Karl Krolow: Wenn die Schwermut Fortschritte macht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Wenn die Schwermut Fortschritte macht

Krolow-Wenn die Schwermut Fortschritte macht

BILDER

Bilder kommen
ohne Syntax aus.
Die Freiheit als Plakat
hat einen vollkommenen Körper,
der sich angenehm ansieht
und die Wahrheit unterschlägt
wie alle Fahnen, die man sich
an den Hut steckt unterwegs
beim Weiterkommen in einer
Gegend, in der man sich
auszukennen glaubt −:
Leben, das eine ganze Menge
aushält, aber nicht stimmt,
wenn man es gegen das Licht hält,
und das so tut,
als sei es vollkommen unterscheidbar
von Abbildungen oben genannter Art.

 

 

 

Nachwort

I
In einem Interview, das Karl Krolow aus Anlaß seines 70. Geburtstages für ein Kulturmagazin gab, findet sich die wie eine literarische Bilanz zu verstehende Bemerkung: „Ich habe das beschrieben, was übrigbleibt – nämlich nichts.“ Dieser Satz, der auf ein heute kaum mehr zu überblickendes Werk verweist, erscheint nur dem schnell über ihn hinweggehenden Leser als ironisch. Tatsächlich aber bezeichnet er ein poetisches Bewußtsein, das in die Bezirke des fast nicht mehr Wahrnehmbaren vorzudringen imstande ist und eher den Schattenriß meint als die Dinge. Stellt man ihn den Briefsätzen Gustave Flauberts an Louise Colet gegenüber, werden Verwandtschaften deutlich:

Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne äußere Bindung, das sich selbst durch die innere Kraft seines Stils trägt, so wie die Erde sich in der Luft hält, ohne gestützt zu werden, ein Buch, das fast kein Sujet hätte oder bei dem das Sujet zumindest fast unsichtbar wäre, wenn das möglich ist. Die schönsten Werke sind jene, die die wenigste Materie enthalten; je mehr der Ausdruck sich dem Gedanken nähert, je enger das Wort daran haftet und verschwindet, um so schöner ist es. (…)

Freilich ist das Buch über das Nichts, das die französischen Spätromantiker so gern geschrieben hätten, nicht entstanden; geblieben indessen sind bis heute gültige Fragestellungen, die im dichterischen Œuvre Karl Krolows gut aufgehoben sind. – Die Verkürzung der äußeren Zeit zugunsten einer Ausdehnung ins Innere der Erscheinung, wie es in den Gedichten, aber auch in der Prosa zu sehen ist, steht ein für die Sehnsucht nach Überschreitung eigener zeitlicher Begrenztheit. Das kommt dem ästhetischen Wesen der Romantik, die als „Autonomie des Imaginären“ (Reinhold Grimm) verstanden werden kann, recht nahe und gilt als praktische Entsprechung eines poetischen Ideals, das im schönen Stillstand der Bilder zu finden ist. Und was ist das anderes als der Versuch, Zeit zum Verschwinden zu bringen, um die Erscheinung ins Verhältnis mit dem Unendlichen zu setzen, das dem Nichts so sehr gleichkommt?
Indem sich der Dichter formal oder thematisch immer auch mit der Zeit beschäftigt, ist seiner Dichtung die primäre Wesenskraft allen Bewußtseins immanent: dem Bewußtsein über ein Leben zum Tode, gespiegelt im Ablauf von Naturvorgängen ebenso wie in zahllosen menschlichen Verrichtungen, im Minutenglück der Liebe wie im Unglück des Verlassenseins an einem beliebigen Mittwochnachmittag.

II
Zunächst sind es die deutschen Naturlyriker, die den jungen Karl Krolow beeinflußt haben und in deren Tradition er Anfang der vierziger Jahre Verse zu schreiben beginnt, die in dem Band Hochgelobtes, gutes Leben 1943 erstmalig gesammelt erscheinen. Wilhelm Lehmann, von dem er sich später entschieden lossagen wird, Oskar Loerke und Elisabeth Langgässer sind die wohl wichtigsten Vertreter jener naturmagischen Schule, der Karl Krolow sich anschließt. Die Illumination von Flora und Fauna, wie sie von jenen Dichtern vorgeführt wurde, war ein sicherer Reflex der Abwehr nationalsozialistischer Blut-und-Boden-Literatur und eine Verlustanzeige des Menschen, der in der Natur eine reine Schattenexistenz fristet. Landschaft wird schon lange nicht mehr biedermeierlich durchwandert, sondern sie ist zum Zufluchtsort einer in die Absurdität getriebenen geschichtlichen Existenz geworden. In ihrer üppigen Vegetation verlieren sich die menschlichen Spuren gleich dem lyrischen Subjekt, das sich hinter den Wörtern zu verstecken versucht, sich zurücknimmt bis zur Selbstvergessenheit. Nur in der Weise eher zufällig liegengelassener Reliquien inmitten alles überwuchernder Gewächse wird menschliche Anwesenheit bezeugt. Die Welt ist nichts als bloße Natur, und die Zeit wird allein als Jahreszeit behandelt. An der Erweiterung des reflektiven Bewußtseins auf die magischen Zirkel einer sich ins Unendliche bewegenden Wiederholung natürlicher Vorgänge zerbricht die Bedeutung der Lebenszeit, verkleinert sich das menschliche Sein bis zur Auslöschung. Gewiß sind von den Naturlyrikern dieser Periode außerordentliche Leistungen beim Ergründen neuer Sprachwelten erbracht worden, haben sie dem deutschen Vers eine neue Sinnlichkeit und Fülle gegeben, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß ihr Weg ins Dickicht nur noch mit dem Fachbuch dechiffrierbarer Wortkaskaden führte, um sich dort, im Niemandsland fernab der Menschen und Städte, zu verlieren. Spätestens mit dem 1952 erschienenen vierten Gedichtband Die Zeichen der Welt kündigt der Autor seinen Vorbildern die Gefolgschaft und führt das Naturgedicht in die Sphäre menschlicher Anwesenheit zurück. Das hierfür exemplarische Gedicht „Erde“ transzendiert seinen Stoff nicht mehr in die metaphysische Unendlichkeit vegetabiler Wiederholungsverläufe, sondern beläßt ihn in dem, was Erde heißt und dem Menschen zugänglich bleibt. Die Erde wird hymnisch besungen und in einer absoluten Instanz der in ihr anwesenden Existenzen. Der „dunklen Erde“ steht die „heitere Erde“ dialektisch gegenüber, die bald zur „Erde der Liebenden“ wird und zur „Erde der Geister“. Der letzte Satz gehört dem Flötenspiel eines Hirten, der das Erlebnis Erde besingt. Gleichzeitig ist eine Formveränderung sichtbar. Die kurzzeilige, meist alternierende Reimstrophe wird zunehmend von der daktylischen Langzeile verdrängt. Hölderlin verpflichtete Oden und Elegien bezeugen eine sinnliche Ergriffenheit, die den pastoralen Ton des poeta laureatus übernimmt und zur Sinnstiftung ansetzt. Angst wird nicht mehr in der vermittelten Weise der Naturzersetzung geschildert, sondern tritt als unverhüllte, nackte menschliche Angst auf, die keine religiöse oder metaphysische Rückversicherung mehr kennt und eher im existentialistischen Begriffswerke Jean-Paul Sartres erscheint. Das Subjekt erlangt in der Dichtung die Evidenz seiner Verlorenheit wieder, gegen die es im Drang nach Wiederverwirklichung hartnäckig angeht. Zugleich werden Anklänge an den deutschen Expressionismus, an Georg Trakl, Georg Heym oder Else Lasker-Schüler, deutlich:

Auf deiner Wange steht länger
Endgültiger Abschied wie trostloser Mond auf Kanälen,
Darunter der Frühe mißfarbene Schatten sich quälen.
(…)

Stärker noch wird die Aufnahme des Surrealismus ins Naturgedicht prägend für die Poesie Krolows der fünfziger Jahre, einer Zeit, in der wichtige Übersetzungen von Jorge Guillén, Rafael Alberti, García Lorca, Henri Michaux und Paul Valéry, Guillaume Apollinaire und Paul Eluard entstehen Zeilen wie: „Das trockene Brusthaar, das sich beim Atmen bewegt / In der Stille des Traums, des Traums von den glücklichen Jahren / Mit dem Duft roten Grases, dem Rascheln von Frauenhaaren“ (…) oder: „Die trügerische Anästhesie / Des Dunkels ist verantwortungslos / wie der Schlaf“ (…) sind ohne diese Einflüsse undenkbar.
Die in den surrealistischen Manifesten geforderte Traumfreiheit und Entgrenzung der Wahrnehmung in die Bezirke des Unbewußten brachte eine Metaphorik kühnster Akrobatik hervor und entfesselte Phantasie nicht nur, sondern ließ sie auch bis ins Unverständliche hinein wuchern. Die über freie Assoziationen inszenierte Kulturpsychose und Anarchie der Bilder wird bei Krolow zum Akt einer Bewußtseinsentscheidung, in dem er den unwillkürlichen Metaphernschub zur poetischen Logik erweitert, kalkulierend mit ihm umzugehen vermag und ins naturlyrische Denken integriert. So wird die Metapher zur hauptsächlichen lyrischen Technik, die nicht nur den Reim, sondern auch den langzeiligen, hymnischen Sprechgestus ablöst und das Gedicht lakonisch werden läßt. Die Metapher übernimmt mehr und mehr die Funktion der Irrealisierung eines als Ballast empfundenen Stoffes. Da ihr keine, der Realität entlehnte Vergleichsebene untergeschoben ist, was eine Identifikationsbereitschaft mit imaginativen Bild- und Wortfügungen voraussetzt, bekommt sie eher metonymischen Wert, bedeutet Gegenständliches und Irreales zugleich. Daneben sind para-rhetorische Stilfiguren wie die Katachrese und das Oxymoron, die Ellipse und die Hyperbel, die Synekdoche und das Aproskodeton zu entdecken, wie sie zwar schon in der manieristischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts beispielsweise bei John Donne, Luis de Góngora oder Giambattista Marino vorkommen, aber über den Surrealismus sich an Karl Krolow vermitteln. Als Beispiel der Verschränkung von Naturlyrik und Surrealismus sei das Gedicht „Ein heißer Mittag“ aus dem Jahre 1955 zitiert:

Im Fluß umarmen sich die Spiegelbilder
Der Liebenden.
Der Mittag hat Achseln
Aus feuchten Schwertlilienblättern.
Man sagt: ein heißer Tag.
Oder: der Wind geht
Dem Duft der Lavendelstauden nach
Wie ein Mann einer Frau.
Einer hält seine linke Hand
Vor die Augen.
Der Nachmittag bürgt
Für das Gleichgewicht der Welt.
Abends öffnen sich
Die Blusen der Mädchen
Von selber.

Die Bildfiguren „Fluß“, „Schwertlilienblätter“, „Wind“, „Duft“ und „Lavendelstauden“ sind naturlyrische Begriffe. Die Zeit des über fünfzehn Zeilen ablaufenden Textes umspannt den Mittag, den Nachmittag und den Abend. Die im Präsens stehenden Verben bezeichnen einen übergeordneten Beobachter, der den gesamten Vorgang aus einer Höhe verfolgt, von der aus „das Gleichgewicht der Welt“ einzusehen ist. Daß die Blickrichtung des lyrischen Subjektes der Bewegungsrichtung der Sonne („Im Fluß umarmen sich die Spiegelbilder / Der Liebenden.“; „Man sagt: ein heißer Tag.“; „Einer hält seine linke Hand / Vor die Augen.“), in die es sich gleichsam transzendiert, entspricht, ist unschwer anzunehmen, Der magische Zusammenhang, den das Subjekt mit den Vorgängen der Natur hier eingeht, erinnert gut an die imperative Forderung der naturlyrischen deutschen Szene. Zugleich aber ist eine ganze Reihe jener vom Surrealismus aufs äußerste strapazierter para-rhetorischer Stilfiguren zu entdecken. Indessen fällt an Krolowschen Gedichten die kalkulierende Bewußtheit im Umgang mit diesen Techniken auf wie die Ökonomie, mit der die Sätze, die oft zur Ellipse neigen, behandelt werden, stellt man sie den klassischen surrealistischen Texten eines Breton, Soupault oder Eluard, die eine eher mechanische Aneinanderreihung spontaner Bildeinfälle darstellen und in ihrem pluralistischen Aktivismus eine ausholende, syntaktisch zerberstende Sprachbewegung mit sich führen, zur Seite.
Dabei tritt das Subjekt hinter seinen Sprachschöpfungen mehr und mehr zurück, so daß von Gedichten gesprochen werden kann, die durch ihre fast mathematische Ausgewogenheit und Logik bestehen. Zurecht berühmt gewordene Gedichte wie „Drei Orangen, zwei Zitronen“, „Orte der Geometrie“ oder „Krümmung der Ferne“ haben jede inspirative Spur in sich getilgt und erscheinen eher wie algebraische Gleichungen. Die unterkühlte, dem nordischen Temperament Krolows entsprechende poetische Diktion läßt Gefühlsäußerungen kaum zu und ersetzt sie durch Imagination. Fast könnte man den Bennschen Begriff vom „monadischen“ Gedicht, das ein von der Realität der Erscheinungen abgelöstes Sprachgebilde von absoluter Geschlossenheit ist, verwenden. Und wieder ist die Nähe vor allem zu Gustave Flaubert: (…) „Alles, was man erfindet, ist wahr. (…) Die Dichtung ist eine ebenso exakte Angelegenheit wie die Geometrie. Induktion und Deduktion halten sich die Waage.“ und zu Stéphane Mallarmé: „In Wahrheit, was ist sie, die Literatur, wenn nicht diese geistige Nachstellung, als Diskurs unternommen zwecks der Bestimmung oder, in Hinsicht auf sich selber, der Beweisführung, daß das Schauspiel einem imaginären Verstehen entspricht, es ist wahr, in der Hoffnung, sich darin zu spiegeln.“ auszumachen. In ihrem Ansatz trifft diese Poetik aber auch auf Erkenntnisse der neopositivistischen Schule Ludwig Wittgensteins:

Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken. Die Möglichkeit aller Gleichnisse, der ganzen Bildhaftigkeit unserer Ausdrucksweise, ruht in der Logik der Abbildung. Der Satz sagt nur insoweit etwas aus, als er ein Bild ist.

Daß das Gedicht so auch in die Gefahr geriet, sich zu verschließen und ein inkommensurables, nicht mehr dechiffrierbares Eigenleben zu führen, steht zu vermuten. Die Identität von Dichten und Denken, wie sie zum Beispiel für den etwa gleichaltrigen Ernst Meister stilbildend wurde, führte bei Karl Krolow indessen vom Hermetismus weg. Mehr und mehr proklamiert er das „offene“, „poröse“, „durchlässige“ Gedicht, den äußere Reizungen aufnehmenden Vers. Freilich war das Bemühen um äußerste Irrealisierung des Stoffes nicht nur ein apartes Spiel der Phantasie, sondern auch ein Sich-entziehen-Wollen aus einer politischen Verwertbarkeitsmaschinerie, wie sie sich heißgelaufen hatte zu Zeiten faschistischer Diktatur und ein ganz neues Sprachbewußtsein vor allem auch bei Günter Eich evozierte – bei Karl Krolow mit den Versen bezeichnet: „Jetzt lebe ich nur noch / In Gesellschaft mit dem Ungehorsam / Einiger Worte“ −, so war sie dennoch im sich durchsetzenden Verständnis vom offenen Gedicht nicht mehr in alter Weise zu realisieren. Der Mensch mit seiner Alltäglichkeit und Hinfälligkeit, aber auch mit seinen gewiß minimalen Glückschancen gemeindet sich thematisch verstärkt ein in die immer wieder vollzogenen Reflexionen zu Vorgängen der Natur. Wie im „Stundengedicht“ zu sehen, wird Zeit nicht mehr im metaphysischen Sinne behandelt, sondern stellt sich als unwiederholbar ablaufende Lebenszeit dar. „Der Tod der Stunden / erreichte ich langsam, / prüft die Hände, / die sich auf Zifferblätter legen. / Die komplizierte Landschaft / wird einfacher. Die Uhr / hat ein Gefühl für Schatten.“ Vor allem in den Bänden Fremde Körper (1959) und Landschaften für mich (1966) kann der Weg zum Lakonismus nachvollzogen werden, wie sich der in die Alltäglichkeit anbahnt. Die Gedichte gleichen, wie Hugo Friedrich es formulierte, Stenogrammen der Phantasie, „… verblose(n) Verkürzungen, die eine, den völlständigen Satz übertreffende Eindringlichkeit haben, zumal sie mit geschlossenen Kurzsätzen wechseln“. Sie sind Wortspiele, die Wirklichkeit nicht deuten, sondern erschaffen. Stimmen, Farben und Bewegungen interferieren und führen eine nicht für möglich gehaltene Korrespondenz, das Bild wird zum Vexierbild und verweist auf die Unverbindlichkelt alles real Vorgefundenen. Das Zusammenfügen sich scheinbar ausschließender Wahrnehmungsabläufe ist hierbei nicht nur eine poetische Methode; sondern der Versuch, Zeit beherrschbar, den Augenblick beschreibbar werden zu lassen. – Es sind experimentelle Gedichte nicht der Art, daß sie das Sprachmaterial permutieren und zur Atomisierung bringen, wie man es von der konkreten Poesie her weiß und wie es der Essayist Karl Krolow etwa zeitgleich analysiert hat, ihre Besonderheit liegt in der Strategie „Irrealität aus lauter Teilen der Realität“ (Hugo Friedrich) zu erzeugen.

III
Das unvermittelt reagierende Gelegenheitsgedicht, wie es sich in dem 1968 erschienenen Band Alltägliche Gedichte findet und das frei von jeder pathetischen Gebärde und lyrischen Arabeske ist, behandelt das Gedicht als einen Gebrauchsgegenstand. Es muß

in wenigen Minuten, in einem Wurf, gelingen, es ist schon fertig, bevor es niedergeschrieben wird, oder es mißlingt. Der spontan formulierte Vers ist verbindlich. Die sichtbare, greifbare, tastbare Welt der Gesichter, Gegenstände, Phänomene – die Emanation des Kreislaufs eingeschlossen – wird auf eine lakonische Formel gebracht. Es gibt in solchem Verfahren keine nachträgliche Komprimierung, keine Reduktion auf Konzentrate, mit einem Wort keine Polierarbeit. (Karl Krolow)

Dabei greifen die Gedichte thematisch wie intentional ineinander über, belichten sich gegenseitig, und realisieren sich oft erst in ihrer aufeinander bezogenen Folge gänzlich. Nicht selten werden die letzten Verse des einen Textes zum indikativen Moment eines nächsten, wobei auch Formulierungswiederholungen eintreten können und eine Hierarchie gerade bevorzugter Wörter auszumachen ist. Wesen und Erscheinung werden einander identisch und zeichnen sich auf der Dinge Oberfläche ab wie das höhere Seinsprinzip an den ablaufenden Alltäglichkeiten sichtbar zu machen ist. So bekommt das Gedicht eine Porösität und Durchlässigkeit und kann zur Projektionsfläche werden für ritualisierte Abläufe und banale Widerfahrungen, besitzt Öffnungen und Kontaktpunkte, durch die sich die Welt der Dinge mit der der Empfindungen vermitteln läßt. Die fast ausschließlich monologisierende Denkfigur der Gedichte überläßt sich dabei weitestgehend den Objektreizen, auf die sie eilig, nervös, oft sporadisch reagiert. Durch eine für alles empfängliche Wahrnehmungsbereitschaft kommt es zur affektiven Übersteuerung, die sich durch abruptes Unterbrechen der Denkfolge ausdrückt, ebenso wie zum annähernd stupurösen Bewegungsstillstand des Gedichtvorgangs, der die Überreizung kommensatorisch aufhält und als Tempowechsel der Sätze erscheint. Die so zustande kommende Kontraktion löst methodisch die Metapher vollständig ab. Nicht nur der gerade vorherrschende Sinneseindruck im disparitären Verhältnis zu vorangegangenen und nachfolgenden Wahrnehmungen entscheidet über die Spannung des lyrischen Textes, sondern das außergewöhnliche Sehen und der Blick, der den konkreten Gegenständen eine sie überschreitende Bedeutung abzugewinnen vermag, sind die erste Stufe einer ganz im Innern des Autors bleibenden Produktion. Damit ist bereits vor der Niederschrift alles Urteil über das Gedicht gefällt. Nichts anderes besagt das Zitat: „… es ist schon fertig, bevor es niedergeschrieben wird, oder es mißlingt“. Eingedenk all dessen sei das Gedicht „Keine Ideen“ aus dem Jahre 1971 noch einmal vorgeführt:

Keine Ideen – dafür Gebrauchsgegenstände,
mit ebenbürtiger Luft darüber.
Seit langem nicht mehr Rilkes Dinge
in der Tabakstille, die
ein Raucher im Zimmer zurückläßt.
Komm bald – Gefühl für das,
was man mit der Hand umfassen kann:
eine Rotweinflasche, einen Fuß
mit seinen Zehen.
Was brennt denn jetzt, Feuer?
Es läßt nicht nach.
Ich bekomme mit offenen Augen,
was ich brauche. Gebrauch und Verbrauch.
Laß das alles brennen für dich
und dem Dunkel danach das Übrige.

Geblieben ist jene bis zur Selbstauslöschung (in Parenthese ein Satz Mallarmés: „Wer diese Übung ganz vollendet, löscht sich aus.“) getriebene Leichtigkeit der Gedichte, ihr leiser, fast lautloser Tritt, ihre schwerelose Körperlichkeit: Karl Krolow, so leitet Peter Rühmkorf in seiner Laudatio anläßlich der Hölderlin-Preis-Verleihung 1988 intetessanterweise ab, habe aus seiner physischen Untergewichtigkeit, der er die Nichteinberufung in den Krieg verdankt, eine poetische Strategie werden lassen; wohl, um abermals nicht einberufen zu werden in den Krieg auf der Metaebene des Geistes. Und tatsächlich: beobachtet man die grazile Leichtigkeit der Bewegungen dieses heute in die höheren Jahre gekommenen Dichters und Mannes, so kann man sie gut wie eine körperliche Entsprechung empfinden zu jenen behutsamen, unaufdringlichen, vorsichtigen Sätzen des Denkens und der Poesie. – Das lyrische Ich ist dennoch kein autobiographisches, sondern ein sich ins Allgemeine verflüchtigendes, imaginäres, ganz und gar romantisches Ich. Autor und Text führen eine voneinander sehr unterschiedene Existenz. Die realen Details wirken unpragmatisch und sind nüchterne Restbestände eines Erlebens, das sich als Sprachvorgang, nicht als Bezeichnung mitteilt. Das mithin scheue, verletzbare, sich eher verstecken wollende Subjekt der Gedichte objektiviert sich bisweilen so weit, daß es sich aus der Perspektive eines Anderen zu erklären befähigt ist und dessen angenommenen Blick benutzt, um sich aus einer Distanz heraus zu ergründen. Der sich bis ins unverbindliche, absolute „man“ transzendierende Vorgang der Selbstwahrnehmung verhindert, daß die alltägliche, quasiprivate Aussage eine persönliche Aussage bleibt. Die Gedichte bewegen sich auf den Anderen hin, wie sie dessen abwesende Anwesenheit in sich aufgenommen haben. Das läßt sie dialektisch und öffentlich werden, bindet Individualität, ohne diese zu beschädigen, ins Überpersönliche ein, läßt Überschreitungen von der konkreten Sache auf ein objektives Prinzip, vom vereinzelten Ich auf ein kollektives Sein zu. Zugleich aber behauptet sich dieses lyrische Subjekt äußeren Vorgängen gegenüber, begründet seine Autonomie durch unpathetische Verlautbarung, besteht auf sein Recht des bloßen Vorhandenseins und legt Zeugnis ab von der Würde der einzelnen Lebendigkeit wie von der Gefahr, diese im utilitären Betrieb zu verlieren. In dieser poetisch vermittelten Weise ist Karl Krolow nicht nur als ein zutiefst humanistischer, sondern auch als ein politischer Dichter zu sehen, der Gesellschaftskritik über die Kritik an einem beschädigten Leben übt, und in feinsten Schwingungen auf geschichtliche Ereignisse reagiert. – Er ist am politischsten dort, wo er sich einer tendenziösen Benutzbarkeit am stärksten entzieht: in der Sprache. Aber er hat, ohne je lauthals und überschwenglich zu werden, immer auch Stellung bezogen, und es finden sich zu jeder Zeit seines Schreibens und Wirkens Gedichte, die engagiert auf sehr konkrete Anlässe eingehen. Im guten Wissen um die begrenzte Wirkung gewiß nicht in illusionärer Erwartungshaltung geschrieben und die Gebärde des Vordergründig-Apodiktischen meidend, was ihn von einigen zumeist jüngeren Autoren, die die Revolte im Gedicht fortsetzen wollten, wohl unterscheidet. So verteidigt er beispielsweise gegen die Forderung Walter Höllerers, der allein das lange Gedicht als zeitgemäß und demokratisch gelten lassen will, das kurze, lakonische Gebilde, das sich in der Aussparung realisiert und in dem das einzelne Wort einen Bedeutungswert behält. Als eine ganz andere Art der Reaktion auf das Scheitern der politischen Bewegungen am Ende der sechziger Jahre können die 1970 unter dem bewußt durchsichtigen Pseudonym Karol Kröpcke veröffentlichten Bürgerliche(n) Gedichte, angesehen werden. Schon der Titel verweist auf jene zweite, vom gesellschaftlichen Betrieb der Zwänge und Entfremdungen abgespaltene Bewußtseinsform, in der der mittelbegüterte Durchschnittsbürger seine orgiastischen Phantasien auslebt und die die Realität der Toilettenwände ebenso bestimmt wie körperliche Gewalt, Perversion und menschliche Erniedrigung. In diesen Gedichten wird Sexualität zur bloßen physischen Mechanik, zur kalten, empfindungslosen Ekstase, die einen Gefühlsnotstand größten Ausmaßes signalisiert. Hinter der Gebärde physischer Omnipotenz verbirgt sich die ins Körperliche übernommene Nötigung zu wirtschaftlicher Leistungsbereitschaft. Für einen Autor, dem sich Geschichte im Prisma subjektiver Befindlichkeit mitteilt, ist es nicht verwunderlich, wenn er äußere Deformationen als ins Subjekt transplantierte innere vorführt. „Manchmal ist ein Blutfleck ein Rest von reinem Gefühl, der Sehnsucht macht nach der Mordtat, nach einem Verbrechen, begangen aus Traurigkeit oder Heimweh.“ (Karl Krolow) Diese Gedichte sind von einer Radikalität, wie sie nur ein Romantiker schreiben kann, der für seine Hypersensibilität keine Verwendung mehr weiß und der Empfindsamkeit äußerlich zerstört, um sie innerlich zu bewahren. Die Obszönität, in der sie stehen, spricht in negativer Weise von der Sehnsucht nach tatsächlicher Liebe und beschreibt zugleich einen gesellschaftlichen Komplex. Es sind Gedichte, die in einer Traditionslinie von Marquis de Sade, Comte de Lautréamont, Guillaume Appollinaire bis Jean Genet oder Georges Bataille zu sehen sind.

(…)

V
Mit der 1981 unter dem Titel Herbstsonett mit Hegel herausgekommenen Gedichtsammlung ist abermals eine Zäsur im lyrischen Schaffen gesetzt: Der Reim und die strenge metrische Form sind von nun an bestimmend. Von der liedhaften Vierzeilenstrophe mit Wechselreim und rhythmisch alternierendem Vers in vier Takten bis zum Sonett, von der Terzine oder der Sestine bis zum Rondell ist die ganze Skala verstechnischer Möglichkeiten vorgeführt. Dabei ist die Wiederaufnahme der metrisch gebundenen Form keine ledigliche Fortsetzung früherer Leistungen. Sie entspricht nicht dem Willen, die Moderne dieser Epoche zu verlassen, die sich damit eher aufs neue hervorbringt: hier dient sie vielmehr einer Radikalisierung des im Gedicht transportierten Gegenstandes, indem sie als poetisch geleistete Schönheit einen Kontrast schafft, wenn über die Hinfälligkeit menschlichen Lebens Bericht gegeben wird. Durch die Form wird der Gegenstand gebannt, der zu dissoziieren droht und allzuschnell abkippt ins Belanglose und Absurde, das alles Sein negativ umschließt. In ihr wird das zum Stillstand gebracht, was mit den Wörtern verloren geht und stirbt, und in ihr hat der Dichter, dessen dominierendes Thema die Zeit und das Verlieren von Zeit ist, Auffangmöglichkeiten geschaffen für einen gesellschaftlichen und individuellen Befund nahe des Abgrunds. In den späteren und letzten Bänden Schönen Dank und vorüber (1984) und Als es soweit war (1988) bekommt das prosaische, im Parlando der monologischen Rede verfaßte Gelegenheitsgedicht seinen Stellenwert neben den klassischen Formgedichten zurück. Es sind Gedichte des Bescheidwissens und der Desillusionierung, deren beiläufiger, leiser, fast hinter vorgehaltener Hand gesprochener Ton an die „Alltägliche(n) Gedichte“ erinnert. Auch Anklänge an das Naturgedicht lassen sich finden, indessen nicht selten zur Persiflage gebracht und substantiell aufs äußerste beschädigt. Waren Flora und Fauna der frühen Natura-naturans-Gedichte so stark mit sich selber beschäftigt, daß der Mensch in ihr wie ein Komparse erschien, so haben sie hier die Funktion einer zum Hintergrund ausgespannten Folie, auf der die Verlorenheit eines von utilitären Zwecken bestimmten Menschen vorgeführt wird. −
Verfolgt man alle Wandlungen und Zäsuren im Schaffensgang dieses Dichters, vom naturmagischen Gedicht zum Lakonismus und Surrealismus, und vom Surrealismus über das offene Gelegenheitsgedicht zum strengen Formgedicht, so entdeckt man in ihnen die Spuren eines bedeutenden Abschnitts der Literatur- und Zeitgeschichte dieses Jahrhunderts. Fast alles Gültige dieser poesieträchtigen fünf Jahrzehnte, hat in diesem Werk seinen Niederschlag gefunden, wie es in ihm eine einzigartige Erweiterung fand. Karl Krolow gehört zu den ersten Dichtern der Nachkriegszeit, ebenso wie zu den anerkanntesten heute, ein Autor, der praktisch und theoretisch unermüdlich nach neuen Wegen für das Gedicht gesucht hat und der gleichzeitig bereits Geleistetes bewahrte. Die andauernde Selbst- und Fremdreflexion der poetischen Praxis, durch die eine Reihe schulemachender Essays vor allem in den sechziger Jahren entstanden ist, gehört ebenso zu diesem Werk wie die Eigenschaft, die Anwesenheit des Autors vor der vermittelten Sache, hinter die er beständig zurücktritt, fast vergessen zu machen. Soll sie hier in dem würdigenden Satz zurückgeholt werden: Karl Krolow hat das Äußerste, das es zu erreichen galt, erreicht: literarische Perfektion und ungebrochene Identität zwischen humanistischer Botschaft und Leben.

Kurt Drawert, Nachwort, Januar 1989

 

Karl Krolow (geb. 1915)

lebt in Darmstadt. Er wird – erstmals in der DDR – mit einer umfangreichen Auswahl seiner Lyrik, Prosa und Essayistik vorgestellt. Seit dem Ende der vierziger Jahre haben seine Arbeiten die literarische Entwicklung in der Bundesrepublik entscheidend geprägt.
„Die lyrische Dichtung Krolows… fesselt nicht allein darum, weil sie Poesie ist, sondern weil durch sie hindurch, in sehr persönlicher Modulation, auch die allgemeine, an Freiheiten und Fremdheiten, an Versuchen und Funden so reiche Sprache der modernen Lyrik jener Art hörbar ist, die mit Rimbaud begonnen, bei den deutschen Expressionisten und französischen Surrealisten sich fortgesetzt und nach dem zweiten Weltkrieg überall sich verfeinert, da und dort auch wohl beruhigt, ja klassifiziert hat. Vieles, vielleicht das meiste, in den Versen Krolows wirkt vorwiegend durch seine Technik. In dieser sind Wort, Bild und Metrum zugleich Mittel wie Symptome eines Sehens, das die entfremdende Verwandlung des Vertrauten vornimmt, ähnlich dem Sehen eines von seinen Gegenständen weit distanzierten Malers.“ (Hugo Friedrich)

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext,  1990

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + ÖM + IMDb +
Archiv 1 & 2Internet Archive + Kalliope + Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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