die gänzliche Übersetzung seiner Bilder in die Sphäre der sinnlichen Vorstellung und Anschauung bedeute. Man muß sich die Weidenkörbe nicht greifbar vorstellen, und man kann sich die „zwei traumlosen Nächte“, die zwei tiefdunkle unergründliche Augen, eine unzugängliche Innenwelt assoziieren, nicht als sinnliches Bild erscheinen lassen. Der Reiz der Metapher beruht gerade auf dem Changieren von – oft andeutungsweiser, keimhafter – Anschauung und Bedeutung auf der Ebene des Verstandes. Die Metapher verdankt ihre Ausstrahlung der Balance zwischen Sinnlichkeit und Sinn, einleuchtend „erscheint“ das Bild dem ungeteilten Bewußtsein.
Die „Aussage“ eines Gedichts ist von Klang, Rhythmus und emotionalem Umfeld seiner Wörter oder besser: Worte (um Fühmanns sinnvolle Unterscheidung aufzugreifen) nicht zu trennen. Daß damit Gedichte in ihrer je konkreten Gestalt von einer Sprache in die andere nur annäherungsweise – mehr oder weniger übertragbar sind, ist eine Binsenweisheit. Aber eben mehr oder weniger. Dieses hier zählt wohl – hohe sprachschöpferische Potenz des Nachdichters freilich stillschweigend vorausgesetzt – zu den leichter transponierbaren, nicht in erster Linie der freirhythmischen Verse und ihrer assoziativ-additiven Abfolge wegen. Sondern eben deshalb, weil seine Wirkung primär dem Riß, der Kluft und damit dem Sprung zwischen den von Worten bezeichneten Polen entspringt. Im Bild verliert das Wort seine Absolutheit.
„Hohes Lied“ mit seiner alle rationalen Begrenzungen überspülenden Bilderflut, mit seiner spontanen Sinnlichkeit und der Wut der Phantasie, seinen ungehemmten Träumen entstammt Nezvals surrealistischer Phase, ein Zwillingsstück zum Gedicht „Freie Liebe“ von André Breton, dem Haupt der Surrealisten. Gleich diesem Text folgt es der Vision der Erotisierung des Lebens – Gegenentwurf zur bürgerlich geordneten und gebundenen Welt.
Doch was besagt schon die Kennzeichnung „surrealistisch“! Denn Nezval hat seine poetische Natur wohl den schöpferischen Kräften des Surrealismus ausgesetzt dessen doktrinäre Momente aber ließ er unbeachtet. Wenn der Theoretiker Breton bemerkt, daß das „stärkste“ surrealistische Bild „den höchsten Grad an Willkürlichkeit aufweist…, das in praktische Sprache zu übersetzen man am längsten Zeit brauchen würde“, so reicht die nähere Betrachtung einiger Metaphern Nezvals aus, um zu begreifen, daß die Originalität des Lyrikers gerade in der Aufhebung von Willkür gipfelt: Im wahren Sinn unwillkürlich geben sich die geheimen Verwandtschaften der Dinge zu erkennen, ohne daß damit der Reiz der Zufallsbekanntschaften geleugnet wäre. Der zweite Teil der Aussage Bretons freilich behält seine Gültigkeit. Schließlich weist Ludvik Kundera im Vorwort zur Reclam-Auswahl der Gedichte Nezvals (Auf Trapezen, Leipzig 1978) darauf hin, „daß die surrealistischen Elemente, wie zum Beispiel der Kult des Zufalls und des Traums, sich in Nezvals Werk schon lange finden, bevor sich noch Nezval zu dieser Richtung bekannte, und daß sie sich genauso nachher finden, als er sich bereits mit großem Lärm davon losgesagt hatte“.
Besonderen Reiz gewinnt Nezvals Gedicht aus seinem tiefen, vom Titel angedeuteten Bezug zur Tradition: zum „Hohelied Salomos“ der Bibel, auf dessen kühne Bildsprache es nebenher unsere Aufmerksamkeit lenkt. „Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die gelagert sind am Berge Gilead herab“ und „Deine Zähne sind wie eine Herde Schafe mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen, die allezumal Zwillinge haben, und es fehlt keiner unter ihnen“, lauten dessen erste Verse. Eine Technik ist hier vorgeprägt, die das lyrische Bild durch die Anreicherung des zweiten Vergleichsglieds mit zusätzlichen, von der Unmittelbarkeit des Vergleichs hinwegführenden und damit das Moment des Unähnlichen akzentuierenden Bestimmungen ins Irreale hebt.
Bei Nezval jedoch sind Anklänge an die gleichsam zu epischer Entfaltung tendierende Metapher im „Hohelied Salomos“ die Ausnahme, beispielsweise: „Dein Bauch ist eine Mühle / Und auch ein Mühlrad das Ertrunkne zermalmt“. Nezvals Bilder sind eher Blitze, die in dichter Folge die Landschaften der Psyche schlaglichtartig erhellen.
Aufschlußreich sind die zitierten Verse in anderer Hinsicht. Nezval löst sich von jahrhundertealter Tradition – und gibt damit ein repräsentatives Beispiel moderner Poesie –: Wahrheit triumphiert über – klassisch verstandene – Schönheit, oder anders: Ein neues Ideal von Schönheit wird errichtet, das der unzensierten Wiedergabe des schönen grimmigen Lebens huldigt. Der Körper der Geliebten wird nicht allein mit auserwählten, edlen Dingen verglichen, sondern nicht minder mit Alltäglichem und Banalem einerseits, mit Häßlichem und Schrecklichem andererseits.

Dein Bauch ist eine Leiter aus Schilf
Meeressturm und traurigste Klippe
Dein Bauch ist ein Geflügel mit Truthahnkamm
Ein riesiger Blutegel
Ausrutschen auf Glatteis
Dein Bauch ist eine Wassernessel
Ein Meerrettichblatt oder eine Feuerzunge…

Liebe und Leben sind gefährliche Unternehmung, Wagnis, Abenteuer, voller Ambivalenz, Spannung, Dramatik, Tragik und Komik zugleich.
Und indem Nezval zügellos Bild an Bild an uns vorbeijagen läßt, wird in diesem gewaltigen Lob- und Preisgedicht die Welt mit allem, was da webt und wirkt und wächst, kreucht und fleucht, der Geliebten anverwandelt: Sie wird zum All, und das Universum wird zur Geliebten in totaler Poetisierung und Erotisierung.
Indem die Metapher den Raum zwischen den Dingen tilgt, vernichtet sie zugleich die Zeit. Der Mund der Geliebten ist nicht erst „eine blutende Trüffel“ und dann „ein sommerlicher Bienenstock“, nein, er ist das und vieles mehr gleichzeitig. Die Zeit dieses Gedichts ist Gleichzeitigkeit: Gegenwart des Erinnerns und Erinnerung der Gegenwart.
Denn jede ästhetische Wertung – und die Metapher bietet sich dar als Akt der Erkenntnis wie als Ausdruck subjektiver Wert-Schätzung – ist Erlebnis und zugleich Reflexion dieses Erlebnisses: Der jeweilige Gegenstand wird vom Wertenden eigenartig empfunden, wobei ihm zugleich bewußt wird, daß er es ist, der etwas Besonderes empfindet. Das ist der Moment, in welchem sich das Erlebnis umformt zur Erinnerung; das ästhetische ist das melancholische Erlebnis. Die Hände der Geliebten erinnern den Dichter an Eisumschläge, Knospen, Regentropfen…, er wird dieser Beziehungen inne, und ihnen wird als Erinnerung im lyrischen Bild Dauer verliehen.
Jedoch ist diese Dauer einem menschlichen Maß unterworfen. Anfang und Ende des Gedichts definieren die Begegnung als wundersamen Augenblick der Liebe, der wohl ein menschliches Leben währen mag. Beginn einer Liebe, von dem die Geliebte nichts weiß:

Deine Augen zwei Blindlingsschüsse
Zwei Blindlingsschüsse die das Ziel nicht verfehlen
Zwei Blindlingsschüsse hinter der Ecke der Straße die ich hinabging…

Und der Schluß:

Du bist wie ein Tag übergehend in Nacht eine Nacht übergehend in Tag ein Tag übergehend in eine Chimäre.

Geheimnisvolle Flucht der Bilder…

Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 1, Januar 1984

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