Karl Otto Conrady: Zu Erich Frieds Gedicht „Neue Naturdichtung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Frieds Gedicht „Neue Naturdichtung“ aus Erich Fried: Die Freiheit den Mund aufzumachen. –

 

 

 

 

ERICH FRIED

Neue Naturdichtung

Er weiß daß es eintönig wäre
nur immer Gedichte zu machen
über die Widersprüche dieser Gesellschaft
und daß er lieber über die Tannen am Morgen
schreiben sollte
Daher fällt ihm bald ein Gedicht ein
über den nötigen Themenwechsel und über
seinen Vorsatz
von den Tannen am Morgen zu schreiben

Aber sogar wenn er wirklich früh genug aufsteht
und sich hinausfahren läßt zu den Tannen am Morgen
fällt ihm dann etwas ein zu ihrem Anblick und Duft?
Oder ertappt er sich auf der Fahrt bei dem Einfall:
Wenn wir hinauskommen sind sie vielleicht schon gefällt
und liegen astlos auf dem zerklüfteten Sandgrund
zwischen Sägemehl Spänen und abgefallenen Nadeln
weil irgendein Spekulant den Boden gekauft hat

Das wäre zwar traurig
doch der Harzgeruch wäre dann stärker
und das Morgenlicht auf den gelben gesägten Stümpfen
wäre dann heller weil keine Baumkrone mehr
der Sonne im Weg stünde. Das
wäre ein neuer Eindruck
selbsterlebt und sicher mehr als genug
für ein Gedicht
das diese Gesellschaft anklagt

 

Ein Gedicht über Dichtung

Neuartig ist die Thematik dieses Gedichtes nicht: Gedanken über Dichten und Dichtung haben Poeten seit alters her auch in Gedichten selbst vorgetragen. Poetologische Verse also. Sie eröffnen die Folge von zehn Gedichten, die Erich Fried in seinem Band Die Freiheit den Mund aufzumachen (1972) unter der Überschrift „p²“ zusammengestellt hat. Die Erläuterung liefert er mit:

Friedrich Schlegel schrieb in seinen Notizbüchern ,p‘ für ,Poesie‘, ,p²‘ für ,Poesie über Poesie‘.

Haben nicht die meisten von uns an Naturgedichten zum ersten Mal erfahren, was das sei: „lyrische“ Dichtung? „Füllest wieder Busch und Tal…“, „Es schienen so golden die Sterne…“, „O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe…“ So sicher haben freilich schon die sogenannten Naturlyriker unseres Jahrhunderts nicht mehr zu schreiben vermocht, kein Oskar Loerke und kein Wilhelm Lehmann, zu schweigen von den Jüngeren nach 1945, Karl Krolow etwa oder Heinz Pointek, und sie haben bereits ihre frühere naturlyrische Phase hinter sich gelassen. Natur kann nicht (mehr) als etwas Zeitloses, Unveränderliches aufgefaßt und solcherart empfindsam verinnerlicht werden. Wer so zu ihr flieht, läuft Gefahr, die Wirklichkeit zu verlieren und an ihr vorbeizuschreiben.
Über Naturdichtung heute nachzudenken und ihre Möglichkeiten zu erproben, bleibt ein aktuelles Thema, auch wenn Brechts bekanntes Wort inzwischen „ein abgeschabtes Versatzstück in Salonreden“ (Werner Weber) geworden ist:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.

Frieds Strophen spielen die Überlegungen eines Lyrikers („Er“) durch und halten vom „wäre“ des Anfangs bis zum „wäre“ des Resultats die hypothetische Perspektive durch, bedenkenvoll und vielfach gebrochen Naturdichtung selbst versuchend. Nichts von idyllischer Beschaulichkeit, sondern distanziertes Abwägen möglicher Dichtung angesichts „dieser Gesellschaft“. „Er“ fingiert den Versuch, sich von gesellschaftskritischen Gedichten abzuwenden. Wer will eigentlich, daß er „lieber über die Tannen am Morgen schreiben sollte“? Welch ironisches Ungefähr! Und die „Tannen am Morgen“ (dreimal im Gedicht berufen) sind Zitat: Zeichen für Aufnahme und Weitergabe dichterischer Theorie und Praxis. Brecht schrieb, sich seinerseits an den „armen B. B.“ erinnernd, die Verse:

In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
Vor einem halben Jahrhundert
Vor zwei Weltkriegen
Mit jungen Augen.

Aber so sind sie nicht mehr zu sehen; Geschichte und Wirklichkeit haben den Blick verändert.
Unserm Lyriker fällt allerlei ein; doch schon das „aber“ der zweiten Strophe lenkt zu prekären Einfällen über, und was am Ende ihrer Musterung bleibt, ist nichts als ein Scheitern der erwogenen Abkehr. Denn was er zum Sujet seines Gedichts nehmen möchte, ist vielleicht schon zerstört, und geblieben sind die astlosen Stämme, an denen ein spekulierender Grundbesitzer vom Schlage eines Puntila im Tavastland und nicht nur dort seine klingende Freude haben könnte.
Ohne Klage und Anklage wäre neue Naturdichtung blind, substanzlos, abgestandene gefühlige Spielerei. Dieses reflektierende Gedicht zitiert zwar auch gewohnte Wörter aus dem Arsenal der Naturlyrik, aber in der dritten Strophe sind sie in provozierend fremde Zusammenhänge eingelassen, in genauer Entsprechung zur fremd gemachten, zum Profitobjekt verkommenen Natur. Ich weiß, manche werden diese reimlose Lyrik in unregelmäßigen Rhythmen nicht als „echtes“ Gedicht akzeptieren. Doch es ist kunstvoll gebaut: mit der Wiederkehr und ironischen Verschränkung von Motiven, mit den kalkulierten Versgrenzen, mit dem dialektischen Fortschreiten von Strophe zu Strophe. Und auch jener auffällige Rhythmus der Leitmotive „diese Gesellschaft“ und „Tannen am Morgen“ ist kaum zu überhören, der weit mehr als die Hälfte der Versschlüsse markiert. Der Philologe merkt, daß es eine der Schlußfiguren der öffentlichen Rede ist, der cursus planus, und gemäß der Lehre der alten Rhetorik wird sie gern zum Zwecke größeren Nachdrucks bemüht.
Das Gedicht trägt, wie alle Dichtung, die Spuren seiner Zeit. Erich Fried, 1921 in Wien geboren, entkam 1938 nach England, und seine Gedichtbände seit und Vietnam und (1966) dokumentieren, wie sich sein antifaschistisches Engagement im scharfen Blick auf die beim Namen zu nennenden Inhumanitäten „dieser Gesellschaft“ zeitbezogen konkretisierte. Da ist für die bemüht-besorgte, aber verschleiernde Rede vom „Bleibenden“ kein Ort. Ich kenne keine provokantere und nachdenklichere Zurückweisung als jene Parodie eines Hölderlin-Wortes, mit der das nächste Gedicht („Lyrischer Winter“) schließt:

Was bleibt geht stiften.

Karl Otto Conradyaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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