Jürgen Theobaldy: Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Abschied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Abschied“ aus Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. –

 

 

 

 

GERTRUD KOLMAR

Abschied

Nach Osten send ich mein Gesicht:
Ich will es von mir tun.
Es soll dort drüben sein im Licht,
Ein wenig auszuruhn
Von meinem Blick auf diese Welt,
Von meinem Blick auf mich,
Die plumpe Mauer Täglich Geld,
Das Treibrad Sputedich.

Sie trägt, die Welt in Rot und Grau
Durch Jammerschutt und Qualm
Die Auserwählten, Tropfentau
An einem Weizenhalm.
Ein glitzernd rascher Lebenslauf,
Ein Schütteln großer Hand:
Die einen fraß der Mittag auf,
Die andern schluckt der Sand.

Drum werd ich fröhlich sein und still,
Wenn ich meinen Soll getan;
In tausend kleinen Wassern will
Ich rinnen mit dem Schwan,
Der ohne Rede noch Getön
Und ohne Denken wohl
Ein Tier, das stumm, ein Tier, das schön,
Kein Geist und kein Symbol.

Und wenn ich dann nur leiser Schlag
An blasse Küsten bin,
So roll ich frühen Wintertag,
Den silbern kühlen Sarkophag
Des ewigen Todes hin,
Darin mein Antlitz dünn und leicht
Wie Spinneweben steht,
Ein wenig um die Winkel streicht,
Ein wenig flattert, lächelnd bleicht
Und ohne Qual verweht.

 

Unbesiegbares Zeugnis

Es fällt mir schwer, das Gedicht zu lesen, als wüßte ich nichts vom Schicksal seiner Verfasserin. Von Anfang an wirkt in diesen eher schlichten Versen eine starke Spannung. Wer immer die Frau ist, die sich da hinaussehnt ins Weite und in kindlich-märchenhaften Wendungen weg will von der Beschäftigung mit sich selbst, sie braucht die Welt auch, um sich ihrer bescheidenen Größe ebenso gewiß zu bleiben wie ihrer Einzigartigkeit. Ihr Ich sieht sie als „Tropfentau“, leicht von den Blättern zu schütteln, doch auch als Teil der „Auserwählten“. Und allen Entgrenzungswünschen zum Trotz will sie sich mit der Perspektive begnügen, daß ihr Dasein auf Erden ein kurzer, „glitzernd rascher Lebenslauf“ gewesen sein wird. Dann aber, nachdem ihr „Soll getan“ ist, wird sie nur noch teilhaben an der lauteren Schönheit des Kreatürlichen. Hier ist die Spannung am stärksten, das Gedicht erreicht seine engste Stelle: Sein Ich bescheidet sich in der Unermeßlichkeit von „tausend kleinen Wassern“; es fügt sich der Größe des Weltlaufs, um sich an die Natur anzuschmiegen.
Aus dieser Engführung kehrt die letzte Strophe erweitert hervor. Nicht nur sind ihre beiden Doppelreime gegenüber den anderen, gleich gebauten Strophen verdreifacht, sie enthält zudem in ihrer Mitte den einzigen Bruch des durchgängig jambischen Metrums: Die doppelte Senkung im „ewigen“ Tod verlängert gerade die kleinste formale Einheit, den Versfuß; Hoffnung, gar einen Anspruch auf ein Leben nach dem Tod hegt das Ich nicht.
Viele Male habe ich dieses Gedicht gelesen, auch um mich zu vergewissern, daß sein erster Eindruck auf mich standhält. Das Gedicht nimmt einen Abschied vorweg, den Gertrud Kolmar um 1932 nicht im Sinn gehabt haben kann, obschon sie sich früh über die Ziele der Nationalsozialisten im klaren war. Die Versuche anderer nach 1945, deren Untaten zu begreifen, haben die Wörter des Gedichts mit Bedeutungen aufgeladen, die es zu einem bewegenden, grandiosen Gesang machen. Der „Abschied“ übersteigt das Andenken an Gertrud Kolmars Schicksal, ihren eigenen, nie mehr datierbaren Tod in Auschwitz, wo sie, die jüdische Rüstungsarbeiterin aus Berlin, neunundvierzigjährig entweder am 5. oder 7. März 1943 ankam, um sogleich in der Gaskammer, die alles andere als eine Kammer war, oder innerhalb kurzem durch Zwangsarbeit, durch Entbehrung und Drangsal im Lager umgebracht zu werden.
Das Gedicht ist eine Grabinschrift auf den Tod von Millionen, geschrieben nicht im nachhinein, auch nicht als Prophezeiung entworfen und gerade daher von einer ungeheuren Authentizität. Sein „Gesicht“ erschaut Bilder, die auszulöschen selbst den gründlichen und effizienten nazistischen Planern nicht gelungen ist, das Grab in den Lüften – und in den Wassern: denn die Asche und die zerstampften Knochenreste der im Gas Erstickten, dann in den Krematorien Verbrannten war ab 1942 in die nahe Weichsel geschüttet und so der See zugetrieben worden. Inzwischen weiß ich, daß „Abschied“ als das vorletzte Gedicht von „Mein Kind“ gedacht war, einem Zyklus, der zu Lebzeiten der Dichterin nie vollständig veröffentlicht wurde. Geschaffen für ein Kind, das Gertrud Kolmar nicht geboren hat, ist ihr Gedicht zum Abschied für das mittel- und osteuropäische Judentum geworden, dessen Leben und Sterben nur in solchen Versen und Zeugnissen bewahrt bleibt. Was ein fiktives kleines Wesen trösten sollte – daß das Antlitz seiner Schöpferin nach derem Tod „ohne Qual“ verwehen werde –, kündet nun vom finstersten realen Verbrechen dieses Jahrtausends. Die Spuren davon sind noch im Unscheinbarsten, in dem „leisen Schlag an blasse Küsten“, gegenwärtig.

Jürgen Theobaldyaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

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