Jürgen Engler zu Walt Whitmanns Gedicht „Auf der Brooklyn-Fähre“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walt Whitmanns Gedicht „Auf der Brooklyn-Fähre“ aus dem Band Walt Whitmann: Grashalme. –

 

 

 

 

WALT WHITMANN

Auf der Brooklyn-Fähre

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Es gilt nichts, weder Zeit noch Ort – Entfernung gilt nichts,
ich bin bei euch, ihr Männer und Frauen einer Generation oder vieler nach mir,
so wie ihr fühlt, wenn ihr auf Fluß oder Himmel blickt, so auch fühlte ich,
wie jeder von euch Teil einer lebendigen Masse ist, so war ich Teil der Masse,
wie ihr euch erquickt an des Flusses Fröhlichkeit und der hellen Flut, so erquickte ich mich,
wie ihr dasteht und an der Reling lehnt und doch mit der reißenden Strömung hineilt, so stand auch ich, trieb eilig dahin,
wie ihr auf die zahllosen Schiffsmasten schaut und die dickstämmigen Dampfschiffschlote, so schaute auch ich.
Auch ich kreuzte einst unzählige Male den Strom,
schaute den Seemöwen des zwölften Monats zu, sah sie schweben hoch in der Luft, reglosen Flügels, die Körper leicht schwankend,
sah, wie das gleißende Gelb Teile ihres Körpers beschien und den Rest in tiefem Schatten ließ,
sah ihr langsames Kreisen und allmähliches Abgleiten gen Süden, sah den Widerschein des Sommerhimmels im Wasser,
fühlte meine Augen geblendet von der schimmernden Strahlenspur,
schaute hinab auf die feinen strahlenden Lichtspeichen rings um das Bild meines Kopfes im besonnten Wasser,
schaute den Dunst auf den Hügeln süd- und südwestwärts,
schaute den Dampf, wie er, in Lila getaucht, in wolligen Flocken dahinflog,
schaute hinüber zur unteren Bai, die ankommenden Schiffe zu sehen,
und sah ihr Herannahen, blickte, wenn sie mir nah waren, an Bord,
sah die weißen Segel von Schonern und von Schaluppen, sah die Schiffe vor Anker,
die Matrosen im Takelwerk bei der Arbeit oder rittlings auf den Spieren draußen,
die Rundmasten, das Schaukeln der Rümpfe, die schlanken, sich schlängelnden Wimpel,
die großen und kleinen Dampfer in Fahrt, in ihren Lotsenhäusern die Lotsen,
die weiße Kielwasserspur, von der Fahrt hinterlassen, das schnelle, bebende Wirbeln der Räder,
die Flaggen aller Nationen, ihr Niedergehen bei Sonnenuntergang,
die wie Kammuscheln gezackten Wellen im Zwielicht, schalenförmig gehöhlt, die fröhlich hüpfenden Kämme, ihr Funkeln,
sah in der Ferne den Streif matter werden und matter, die grauen Wände der granitenen Speicher an den Docks,
auf dem Strom die Schattengruppe, den mächtigen Schlepper, auf jeder Seite von Barken flankiert, dem Heuboot und dem verspäteten Leichter,
an der benachbarten Küste aus den Essen der Gießerei die Feuer brennen, hoch und blendend in die Nacht,
und ihr schwarzes Flackern von wildrotem und gelbem durchbrochenem Licht über die Firste der Häuser werfen und in die Straßenklüfte hinab.

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Nicht allein auf dich fallen die finstern Flecken,
die Finsternis warf ihre Flecken auch auf mich,
das Beste, was ich getan, schien mir leer und fragwürdig,
meine vermeintlich großen Gedanken, waren sie in Wahrheit nicht dürftig?
Und du bist es nicht allein, der weiß, was es heißt, schlecht zu sein,
ich bin es, der wußte, was schlecht sein hieß,
auch ich knüpfte den alten Knoten des Widerspruchs,
schwatzte, errötete schamvoll, grollte, log, stahl, murrte,
hatte Arglist, Zorn, Wollust, heiße Begehren, die ich nicht zu nennen wagte,
war launisch, eitel, gierig, oberflächlich, verschlagen, feige, boshaft,
Wolf, Schlange, Schwein fehlten nicht in mir,
der tückische Blick, das leichtfertige Wort, die ehebrecherische Gier, sie fehlten nicht,
Gleichgültigkeit, Haß, Saumseligkeit, Niedrigkeit, Faulheit, keines von diesen fehlte,
ich war einer unter den andern, nahm teil am Treiben und Glück der anderen,
wurde von jungen Männern mit hellen lauten Stimmen gerufen bei meinem vertrautesten Namen, wenn sie mich kommen oder vorübergehen sahen,
fühlte, wenn ich stand, ihre Arme um meinen Nacken, oder das lässige Lehnen ihres Fleisches an mich, wenn ich saß,
sah viele, die ich liebte, auf Straße oder Fährboot oder in öffentlicher Versammlung, und sprach doch niemals zu ihnen ein Wort,
ich lebte dasselbe Leben mit den andern, dasselbe alte Lachen, Kauen, Schlafen,
spielte die Rolle, die noch auf Schauspieler oder Schauspielerinnen zurückblickt,
dieselbe alte Rolle, die das ist, was wir aus ihr machen, so groß, wie wir wollen,
oder so klein, wie wir wollen, oder beides, groß und klein.

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Fließe nur, Strom! Schwill über mit der Flut und sinke mit der Ebbe!
Seid weiterhin fröhlich, kammgeschmückte, muschelgezackte Wellen,
prachtvolle Wolken des Sonnenuntergangs! Tränkt mit eurem Glanz mich oder die Männer und Frauen Generationen nach mir!
Kreuzt von Ufer zu Ufer, endlose Massen von Passagieren!
Ragt empor, hohe Masten von Manhattan! Ragt empor, schöne Hügel von Brooklyn!
Pulsiere, verwirrtes und wißbegieriges Hirn! Wirf Fragen und Antworten auf!
Verweile hier und überall, ewiger Fluß der Lösung!
Schaut, liebende dürstende Augen, in Haus und Straße und öffentliche Versammlung!
Ertönt, Stimmen junger Männer! Laut und klangvoll ruft mich bei meinem vertrautesten Namen!
Lebe, du altes Leben! Spiel die Rolle, die zurückblickt auf Schauspieler und Schauspielerin!
Spiele die alte Rolle, groß oder klein, je nachdem, wie man sie darstellt!
Bedenke, der du mich liest, ob ich dich nicht anblicke auf ungewöhnliche Art,
sei fest, Reling über dem Strom, zu stützen, die müßig an dir lehnen, doch hineilen mit der eilenden Strömung;
fliegt weiter, Seevögel! Fliegt seitwärts oder kreist in weiten Runden hoch in der Luft,
nimm den Sommerhimmel in dich auf, du Wasser, und halte ihn treulich, bis alle herniederschauenden Augen ihn empfangen können aus dir!
Strahlt auseinander, feine Lichtspeichen um das Bild meines Kopfes oder des Kopfes irgendeines andern in dem sonnigen Wasser!
Kommt näher, Schiffe aus der unteren Bai! Fahrt hinauf, hinab, Schoner mit weißen Segeln, Schaluppen, Leichter!
Bläht euch im Wind, Flaggen aller Nationen! Senkt euch pünktlich bei Sonnenuntergang!
Lodert hoch eure Feuer, Essen der Siedereien! Werft schwarze Schatten bei sinkender Nacht! Werft rotes und gelbes Licht über die Firste der Häuser!
Erscheinungen, Olm und hinfort, zeigt an, was ihr seid,
du unentbehrliche Hülle, bleib weiterhin fest um die Seele,
um meinen Körper für mich und um deinen Körper für dich soll unser göttlichstes Aroma schweben,
gedeiht, ihr Städte – bringt eure Fracht, eure Pracht, ihr weiten reichen Ströme,
breite dich aus, o Sein, Geistigstes vielleicht von allem.
Wahrt euren Platz, ihr Dinge, Dauerndstes von allem.

Ihr habt gewartet, wartet immer, ihr stummen schönen Diener,
wir empfangen euch nun endlich freien Sinns und sind von nun an unersättlich,
Ihr sollt uns nicht mehr täuschen können oder euch entziehen,
wir gebrauchen euch und werfen euch nicht beiseite – wir pflanzen euch in uns, für immer,
wir begreifen euch nicht – wir lieben euch – auch in euch ist Vollendung,
Ihr gebt euren Teil für die Ewigkeit,
groß oder klein, ihr gebt euren Teil für die Seele.

Nachdichtung: Erich Arendt

 

Es lebe die Welt!

„Was soll dies trotz alledem – mein Erscheinen in der Welt, meine Existenz in ihr und die Unvermeidlichkeit, aus ihr zu gehen?“ Walt Whitmans Hymnik auf das Wunder des Daseins, seine enzyklopädisch-oratorische Feier aller Realien konfrontiert uns, wie jede große Dichtung, mit dieser Frage, die Juri Olescha in seinem Erinnerungsbuch Kein Tag ohne Zeile notierte.
Whitmans Hauptwerk sind die Grashalme. Die erste Ausgabe, 1855 im Selbstverlag erschienen, enthielt zwölf Gedichte. Die neunte Auflage 1891 umfaßte, als Ausgabe letzter Hand, nahezu vierhundert Gedichte. Mit den Grashalmen gab Whitman der Literatur Amerika: das Amerika tätiger Menschen, das Amerika der demokratischen Traditionen. Und er gab Amerika – Nordamerika – die Literatur: eine eigenständige Dichtung, die die Formen und Normen der europäischen Literatur sprengte und die als Abhängigkeit allein die vom Leben der sich stürmisch entwickelnden eigenen Nation anerkannte. „In der Hauptsache“, bemerkt Whitman in einer seiner späteren Selbstkommentierungen, „stellen die Grashalme von Anfang bis zum Ende den Versuch dar, eine Person, ein menschliches Wesen (mich selbst in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Amerika) in seiner ganzen Fülle, frei und der Wahrheit entsprechend herausstellen zu können.“ (Zitiert nach Henry Seidel Canby: Walt Whitman. Ein Amerikaner, Lothar Blanvalet Verlag, Berlin 1947)
Walt Whitman (1819–1892) wurde auf Long Island, der Insel an der Ostküste Nordamerikas, geboren; als er fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Brooklyn. Stunden- und tagelange Streifzüge an der Küste vermittelten dem Heranwachsenden unauslöschliche Eindrücke vom Meer und von der Schiffahrt, die die Bildwelt seiner Gedichte prägen. Darüber hinaus scheint das Meer mit seinem Rollen, Wogen und Fluten den weitgespannten langzeiligen Versen Whitmans den Rhythmus zu leihen. In der Tagebuchaufzeichnung „Strandträume“ erhebt der Dichter zum Programm, daß das Meeresgestade nicht allein Thema sei, „sondern vielmehr ein unsichtbarer Einfluß werden müsse, ein alles durchdringendes Maß und Vorbild mir und meiner Dichtung“.
Whitman war in den frühen fünfziger Jahren als Journalist, als Zimmermann und Bauunternehmer tätig, wenn er seine Zeit nicht mit „Nichtstun“ verbrachte: Die Idee der Grashalme reifte, das Vorhaben, in seiner Person sein Land und sein Jahrhundert zu feiern. Damals war er ständig zwischen Brooklyn und New York City unterwegs. Brooklyn, in Whitmans Kinderzeit eine mittlere Landstadt am Westende von Long Island, verschmolz im Laufe einer rapiden Entwicklung mit New York, das jenseits des East River lag, zu einer städtischen Einheit. Whitman schreibt in der Tagebuchnotiz „Meine Leidenschaft für Fähren“:

Dadurch, daß ich von dieser Zeit an in Brooklyn und New York City wohnte, war mein Leben damals und später noch stärker mit der Fulton-Fähre verbunden, die in bezug auf ihre allgemeine Bedeutung, ihre Größe, ihre vielfältige Nutzung, Schnelligkeit und Schönheit die hervorragendste ihrer Art in der Welt war. Später (1850–1860) war ich beinahe täglicher Gast auf den Schiffen, oftmals oben im Ruderhaus, wo ich den besten Rundblick hatte. So konnte ich viele Erscheinungen und deren Begleitumstände, die ganze Umgebung in mich aufnehmen. Wie die Strömungen des Meeres, die tiefen Strudel – so ist auch das große Wogen der Menschheit, die ewig sich ändernde Bewegung. Ich habe in der Tat eine Leidenschaft für Fähren besessen; sie sind für mich einzigartige, fließende, niemals versagende, lebende Gedichte.

Der Gesang „Auf der Brooklyn-Fähre“ („Crossing Brooklyn Ferry“), hier nur auszugsweise vorgestellt, entstand 1856, in dem Jahr, in dem, wiederum im Selbstverlag, die zweite, um zwanzig Gedichte vermehrte Auflage der Grashalme erschien. Die hier abgedruckte Nachdichtung stammt von Erich Arendt, der sich sicherlich auf Hans Reisigers bedeutende Übertragung stützte, im einzelnen aber in der Lexik konkreter und expressiver ist und in der Sprechweise das Gestische verstärkt, was nicht heißt, daß es nicht auch Stellen gäbe, bei denen Reisigers Übertragung angemessener erscheint.
Der Beginn des Gedichts: Der Dichter ist unter Hunderten von Passagieren auf dem Fährboot. Er betrachtet sie nicht gleichgültig, sie „sind mir merkwürdiger, als ihr glaubt…“ Auch dieses Gedicht Whitmans ist von Gemeinschaftsgefühl durchtränkt; Gemeinschaft aber gründet auf Individualismus, den Begriff nicht in heutigem pejorativem Verständnis genommen, sondern als Behauptung von Kraft und Moral des einzelnen, und jedem kommt bei Whitman diese Würde zu, unabhängig von Klasse, Rasse und Geschlecht. Selbstachtung und Gemeinschaftsgefühl verschmelzen in einem „demokratischen Mystizismus“ (Canby); wesentliche Quellen dafür sind im Quäkertum Elias Hicks’ (in jedem Menschen wohnt Gott), in Emersons Transzendentalismus und in den demokratischen Idealen Jeffersons und Paines zu finden. Jene Verknüpfung von Individuum und Gemeinschaft mag uns zugänglicher sein, wenn wir an das Marx-Wort denken, wonach Kommunismus die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung der freien Entwicklung aller bedeute.
Dieses Gemeinschaftsgefühl erstreckt sich nicht nur auf die Lebenden (das wäre nur ein Egoismus kollektiver Potenz), es umgreift alle kommenden Generationen. Die Überfahrt, das Fließen des Stromes gemahnen an das Fließen und somit Vergehen des eigenen Lebens. Wahrnehmung weitet sich zur meditativen Betrachtung:

… die Strömung, die so reißend dahinstürzt und weit fortschwimmt mit mir,
die andern, die nach mir kommen sollen, die Bande zwischen ihnen und mir,
die Gewißheit der andern, Leben, Liebe, Sehen und Hören der andern.

(Teil zwei)

Wer so das Leben liebte wie Whitman, seinen Leib, ein Muster, wie Zeitgenossen schildern, an Kraft, Gesundheit und Wohlgestalt, dem mußte die geistige Bewältigung des Todes eine dichterische Lebensaufgabe sein. Der Gedanke an den Tod durchzieht das Werk dieses dem Leben verfallenen Dichters, und die Überzeugung, „… durch mich sollen die Worte gesagt sein, die den Tod heiter machen“ („Duftende’s Gras meiner Brust“), ist zuallererst Selbstüberzeugung, läßt Unruhe vermuten, der Selbstgewißheit immer wieder abgerungen werden mußte. Ist nicht Whitman, der Dichter des Kosmos und der All-Einheit, wenn er dem Geheimnis von Liebe und Tod nachgrübelt, ein romantischer Dichter par excellence? Fühlt man sich nicht an Brentano und Novalis erinnert, wenn man sein Gedicht „Ich hörte die Allmutter“ (1865) liest? – Seine Schlußverse:

O Jahre und Gräber! O Luft und Boden! O meine Toten, Arom so süß!
Hauche sie aus, ewiger süßer Tod, nach Jahren, Jahrhunderten!

Doch kehren wir zu unserem Gedicht zurück. Wie wird in ihm Tod bewältigt?
Unersättlich ist der Dichter in der Hinwendung zur Wirklichkeit, er ist wie ein Kind, die Welt erscheint herrlich wie am ersten Tag. Rhapsodisch, erhaben ist der Ton des Gedichts, der trochäische Einsatz der Verse beziehungsweise Versgruppen stimmt uns ein. Mit allen Sinnen wird Wirkliches aufgenommen. Zentralsinn ist die Sehkraft, der Dichter schaut auf die Realität, sein Ich nimmt die äußere Welt wahr, und er erschaut die Welt, versenkt sich in sich selbst, seine „Seele“, die in Künftiges schweift. Wie natürlich sieht er sich als göttliche Erscheinung – „schaute hinab auf die feinen strahlenden Lichtspeichen rings um das Bild meines Kopfes“ –, das ist keine Selbstüberhebung, denn die Epiphanie gilt jedermann: „Strahlt auseinander, feine Lichtspeichen um das Bild meines Kopfes oder des Kopfes irgendeines andern in dem sonnigen Wasser!“ Und er besingt, ein Traum von der Völkerfamilie, die „Flaggen aller Nationen“; der Hafen von New York ist das große Eingangstor zu den Staaten, Gefäß für den Austausch von (seinerzeit) neuer und von alter Welt; der Hudson River, wie der East River in die Upper Bay mündend, weist in die Weite des Landes, bei Whitman Symbol für einen Kontinent, der zur Nation wird.
Indem Whitman allumfassend seine Welt aufnimmt, alles erlebt, fühlt, hört, schaut, sucht er die Zeit aufzuheben und Unsterblichkeit zu gewinnen. „Es gilt nichts, weder Zeit noch Ort“ – immer wieder setzt die Fähre über den Strom, immer wieder steigt der Dichter in den Fluß des Lebens. Der Augenblick wird lyrisch in den ewigen, in den schönen verweilenden Augenblick gewendet. „Verweile hier und überall, ewiger Fluß der Lösung!“ (Bei Reisiger: „… ewig in Fluß gehaltenes Sein!“) Man kann es nicht anders als paradox formulieren: Das ewig in Fluß gehaltene Sein Heraklits wird bei Whitman der zum Sein gewordene Fluß. Und er gewinnt Trost daraus, daß andere sehen, was er (schon) sah; so sucht er dem Tod den Stachel zu nehmen. Nichts Neues gibt es unter der Sonne, die pessimistische Sentenz aus dem „Hohelied Salomos“ wird gleichsam ins Optimistische gekehrt. Wenn man weiß, daß nach dem eigenen Tod nichts Neues mehr kommt, dann kann man ruhig sterben.
Die Lektüre von Teil sechs des Gedichts lenkt auf eine von Biographen und Literaturwissenschaftlern umstrittene Frage. Whitman besingt nicht nur Partnerschaft, geschlechtliche Liebe und Ehe zwischen Mann und Frau, besonders in der Gruppe „Kinder Adams“, er preist auch Kameradschaft und Liebe zwischen Männern. War Whitman homosexuell? Gustav Landauer wehrt ab in seinem Whitman-Aufsatz (im „Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917“):

Eine besondere Richtung des Empfindens hat Whitman gehabt, daraus auf eine besondere Veranlagung seiner Natur zu schließen, sei solchen überlassen, die sich auf einer Zwischenstufe der Wissenschaftlichkeit befinden.

Anders Hans Mayer, der in seinem Buch Außenseiter (Frankfurt/Main 1975) Whitman in die Beispielreihe für literarische Äußerungen von Homosexualität aufnimmt. Die von der Bürgerwelt verlangte Gleichheit vor dem bürgerlichen Moralgesetz bedeute für den Homosexuellen Zwang zum Doppelleben:

Ausgeprägt als Heuchelei, Selbstbetrug, erotische Anpassung an die Norm, jedoch auch als Zwang zur Idealisierung und Stilisierung. Bei Winckelmann vollzogen als unhistorische Normativität einer ästhetischen Forderung, die um so leidenschaftlicher verkündet wird, als sie anachronistisch bleiben muß. Bei Platen: die Stilisierung des unerfüllbaren Eros durch strenge poetische Form. Bei Whitman: durch eine rhapsodische Hymnik, die alle Ausnahmen in die allgemeine Regel einbeziehen möchte.

Das hieße, sich – der Kunst gemäß – auf verdeckte Weise zu offenbaren. Für Mayers These spricht eben diese sechste Passage der „Brooklyn-Fähre“. Der Dichter will nichts anderes sein als die anderen, also auch aller negativen menschlichen Seiten teilhaftig, Er zählt die Laster und Sünden auf, die auch die seinen sind beziehungsweise sein sollen, sie werden – etwas ermüdend – katalogisiert, nicht evoziert. Nun werden aber seltsamerweise Verse, die, in erotischer Färbung, Vertraulichkeit mit jungen Männern besingen, unmittelbar angeschlossen. Wird solche Zuwendung mithin als außerhalb der geltenden moralischen Normen empfunden und sie deshalb in die „allgemeine Regel“ der Schlechtigkeit einbezogen? Und nicht minder aufschlußreich ist, daß diese Verse konkret und sinnlich sind, der Dichter läßt sich Zeit dafür, das hier Mitgeteilte geht ihn mehr an als das zuvor Gesagte. Freilich, und das spricht eher gegen Mayer, bündelt ein Dichter, der die „besondere Richtung seines Empfindens“ verbergen will, die Gesänge auf Freundschaft und Liebe zwischen Männern in einer besonderen Gruppe, den „Calamus“-Gedichten von 1860 (Kalmus, die wilde Schwertlilie – ein Phallussymbol), sie so herausstellend?
Man muß in diesem Zusammenhang auf die gleichsam griechische Tradition, auf den gesellschaftlichen und politischen Sinn der Kameradschaft und Liebe zwischen Männern bei Whitman hinweisen, auf den Traum vom Eros, in dem Körperlichkeit und Geistigkeit verschmelzen, wodurch dieser sich von der Liebe zur Frau unterscheidet. Hier zeigt sich Whitman als Sohn des neunzehnten Jahrhunderts. Zwar proklamiert er in den „Demokratischen Ausblicken“ (1870), einer scharfen Kritik an den amerikanischen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen seiner Zeit, unter kulturellem Aspekt die „völlige Gleichberechtigung der Frau“, bemerkt er „Anzeichen von noch etwas Revolutionärerem“, den „Eintritt der Frauen in die Arena des praktischen Lebens, der Politik, des Wahlrechts“, aber die Lösung dieser Frage ist der Zukunft vorbehalten. Noch sieht er in „gesunder Mutterschaft“ die vorrangige Rolle des Weibes, und in einer Fußnote nennt er neben der Ausschaltung des „moralischen Gewissensnerves“ als problematischste Erscheinung der amerikanischen Gesellschaft „die erschreckende Erschöpfung der Frauen in ihrer Fähigkeit zu gesunder, athletischer Mutterschaft, der Eigenschaft, die die Krönung ihres Seins ist und die das Weib für ewig, in höchster Sphäre über den Mann erhebt“. Und so entwirft er das Porträt der wahren Persönlichkeit „zum allgemeinen Gebrauch für die Männerwelt der Vereinigten Staaten“, rät er nicht den Frauen, sondern den jungen Männern, sich lebhaft an der Politik zu beteiligen. Die Männer sind es, die lebendige Demokratie garantieren („sah viele, die ich liebte… in öffentlicher Versammlung“):

Inbrünstige und liebevolle Kameradschaft wird dann zu vollem Ausdruck kommen, persönliche und leidenschaftliche Liebe von Mann zu Mann, die, schwer definierbar, den Lehren und Idealen der tiefsinnigen Erlöser aller Länder und Zeiten zugrunde liegt und die vielleicht die wesentlichste Sicherheit und Hoffnung für die Zukunft unserer Staaten zu bilden verspricht, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird.

Canby hält die These von der Homosexualität für zu eng, sie kann eine Liebe nicht erfassen, „die die durch das Geschlecht gegebenen Grenzen überflutet“. „Whitman“, bemerkt er weiter,

war vielleicht vor allem autosexuell. Die Ausweitung seines Ichs bis zu dem Punkt, an dem er sich als allumfassenden Schöpfer verstand, erhielt ihre vertrauende Kraft durch diese ungeheure Leidenschaft für seinen eigenen Körper oder auch umgekehrt… Dieses ist vielleicht die endgültige Erklärung der außerordentlichen Kühnheit und kosmischen Weite von Whitmans Sexualismus, mit dem er Männer und Frauen, Kinder und Tiere und die ganze Natur erfüllt, und der, wie er selbst sagte, ebensoviel Seele ist wie Körper. Das ist das Geheimnis seiner Fähigkeit zu indifferenzierter Leidenschaft, die für ihre Sympathie und ihr Verstehen keinerlei Grenzen kennt und deshalb auch imstande ist, sich in Gedichte zu projizieren, die die Liebe als weltbefreiend und als Bindemittel für eine vollendete Demokratie feiern.

Canby scheint dem Phänomen Whitman gerechter zu werden als Mayer mit seiner Einordnung, wiewohl Whitmans „Leidenschaft für den eigenen Körper“ durchaus mit Mayers Auffassung zu vereinbaren ist. Wie dem auch sei, die Frage nach der Sexualität bei Whitman ist nur deshalb von Belang, weil sie darauf hinlenkt, daß sein Vorhaben, sich als eine für das Durchschnittsindividuum repräsentative Persönlichkeit zu entwerfen, von vornherein widersprüchlich war: Seine psychische Verfassung ist nicht die des Durchschnittsmenschen; nur als Besonderer – und Whitman liefert eines der ausdrucksvollsten Beispiele für die allgemeine These – wird der Dichter seiner Mission gerecht, über die Bestandsaufnahme des Wirklichen weit hinaus ist Whitmans poetische Welt Imagination und Vision.
Die Liebe zu den Dingen, ihre Beseelung, charakterisiert nicht minder Whitmans Universum. In Teil neun heißt es:

… wir gebrauchen euch und werfen euch nicht beseite – wir pflanzen euch in uns, für immer,
wir begreifen euch nicht – wir lieben euch…

Natur wird vergeistigt im Sinn des Transzendentalismus von Ralph Waldo Emerson, der die Natur als „Metapher des menschlichen Bewußtseins“ nimmt. In seinem Essay „Sprache“ schrieb er: Der Mensch „ist in das Zentrum der Wesen hineingestellt, und Beziehungen strahlen von allem anderen Sein zu ihm herüber. Weder kann der Mensch ohne diese Objekte, noch können diese Objekte ohne den Menschen verstanden werden.“ Materialistisch gewendet, das Be-Greifen der Dinge in doppeltem Sinn verstanden, beschwört auch Marx das Einssein der Dinge und Menschen, wenn er in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ den Kommunismus als vollendeten Humanismus und vollendeten Naturalismus bezeichnet.
In großartiger Wiederholung – „Redundanz“ als poetische Information über Ich- und Weltgefühl – ruft Whitman in der Schlußpassage des Gedichts noch einmal alle bereits genannten Erscheinungen auf. Dichtung ist, so das Vorwort zur ersten Ausgabe der Grashalme, „Natur in voller Tätigkeit“, und Whitman weist sich solches Schöpfertum zu, er nennt die Erscheinungen nicht nur, sondern läßt sie gleichsam erstehen, ihre Rolle spielen, läßt, als hinge es von ihm ab, das Dasein existieren: „Lebe, du altes Leben!“ Ein Loblied des Lebens ist dieses Gedicht, seine Bejahung, die den eigenen Tod einschließt. Doch was zählt er, wenn das Ich anwesend ist oder inwesend bei den Kommenden? Es lebe die Welt! Das verkündet auch Olescha, kühner noch vielleicht und anrührender, weil vom Ich absehend:

Es lebe der Hund! Es leben die Tiger, die Papageien, die Tapire, die Nilpferde, die Grizzlybären! Es lebe der Sekretär, der Vogel mit der Atlashose und der goldenen Brille! Es lebe alles, was lebt – im Gras, in den Höhlen, zwischen den Steinen! Es lebe die Welt ohne mich!

neue deutsche literatur, Heft 414, Juni 1987

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