Jürgen Henkys: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Im Strom“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Im Strom“ aus Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band I. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Im Strom

Mit den Flößen hinab
im helleren Grau des fremden
Ufers, einem
Glanz der zurücktritt, dem Grau
schräger Flächen, aus Spiegeln
beschoß uns das Licht.

Es lag des Täufers Haupt
auf der zerrissenen Schläfe,
in das verschnittene Haar
eine Hemd mit bläulichen, losen
Nägeln gekrallt.
Als ich dich liebte, unruhig

dein Herz; die Speise auf schlagendem
Feuer, der Mund der sich öffnete,
offen, der Strom
war ein Regen und flog
mit den Reihern, Blätter
fielen und füllten sein Bett.

Wir beugten uns über erstarrte
Fische, mit Schuppen bekleidet
trat der Grille Gesang
über den Sand, aus den Lauben
des Ufers, wir waren gekommen
einzuschlafen, Niemand
umschritt das Lager, Niemand
löschte die Spiegel, Niemand
wird uns wecken
zu unserer Zeit.

 

 

Bobrowskis Gedicht „Im Strom“

– Hinweise zu Kontextualität und Intertextualität. –

I.
Johannes Bobrowski hat sein Gedicht selbst datiert: „11/8.61“. Es stammt aus einer Krisenzeit des Dichters. Auch die deutsche Krise trieb einem Höhepunkt entgegen. „Im Strom“ ist zwei Tage vor dem Bau der Mauer entstanden. Eine handschriftliche Fassung ist im Marbacher Ausstellungskatalog zu betrachten: die Überschrift in Versalien und zusätzlich unterstrichen, die Strophenfugen durch kleine Zwischenstriche gesichert, dreimal deutliche Großschreibung des „Niemand“ in der Schlußposition der Verse 24–26. Nur eine Korrektur weist die Handschrift auf: In 15 ist nach „offen“ ein „immer“ gestrichen – und die Verbesserung leuchtet unmittelbar ein. Hier der ganze Text:

IM STROM

Mit den Flößen hinab
im helleren Grau des fremden
Ufers, einem
Glanz der zurücktritt, dem Grau
schräger Flächen, aus Spiegeln
beschoß uns das Licht.

Es lag des Täufers Haupt
auf der zerrissenen Schläfe,
in das verschnittene Haar
eine Hemd mit bläulichen, losen
Nägeln gekrallt.
Als ich dich liebte, unruhig

dein Herz; die Speise auf schlagendem
Feuer, der Mund der sich öffnete,
offen, der Strom
war ein Regen und flog
mit den Reihern, Blätter
fielen und füllten sein Bett.

Wir beugten uns über erstarrte
Fische, mit Schuppen bekleidet
trat der Grille Gesang
über den Sand, aus den Lauben
des Ufers, wir waren gekommen
einzuschlafen, Niemand
umschritt das Lager, Niemand
löschte die Spiegel, Niemand
wird uns wecken
zu unserer Zeit.

Wann Bobrowski sein GedichtIm Strom“ an die Jury des Wiener Alma-Johanna-Koenig-Preises eingereicht hat, weiß ich nicht. Daß er es erst im Hinblick auf die Ausschreibung verfaßt hätte, ist ganz und gar unwahrscheinlich. Erfordert war ein Liebesgedicht in deutscher Sprache, und Bobrowski wählte einen seiner ungedruckten Texte aus. Unter 357 Einsendungen erhielt das durch Chiffre anonymisierte Gedicht „Im Strom“ den Preis. Der Dichter erfuhr es telephonisch am 4. Mai 1962, und am 17. Juli, elf Monate nach der Niederschrift, nahm er die Urkunde in Wien entgegen.

II.
Eine Interpretation kann unterschiedlich einsetzen. Ich wähle als Ausgangspunkt zwei Gegebenheiten, die eben schon berührt wurden: die Überschrift „Im Strom“ und die Gattung Liebesgedicht. Beide Bestimmungen sind durch den Autor selbst verfügt. Das heißt allerdings nicht, daß sie eindeutig wären. Sie bedürfen auch selbst der Interpretation und werden beide – die Überschrift als Bestandteil des Textes und die Gattungsangabe als an den Text herangetragenes und die Gattungsangabe als an den Text herangetragenes Urteil über ihn – erst durch das Gedicht als ganzes ins Recht gesetzt.
Die Überschrift „Im Strom“ hält das Gedicht mit allen ähnlich überschriebenen zusammen und setzt sich zugleich von ihnen ab: „Am Strom“ „Du kamst / den Mondweg, von Ostra Brama“, „Über dem Strom“ „Sand, / kalt, lebendig“, „Der Strom“ „Ihr hundert Ströme! Einmal erfuhr das Herz“, „Stromgedicht“ „Hoch / mit Flügen der Elstern“, „Stromgedicht“ „Traum“, / jählings“, „Stromland“ „Heimat, / in meinem Traum“, „Winterlicher Strom“ „Erstarrt ist unter Schollen von Eis der Strom“. Hinzu kommen „Am Fluß“ „Himmel, / die Bläue, Bogen“ und „Wiesenfluß“ „Kalt ist der Sommer, Licht“, ebenso die Gedichte, die mit Strom- und Flußnamen überschrieben sind „Don, Düna, Jura, Memel“ Mag sein, daß „in den Gedichten ,Strom‘ für die Memel, ,Fluß‘ für die Jura steht“. Jedenfalls sagte man, wo Bobrowski geboren wurde und wo er später bei den Großeltern die Ferien verbrachte, häufig Memelstrom und nicht einfach Memel. Aber „Strom“ ist über das geographisch identifizierbare Gewässer hinaus eben auch Inbegriff für die in sarmatisch überformter Erinnerung geschauten Ströme überhaupt. So ist der motivische Kontext, den diese Gedichte füreinander darstellen, nur ein sehr allgemeiner. Um so stärker tritt im Titel unseres Gedichtes die Ortsbestimmung „im“ hervor. Sie eröffnet ebenso konkrete Anschauung wie „am“ oder „über“, läßt aber auch Unanschauliches zu, und gerade das ist ihr poetischer Vorteil. „Im Strom“ können Flöße sein oder Schwimmer, Fische jedenfalls, auch Ertrunkene. Jedoch kann es sich auch um das Umschlossen- und Mitgenommensein von einer Bewegung handeln, die durch das starke Dahinziehen des Wassers eher bildhaft vergegenwärtigt als konkret bezeichnet wird. So findet sich jemand im Strom der Ereignisse vor, im Strom der Überlieferung, der Zeit oder des Lebens. Und „segellos, in der Strömung“, ziehen auch „Träume an Flüssen“ hinab.
Bobrowski hat sich nicht gescheut, in den Titel von Gedichten auch die Liebe aufzunehmen: „Liebeslied“ („Aus Wolkenwehn der Mond“), „Liebesgespräch“ („fliegend flügelos zeit“). „Bei Liebesgedicht“ (Mond, Ölschwamm, Laterne) handelt es sich sogar um einen Text, den er selbst veröffentlicht hat. Aber solche Titelentscheidungen sind Ausnahmen. Gedicht der Liebe sind z.B. auch „Am Strom“, „Am Fluß“, und „Seeufer“ („Was noch lebt / im Treibsand“), mit „Im Strom“ unterschiedliche verbunden durch bestimmte Wörter (Strom, Ufer, Sand, Fische, Schläfe, Schlaf, Mund, bläulich, kommen) und durch die Ich-Du-Wir-Rede. Auf einzelne Texte wird kurz zurückzukommen sein.

III.
1. „Mit den Flößen hinab“ – wer? Das Subjekt der Bewegung stromab erscheint erst am Ende der Versgruppe, und auch dort nur versteckt im grammatischen Objekt „uns: aus Spiegeln / beschoß uns das Licht“. So tritt das Wir nicht handelnd in das Gedicht ein, sondern mit einem Widerfahrnis. Auch ist das Ufer aus der Perspektive des Gedichtsanfangs ,fremd‘ statt vertraut, anders als in „Uferweg“, wo es heißt:

Wir

Sind gegangen am Fluß,
das Holz vom Ufer zu stoßen.
Fahr dahin, Holz, fahr
rindenlos.

Und nicht die Farbe Grün bestimmt das Bild, „Grün und Blau, / Himmel und Erde“, wie im Liebesgedicht „Am Fluß“. Sondern in einem „helleren Grau“ läßt die Gegend sich sehen. Es ist das „Grau schräger Flächen“ ansteigenden Geländes. Gleichwohl wird Glanz wahrgenommen, doch ein „Glanz, der zurücktritt“. Das hellere Grau und der verdeckte Glanz bestimmen einander und bewirken darin die Atmosphäre dieser Flußlandschaft. Gehen die Augen aber über den Strom hin, sind sie geblendet vom Reflex der Strahlen, die hier und dort durch aufgerissene Wolken aufs Wasser fallen:

aus Spiegeln
beschoß uns das Licht

So etwa sind die Verse zu deuten, wenn es um ihre Aufgabe ginge, Landschaft sichtbar zu machen. Aber sie tragen doch auch mehr in sich. Dann wäre „Glanz, der zurücktritt“ (man beachte das Präsens) Ausdruck für eine Erinnerung, die gefährdet oder schon beeinträchtigt ist, und „das Licht“ träfe, gebündelt und gebrochen, nur noch im Medium der Überlieferung gewordenen Manifestationen einstigen Lebens ein.
2. „Es lag des Täufers Haupt“ – die zweite Versgruppe ist die kürzeste des Gedichts. Sie ist auch die einzige, die ohne Wortbildungen der 1. und 2. Person auskommt. Es fehlt schließlich alles, was auf Strom und Ufer verweist. Mit dem Täufermotiv unterbricht die Strophe das Gedicht. Sie läßt sich, wie es scheint, übergehen, ohne daß eine Lücke bliebe. Andererseits: Wer mit diesem Gedicht Umgang hat und sich vorstellt, er hätte sich womöglich mit Versgruppe 1, 3 und 4 zu begnügen, wird widersprechen. Die befremdliche Einlagerung gehört dazu und macht mit allem Übrigen ein Ganzes aus.
Eberhard Haufe in seinem so vielfach bewährten Kommentarwerk verweist auf den biblischen Täufer Johannes und zieht einen bestimmten Typus der Darstellung von dessen Enthauptung heran. Bobrowski könne ein solches Bild des Niederländers J.S. Francken in Aschaffenburg gesehen haben. Im Übrigen sei überliefert, daß der Dichter einmal zu vorgerückter Stunde bekannt hat, diese Strophe „aus lauter Übermut von einem andern Gedicht“ übernommen zu haben. Das Geständnis des verschmitzten Johannes Bobrowski erscheint glaubhaft. Daß es sich aber bei dem „andern Gedicht“ um ein solches handelt, das er selbst verfaßt hat, bezweifle ich – wie denn auch Haufe feststellt, es sei bei ihm nicht nachweisbar. Für die Herkunft des Täufermotivs gibt es, wie ich meine, eine bessere Lösung, und sie bewährt sich auch für die Frage, wie es zur Einfügung der Versgruppe in das Gedichtganze kommen konnte. Im Versepos Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz handelt der 9. Gesang vom blutigen Kampf der im Schlaf überfallenen polnischen Edelleute, der Schlachta, mit einer Gruppe russischer Soldaten. Einer der Schlachtschitzen, weil er mit seiner gewaltigen Steinknotenkeule so behende wie mit einem Weihwasserwedel umzugehen versteht, trägt den Spitznamen „der Täufer“. Ein anderer, Gerwazy mit Namen, meist „der Schließer“ genannt, heißt nach seiner überaus scharfen Waffe auch „Federmesser“. Im hin- und herwogenden Kampf rettet der Täufer den alten Edelmann Matthias (Maciek), indem er im letzten Augenblick dem auf Maciek eindringenden Feind seine Keule an die Beine wirft, so daß er selbst für den Augenblick waffenlos ist. Und nun zitiere ich aus der alten Übersetzung von Siegfried Lipiner:

Den Täufer, der für Matthias die Kettle dahingegeben,
Kostete dieser Dienst gleich drauf beinahe das Leben.
Von hinten packen ihn zwei Russen, ein kräftiges Paar,
Vier Hände flechten sich ihm zu gleicher Zeit in’s Haar;
Sie stemmen sich mit den Füßen und ziehen, wie an den Strängen,
Die am Mast des Flußbootes festgebunden hängen.
Nichts hilft es, daß er blind flach rückwärts um sich haut,
Schon wankt er, als er den Schließer unfern im Kampf erschaut;
„Jesus Maria!“ ruft er, „Federmesser, herbei!“

Der Schließer, der seine Bedrängnis erkennt am lauten Schrei,
Wendet sich, schwingt die feine Klinge über dem Kopf
Und senkt sie zwischen die Hände und des Täufers Schopf
Sie weichen, gräßlich schreiend, zurück. Doch eine Hand,
Die sich schon mit den Haaren allzustark verband,
Bleibt blutausströmend hängen, vom Rumpf abgehackt:
[…]
Frei ist der Täufer […]

Bobrowski besaß die relativ freie poetische Nachgestaltung des Pan Tadeusz in deutscher Sprache von Walter Panitz mit den Illustrationen von Elviro Andriolli (Berlin 1955). Die Nachdichtung von Hermann Buddensieg erschien erst 1963 (München) bzw. 1976 (Berlin und Weimar). In den für uns entscheidenden Punkten stimmen aber alle drei Versionen überein: Die fragliche Kampfszene ist so geschildert, daß sich von ihr her leicht erklärt, was beim Rückgang auf das Gemälde vom Johanneshaupt in der Schüssel dunkel bliebe: die „zerrissene“ Schläfe (obwohl das Wort ,Schläfe‘ bei allen drei Übersetzern fehlt), das „verschnittene“ Haar, die ins Haar „gekrallte“ Hand und deren leichenhafter Anblick. Diese unverwechselbar anschaulichen Besonderheiten sind durch das Johannesbild nicht gedeckt, sehr wohl aber durch die Erzählung vom Kampf im Schloß der Familie Soplica.
Doch völlige Sicherheit erhält die Interpretation erst durch die Abkunft dieses neuen „Täufer“-Bildes: Es stammt ja von Adam Mieckiewicz, und nur um seinetwegen hat es Bobrowski der eigenen Sprache anverwandelt und in sein Gedicht geholt. Ist nämlich, wenn auch noch so versteckt, Mickiewicz ins Gedicht eingezogen, so beherbergt es gerade keinen Fremdkörper! Die Präsenz des polnisch-litauischen Dichters (selbst in einem solch bizarren poetischen Siegel) verstärkt nur, was Bobrowski ohnehin intendiert und leistet: nämlich nicht einfach Gegend zu schildern, sondern Landschaft herbeizurufen, geschichtlichen Raum von Völkern, Gestalten und Poesien. In einem frühen Brief an Peter Jokostra schrieb Bobrowski:

Ich bin vom Lande, vom allerplattesten, aus dem äußersten Winkel der ehemaligen deutschen Ostgebiete, wo man mehr litauisch sprach und wo Mickiewicz herstammt.

Mickiewicz, der wohl gemerkt polnisch schrieb, nicht litauisch, und dessen litauischer Geburtsort wahrhaftig nicht in der Umgebung von Tilsit zu suchen ist! Das Briefzitat zeigt, wie sich für Bobrowski damals die äußere politisch-geographische Herkunft mit der inneren geschichtlich-kulturellen Beheimatung zusammenschob. Der Name dieses Einen, des Autors von Pan Tadeusz, mußte mitgenannt werden, als er brieflich kurze Auskunft gab über das eigene Woher. Verknappte Entlehnungen aus dem Pan Tadeusz bzw. Anspielungen auf einzelne Stellen finden sich mit Nennung des Autornamens in den Gedichten „Wilma“ und „Mickiewicz“, ohne Autornamen in den Gedichten „Anruf“ und „Der Wachtelschlag“. Das Gedicht „Im Strom“ reiht sich hier ein, hat aber eine Ausnahmestellung darin, daß (um im Bilde zu sprechen) eine Verputzung der Fugen unterblieb und das Rätsel des Einschubs durch den grausigen Inhalt gesteigert wurde. Intertextualität als Moment des Stils ist auch Mittel des Spiels.
Nach mündlicher Überlieferung ist hier Übermut am Werk gewesen. Warum nicht? Das Spiel mit den Lesern gehört zur Kunst. Jedenfalls hat Bobrowski gewußt, warum er bei seinem Einfall blieb. Die Versgruppe „Es lag des Täufers Haupt“, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang verstanden, hält ja die Erinnerung an Bedroht- und Entronnensein fest. Bin ich, sind wir wirklich entronnen? Oder immer noch bedroht? Läßt Liebe vergessen, daß wir am Rande des Todes lagern? Oder vertieft sie noch, was wir zu fürchten haben? Indem ich so formuliere, greife ich schon auf die letzte Zone des Gedichtes vor, in der ebenfalls Intertextualität zum Zuge kommt. Doch zuvor ist bei Versgruppe 3 zu verweilen.
3. „Als ich dich liebte“ – der im berichtenden Imperfekt anhebende Satz zerbricht alsbald. Die gewesene Liebe läßt sich nicht einfach wiedererzählen, nicht diesem Du, weil es sogleich gegenwärtig ist: „unruhig / dein Herz […] der Mund, der sich öffnete, / offen“. Dazwischen, eigenartig plaziert:

die Speise auf schlagendem Feuer

Man könnte sich mit der Reminiszenz an das gemeinsame Abkochen im Freien zufrieden geben: Es geschieht mehr dabei, als daß man nur Holz nachlegt und in die Flamme schaut. Aber die Zwischenstellung sowie die Formulierung des unvollständigen Satzes zeigen Anderes an, vielleicht dies: Sonst schlägt das Herz, hier auch das Feuer. Das Herz ist das Feuer. Sonst öffnet der Mund sich zum Reden, beim Essen, hier bleibt er offen. Der Mund ist die Speise. Und unvermittelt dann, in der kurzen Zeile nur durch Komma vom Vorigen getrennt, tritt als neues Subjekt der Strom nach vorn. In der dritten Person redend, läßt der Dichter eine aus der Fassung geratene Natur zu Ende bringen, was mit stockender Ich-Erzählung begann:

[…] Der Strom
war ein Regen und flog
mit den Reihern, Blätter
fielen und füllten sein Bett.

Der Regen strömt? Umgekehrt:

Der Strom war ein Regen

Mehr noch, er „flog mit den Reihern“. Er verließ seine Stätte, aufwärts machte er sich davon. Anders die Blätter. Aber eine Herbsttönung gehört nicht zu diesem Gedicht. So ist es also ein Sturm, der das Laub von den Bäumen reißt? „Blätter / fielen und füllten sein Bett“. Bei diesem schon durch die Schlußposition hervorgehobenen Satz achte man einmal auf die chiastische Anordnung der konsonantischen Alliterationen (b f f b) und vokalischen Assonanzen (ä i ü ä). Oben und unten sind verkehrt. Das Bett des nach oben entflogenen Wassers füllt sich neu mit den nach unten wirbelnden Blättern. Hier, im aufgedeckten Grund, in der Tiefe, die die Blätter aufnimmt, wird die Gedichtüberschrift anschaulich, ohne bloße Augenwirklichkeit abzubilden: Im Strom. Mehr noch: Der Augenschein führt vor die metaphorische Valenz der tragenden Wörter. Sinnliche Rede will sich von ihrer Innenseite her auftun.
Wenige Wochen zuvor hatte Bobrowski die zweite Fassung seines Stimme-Gedichts niedergeschrieben. Das dortige „Blatt“-Motiv (losgelöste Blätter, fliegend, wirbelnd) ist nicht ohne den Hintergrund der an hervorgehobenen Stellen von J.G. Hamann gebrauchten Metapher zu verstehen. Für das Stimme-Gedicht gilt: „Laub- und Papierbedeutung sind im Bild kaum zu unterscheiden“, wie denn „Blatt“ bei Bobrowski oft genug die Chiffre für Gedicht ist. „Blätter / fielen und füllten sein Bett“, das Bett des Stromes. Aber wofür steht dann „Strom“?
4. „Wir beugten uns über erstarrte / Fische“ – in dieser Tiefe zum ersten Mal: „Wir“. Immer schon gemeint, war das Wort in den bisherigen Versen doch nie ausgesprochen worden. Jetzt ist es da und wird gleich noch einmal erscheinen. – Erstarrte Fische sind tot. Ihr Element hat sie verlassen, und nur so lassen sie sich aus der Nähe betrachten. Tod meint vielleicht auch „der Grille Gesang“. Wenn dieser Gesang hier „mit Schuppen bekleidet“, also den Fischen gleich, „über den Sand“ tritt, dann ist auch er nicht mehr in seinem Element, den grünen Lauben des Ufergebüschs.
„[…] wir waren gekommen / einzuschlafen“. Zunächst etwas zur Zeitform. Das sonst herrschende Imperfekt (Ausnahme V. 4) ist an dieser einen Stelle durch das Plusquamperfekt ersetzt: Ich blicke auf eine Handlung als schon in der Vergangenheit abgeschlossene zurück. Prosaisch: Unser Kommen hatte dem Ziel gegolten einzuschlafen. Es darf jetzt also gefragt werden, ob das Erstrebte auch eintrat. Damit wäre die Antwort vorbereitet, die in den drei abschließenden Niemand-Sätzen steht. Aber was heißt einschlafen, was ist der dem Einschlafen folgende Schlaf? Soll man dem christlichen Euphemismus folgend an Sterben und Tod denken? „Aber ich kam zu schlafen“, sagt der Angekommene im Gedicht „Wiederkehr“. Und später:

Aber ich schlaf nur.
Ich bin nicht hier.
Ich such eine Stelle,
nur ein Grab breit, den kleinen Berg
über den Wiesen. Von dort
kann ich sehen
den Fluß.

Schlafen ist so viel wie träumend vergegenwärtigen, etwas Vergangenes als anwesend imaginieren. So auch in „Absage“: „Und wie Schlaf / das Vergangene, Träume / an den Flüssen hinab“. Einen unzugänglichen Schlaf schlafen aber auch die Naturwesen:

Und wer lehrt mich,
was ich vergaß: der Steine
Schlaf, den Schlaf
der Vögel im Flug, der Bäume
Schlaf, im Dunkel
geht ihre Rede.

Diese Beziehung von Schlaf und verhüllter Rede erinnert an Johann Georg Hamann. Bei den gleich zu bedenkenden Schlußversen unseres Gedichts hat der „Magus in Norden“ ohnehin die Hand im Spiel. In „Entkleidung und Verklärung“, Hamanns Fliegendem Brief „an Niemand, den Kundbaren“, rechtfertigte er die eigene Autorschaft und Schreibart unter einem Aufgebot von biblischen Anspielungen. Hinter den folgenden Zeilen steht der Anfang von Psalm 45, eines Brautliedes, das Hamann mit der christlichen Tradition messianisch verstand:

Ein feines Lied, dessen Gegenstand nicht das Herz, sondern der Griffel eines gutes Schreibers dichten muß! Weil der Kopf immer vergißt, und die Linke nie weiß, was die Rechte pflügt und mahlt: so würken träumende Bilder und Gefühle im Schlummer der Besonnenheit – […]

Bobrowski hat die Hamann-Auswahl von Martin Seils nicht nur angeregt, er hat sie auch intensiv betreut. Er hat sie am 27. Januar 1962 der staatlichen Genehmigungsbehörde gegenüber mit einem starken Lektoratsgutachten vertreten, und am 12. Februar hat er dem Herausgeber als Gesamttitel Entkleidung und Verklärung vorgeschlagen. Dieser von Martin Seils im Kontakt mit Bobrowski zusammengestellte Hamannband ist für die über das ganze Werk verstreuten Hamann-Anspielungen Bobrowskis sozusagen die Erste Hilfe. Alles, was Seils aus Hamann aufgenommen hat, war Bobrowski in jener Zeit präsent (nicht nur das, natürlich, aber das auf nächstliegende Weise). So halte ich es nicht für eine Überinterpretation, wenn ich „träumende Bilder und Gefühle im Schlummer der Besonnenheit“ als einen Topos bewerte, der für manche Schlaf-Stellen in Bobrowskis Sarmatischer Lyrik zu beanspruchen ist – und der darüber hinaus für seine Poetologie überhaupt zu Buche schlägt. Was unser Gedicht betrifft: In den Schlaf der Liebenden trägt der Dichter sich selbst als Schreibenden ein!
5. Exkurs im Rückblick auf Vers 8: In der Täufer-Strophe ist das Wort ,Schläfe‘ durch die Übersetzungen von Lipiner, Panitz und Buddensieg nicht gedeckt. Bobrowski hat damit Eigenes eingetragen. ,Schläfe‘ ist von ,Schlaf‘ bzw. ,schlafen‘ abzuleiten: Im Schlaf liegt man auf der Schläfe. Bobrowski hat mündlich darauf hingewiesen, daß die Schläfe „eine besonders sensible Stelle des Menschen“ sei. Eberhard Haufe fügt hinzu:

Durch das Schläfenbein treten u.a. Kopfschlagader und Gesichtsnerv hervor.

Daß ,Schläfe‘ zu den Zentralworten der Lyrik Bobrowskis gehört, liegt auf der Hand. Eine Wortstatistik könnte die Basis einer ausführlicheren Darstellung sein, als sie hier möglich ist. Nur so viel: Ich habe in den Gedichtbäden Sarmatische Zeit, Schattenland Ströme, Wetterzeichen und Im Windgesträuch 16 Schläfe-Stellen geprüft. Zehn davon gehören in die Jahre 1960/61, von „Einmal haben“ (18.2.60) bis „Im Strom“ (11.8.61). Das ist eine auffällige Häufung. Sieben von diesen zehn Vorkommen finden sich in Liebesgedichten (der Begriff sei hier weit gefaßt) bzw. in Textpassagen, die vom Liebesmotiv durchtönt sind. Auf die Verteilung und die Konstellation der Begleitwörter „Schlaf“, „Haar“, „Mund“ gehe ich nicht ein. Interessant im Vergleich mit der Täufer-Strophe sind besonders die Verse „Abend, die Schläfe, / in die sich die Hand schmiegt, der Mund / singt ohne Laut“. Die Hand schmiegt sich in die Schläfe, eine fremde Hand also, eine liebende, nicht die eigene. Sonst müßte es heißen: Die Schläfe schmiegt sich in die Hand. „Schmiegen“ und „reißen“, „zerreißen“ bilden einen schroffen Gegensatz. Die Schläfe als Ort zärtlicher Berührung (so auch in einer Reihe weiterer Vorkommen) ist nun aber ebenfalls eine Art Organ des poetischen Schlafs, der „träumenden[n] Bilder und Gefühle im Schlummer der Besonnenheit“. Und Bobrowskis Gedichte sind durchwirkt von der Vorstellung, die Geliebte habe mit ihrem eigenen Schlaf teil am Quellort des Dichtens:

Was noch lebt
im Treibsand
unter der großen Fische
Flossenflügel
[…]
ist wie ein Wort, ungesagt,
gehört in der Höhlung des Mundes,
im Beben der Schläfe,
im Haar. Wir treiben ans Ufer,
mit bläulichen Händen Liebe, weiß.
[…] der Schlaf, ein Geflüster,
legt sich zu uns.

Oder:

Auf deiner Schläfe
will ich die kleine Zeit
leben, vergeßlich, lautlos
wandern lassen
mein Blut durch dein Herz

Oder:

es liegt deine Schläfe (ein Klopfen
langsam, nicht mehr zu hören,
nie mehr) auf meinem Mund

Oder:

Schöne Geliebte,
mein Baum,
dir im Gezweig
hoch mit offener Schläfe
gegen den Mond
schlaf ich, begraben
in meine Flügel

Im Gedicht „Im Strom“ bildet die „zerrissene Schläfe“ des mit knapper Not geretteten „Täufers“ die Folie für den Wunsch der Liebenden, gemeinsam „einzuschlafen“.
6. „[…] Niemand / umschritt das Lager“ – die Gestalt eines „Niemand“, der unter diesem Un-Namen agiert und seinen wahren Namen verbirgt, ist durch Homers Odyssee in die Literatur eingetreten.
Zweimal wendet sich Hamann mit einer Buchzuschrift an „Niemand“: in Sokratische Denkwürdigkeiten und in Entkleidung und Verklärung. Beide Male heißt es aber:

An Niemand, den Kundbaren

Kundbar ist jemand, von dem es Kunde gibt: Er ist bekannt und insofern gerade kein Niemand. So spricht Hamann in den „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ das anonyme „Publicum“ als jenen Niemand an – und damit auch die sehr wohl bekannten Kunstrichter, von denen das Publikum sich am Gängelband führen läßt. Entkleidung und Verklärung (ich habe aus dieser Schrift schon zitiert) ist Hamanns „Abrechnung mit einer Rezension“. Insofern kann er die gleiche Adressierung verwenden. Die ungreifbare und gleichwohl gelenkte öffentliche Meinung als Drohmacht über dem Autor, das scheint mir die nächstliegende Auflösung für Bobrowskis Rückgriff auf den Niemand-Topos zu sein.
Zwischenein: Hamann hat natürlich auch die Autorgestalt in seine ironischen Rätselreden aufgenommen, den unverstandenen und auf das Schaffott kunstrichterlicher Überheblichkeit gezerrten Verfasser, so etwa in „Schriftsteller und Kunstrichter; geschildert in Lebensgröße, von einem Leser, der keine Lust hat Kunstrichter und Schriftsteller zu werden“. Die Vignette auf dem Titelblatt der von C.F. Nicolai herausgegebenen Briefe über die neueste Literatur wird für Hamann zum Bild für die enthauptete Muse des göttlichen Homer:

Dann gleichwie der Kopf Holofernis über die Mauer hinaushing, den eine jüdische Betschwester im Sack steckte, samt der Decke, worunter er lag, als er trunken war oder gleichwie das Haupt Johannis auf einem Credenzteller –: so sah ich das Haupt Homers, als das Wapen jedes platonischen Kunstrichters.

Das Haupt des Täufers assoziiert Hamann, als er der musenfeindlichen Literaturkritik unterstellt, sie habe sich das (im Bilde wie abgeschlagen wirkende) Haupt des Homer zum Wappen erkoren. Bei Bobrowski löst Hamanns Vision eine poetische Idee aus, nur dass er über die biblische Geschichte vom Konflikt des Johannes mit dem Despoten hinwegspringt und den anderen „Täufer“ ins Gedicht holt, den er aus dem Pan Tadeusz kennt.
Zurück zu 24–28: „Niemand“ groß geschrieben wirkt als fraglicher, aber gefährlicher Jemand. Der könnte allerdings auch die Ausgeburt der eigenen Furcht sein, also klein geschrieben einfach: keiner. Das Oszillieren gehört zum Topos. Nun darf aber nicht übersehen werden: Die beiden ersten Niemand-Sätze verbleiben im berichtenden Imperfekt:

Niemand
umschritt das Lager,
Niemand
löschte die Spiegel

Die anonyme Macht, die Traum und Wort und das Licht der Erinnerung zu bestreiten droht, wird am ehesten diesen beiden ersten Sätzen zuzuordnen sein. Der dritte Satz dagegen wendet die Rede ins Zukünftige:

Niemand
wird uns wecken
zu unserer Zeit

Und nicht nur das: Er zielt statt auf fremd bestimmte Zukunft auf „unsere“ Zeit. Zudem ist die Wendung „wecken zu unserer Zeit“ biblisch getönt. Zu ihrer Zeit werde Gott seine Worte erfüllen, sagt die Schrift. Oder zu eurer Zeit werde er euch erhöhen. Und sollte es ganz ausgeschlossen werden, daß sich im Hintergrund auch die dreimalige Bitte aus dem Hohenlied regt:

Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Rehen oder bei den Hinden auf dem Felde, daß ihr meine Freundin nicht aufweckt noch regt, bis es ihr selbst gefällt.

Jedenfalls liegt hier das Gefühl der Hoffnung näher als das der Bedrohung. Dann aber würde „Niemand“ zu einer Chiffre, die auch die (verwaiste?) Stelle des Wortes „Gott“ einnehmen kann. Um einen Reflex auf Paul Celans Gedicht „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm“ kann es sich dabei aber nicht handeln. Der Band Die Niemandsrose, der Celans Psalm enthält, ist erst 1963 erschienen. So führt der letzte Niemand-Satz auf eine Schwelle, hinter der wirklich „unsere“ Zeit anbrechen könnte.

IV.
Die intertextuellen Möglichkeiten der Dichtung auszunutzen hat Bobrowski nicht erst in der Lyrik der Moderne gelernt. Durch den „Magus“ und dessen Indienstnahme des Cento war er längst darauf vorbereitet. Was das Gedicht „Im Strom“ betrifft, so sticht es in Bobrowskis Poesie nicht schon dadurch hervor, daß es Fremdtexte in sich aufnimmt. Seine Besonderheit liegt darin, daß der Autor hier zwei der großen Leitbilder seiner dichterischen Existenz zugleich heraufruft: eben den „Magus“ Johann Georg Hamann und zuvor noch Adam Mickiewicz. Gibt es ein anderes Bobrowski-Gedicht, das sich in dieser Hinsicht mit „Im Strom“ messen kann?
Intertextualität gehört zur Absicht des Autors. Anders steht es mit der werkimmanenten Kontextualität. Sie ergibt sich. Die Interpretation eines Gedichtes durch Beachtung kontextueller Sachverhalte voranzubringen, ist eine Selbstverständlichkeit. Bei Bobrowski stößt man hier allerdings auf erhebliche Schwierigkeiten: Die Gebilde aus Versen, Sätzen und Wörtern sind so gewebt, daß Alles mit allem zusammenhängt. Die Vielfalt der Beziehungen zwischen den Gedichten scheint das Deutungskriterium Kontext stark zu relativieren. Im vorliegenden Versuch haben die Größen Titel, Gattung, Entstehungszeit und Vokabular zur ersten Orientierung über möglicherweise aufschlußreiche Kontexte geholfen. Aber manche Spuren habe ich liegen gelassen oder gar nicht erst aufgenommen. Fruchtbarer ist es, so schien mir, sich auf Weniges zu konzentrieren und so eine Überdehnung der Interpretation zu vermeiden. Die Fokussierung von ,Schlaf‘, ,schlafen‘ und ,Schläfe‘ ließ schließlich Kontexte auftauchen, die geeignet sind, einen Zusammenhang zwischen den Versgruppen 7–11 und 19–28 und den beiden darin beanspruchten Fremdtexten sichtbar zu machen. Durch die Einbeziehung eines weiteren Hamann-Zitates („das Haupt Johannis auf einem Credenzteller“) ließ dieser Zusammenhang sich noch verstärken. Allerdings gilt nach wie vor: Keine Interpretation hat das letzte Wort. Der Rang des Kunstwerks erweist sich gerade am Streit seiner Ausleger.

V.
Nachtrag. Nach dem Bobrowski-Colloquium im November 2003 hat mir Dalia Bukauskaite freundlicherweise Einblick in die sorgfältigen Eintragungen und Anstreichungen vermittelt, die sich in Bobrowskis Taschenausgabe des Neuen Testaments (mit angebundenem Psalter) finden. Richtig befragt, gibt diese Quelle teils bestätigende, teils überraschende Auskünfte zu Person und Werk. Sie kommt vielleicht auch der Deutung von „Im Strom“ zugute.
Unter den letzten Versen des Neuen Testaments steht in Bobrowskis Schrift das Augustin-Wort:

fecisti nos ad te et inquietatum est cor nostrum donec requiescat in te.

Die Wendungen „unruhig dein Herz“ in Bobrowskis Gedicht und „inquietatum cor nostrum“ in Augustins Gebet bilden sprachlich wie sachlich einen Einklang, der es verbietet, in der Interpretation einfach darüber hinwegzugehen. Auch ohne das Gedicht theologisch zu überlasten, darf behauptet werden: „Im Strom“ lotet als Liebesgedicht das Leben der Liebenden in einer Tiefe aus, die auch deren letzte Bestimmung einschließt.
Im Psalm 90 hat Bobrowski die Verse 3–5 angestrichen. Darin heißt es von den Menschen:

[…] Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf […]

„Strom“ ist hier Metapher für das Menschenleben in seiner unaufhaltsamen Vergänglichkeit. Noch zweimal (unangestrichen) kommt Luthers „dahinfahren“ in den nächsten Versen vor:

Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn […] Unser Leben […] fahret schnell dahin, als flögen wir davon.

Im Gedicht „Uferweg“ (22.4.1962) sind die Liebenden zum Fluß gegangen, „das Holz vom Ufer zu stoßen“. Da sprechen sie zu den geflößten Stämmen:

Fahr dahin, Holz, fahr
rindenlos
[…]

Klingt „dahinfahren“ aus Psalm 90 in „Uferweg“ nach, so die dazugehörige Strom-Metapher (schon einige Monate zuvor) im Titel und im Text von „Im Strom“.
Die oben in den Teilen I–IV vorgelegte Interpretation war für das Bobrowski-Colloquium im November 2003 bestimmt. Impulse aus der dortigen Diskussion sind eingearbeitet worden. Aber für ein neues Bedenken meines Versuchs insgesamt, kam die Begegnung mit den Eintragungen in Bobrowskis Taschentestament zu spät. Es müssten dafür ohnehin auch die Eintragungen in der von ihm benutzten Vollbibel berücksichtigt werden. Aber die liegen mir noch nicht vor. So genüge vorerst dieser Nachtrag. Die intertextuellen Einfärbungen und Anreicherungen des Bobrowskischen Werkes durch die Sprache der von Luther verdeutschten Bibel bleiben ein weites Feld – für Leser und auch für Forscher.

Jürgen Henkys, aus: Dietmar Albrecht, Andreas Degen, Helmut Peitsch, Klaus Völker (hrsg.): Unverschmerzt – Johannes Bobrowski – Leben und Werk, Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, 2004

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